Wir leben von der Substanz

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Presseartikel von Marcel Fratzscher und Hans-Werner Sinn, Handelsblatt, 03.11.2015, S. 48.

Die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland steht im Bann der Flüchtlingskrise. Obwohl es verständlich ist, dass sich das spärliche Handeln der Politik an kurzfristigen politischen Zielen orientiert, sollte man nicht vergessen, dass eine erfolgreiche Bewältigung des Flüchtlingszustroms und die langfristige Sicherung der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft Hand in Hand gehen.

Es ist an der Zeit, einen Richtungswechsel zu vollziehen und die immer größer werdende Investitionslücke in Deutschland zu schließen, um den arbeitsuchenden Migranten und Einheimischen wie auch zukünftigen Generationen eine intakte Infrastruktur und produktive Arbeitsplätze zu sichern.

Vor gut einem Jahrzehnt sind in Deutschland wichtige Arbeitsmarktreformen realisiert worden. Die damals schon extrem niedrigen öffentlichen und privaten Investitionen wurden jedoch von der Politik nicht beachtet. Dadurch hat sich ein für die Standortqualität gefährlicher Investitionsstau entwickelt. Schuld daran sind aber nicht die Unternehmen. Es fehlt an regulatorischen Rahmenbedingungen für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit, und es fehlt an öffentlichen Investitionen in das Bildungssystem und in eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur.

Der Anteil der öffentlichen Investitionen sinkt stetig weiter und beträgt heute kaum mehr als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung - damit ist Deutschland eines der Schlusslichter aller Industrieländer. Unser Land lebt von seiner Substanz und gefährdet seine wirtschaftliche Zukunft.

Die Flüchtlingskrise der vergangenen Monate war ein Weckruf, denn durch sie wird nun allen schmerzlich bewusst, wie unzureichend die öffentliche Infrastruktur im Bildungswesen und in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge ist. Doch obwohl der Ruf gehört wird, besteht die Gefahr, dass die Investitionen wegen der Kosten der Flüchtlinge noch weiter zurückgeschraubt werden. Genau das Gegenteil ist erforderlich: Deutschland benötigt eine öffentliche und private Investitionsoffensive. Die Flüchtlingskrise darf nicht zu weniger investiven Ausgaben des Staats führen, sondern sollte eine deutliche Erhöhung der Investitionen vor allem in Bildung und Infrastruktur zur Folge haben.

Nur wenn die Politik sowohl die Qualität als auch die Breite des Bildungssystems verbessert, kann es gelingen, den Hunderttausenden von Jugendlichen und Kindern der Flüchtlinge die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, um mittelfristig im Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Das Gleiche gilt auch für viele Deutsche und die bereits anwesenden Migranten. Es gibt noch immer zu viele Menschen in Deutschland, die ohne Berufs- oder Schulabschluss in der Langzeitarbeitslosigkeit verharren.

Um die benötigten Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, muss die Politik auch bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen schaffen. Dazu gehören ein maßvolles Steuersystem, eine verlässliche Ordnungspolitik und eben auch eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur. Die Expertenkommission zur "Stärkung von Investitionen in Deutschland" sowie andere wissenschaftliche Gremien, wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, haben dazu konkrete Vorschläge unterbreitet.

Der öffentliche Bedarf an Investitionen bedeutet in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine riesige Belastung für den Staat. Diese Belastung darf jedoch nicht zur Abkehr von einer soliden Finanzpolitik und zu mehr Staatsverschuldung führen, denn durch die Rentenansprüche der deutschen "Baby-Boomer", die jetzt um die fünfzig sind und in etwa fünfzehn Jahren ihre Rente verlangen werden, werden die zukünftigen Generationen ohnehin schon über Gebühr beansprucht.

Die gegenwärtigen Überschüsse der öffentlichen Haushalte sind nicht nur das Ergebnis einer straffen Finanzpolitik. Vielmehr resultieren sie auch aus den temporär niedrigen Zinsen und der derzeit niedrigen Arbeitslosenquote. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese beiden Sondereffekte auf Dauer Bestand haben. Man sollte auch nicht übersehen, dass ein Teil der Überschüsse das Resultat einer Verringerung der Quote der öffentlichen Investitionen ist, die durch den Anstieg öffentlicher Konsumausgaben teilweise kompensiert wurde.

Es ist nun an der Zeit, einen Richtungswechsel bei der Strukturierung des Staatsbudgets vorzunehmen, ohne dabei die Abgabenlast steigen zu lassen. Nach unserer Auffassung wäre es am besten, die Rentenreform wieder rückgängig zu machen, denn wir halten sie nicht für zukunftsfähig. Sie geht zulasten der großen Mehrheit der Menschen, vor allem der jüngeren Generationen. Es sollte, ganz im Gegenteil, ein flexibleres Rentensystem verfolgt und der vor einem Jahrzehnt bereits eingeschlagene Weg einer Erhöhung des Rentenalters konsequent weitergegangen werden. Dieser Weg verspricht eine substanzielle Einsparung für den Staat, durch die Mittel frei werden, die in das Bildungssystem und die öffentliche Infrastruktur investiert werden könnten.

Eine solche Reform würde Arbeitsplätze sowohl für Deutsche als auch für Flüchtlinge erhalten und neu entstehen lassen, weil die nötige Ausbildung großenteils auch in der Arbeit durch ältere Kollegen bewerkstelligt werden kann. Die Erhöhung des Rentenalters wäre eine Investition in die junge Generation der Menschen, die schon da sind und neu zu uns kommen. Sie ist damit der beste Beitrag zur Sicherung der Renten der älteren Generation. Ohne eine dynamische und leistungsfähige Wirtschaft sind alle Rentenversprechen Schall und Rauch.

Die Bundesregierung sollte auf den Weckruf der Flüchtlingskrise reagieren und einen Kurswechsel ihrer Finanzpolitik vollziehen. Wir benötigen dringend eine massive Umschichtung von konsumtiven Ausgaben hin zu mehr öffentlichen Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Ein erster Schritt ist die Rücknahme der Rentenreform, die sich Deutschland nicht leisten kann und die die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft schwächt. Nur so ist eine solide Finanzpolitik mit einem stabilen sozialen Sicherungssystem und einer hohen wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit langfristig vereinbar.