Talkshows sind auch Werbung

Deutschlands bekanntester Ökonom polarisiert gerne mit markigen Thesen. Ein Expertengespräch über Rummel
Welt am Sonntag, 03.10.2010, Nr. 39, S. 72

Hans-Werner Sinn ist ein öffentliches Gesicht: Mit prägnanten Verknappungen und dem Ruf nach Reformen gehört er zur Dauerbesetzung der politischen Talkshows. Weil er Trubel gewohnt ist, treffen wir den Chef des Münchener Ifo-Instituts auf dem Oktoberfest zum Gespräch. Und zwar dort, wo man sich auf der Wiesn am besten unterhalten kann: im Riesenrad. Die Fahrt kann losgehen.

Welt am Sonntag: Professor Sinn, der Schausteller, der uns in die Gondeln gepackt hat, hat Sie gleich erkannt. Sind Sie geschmeichelt?

Hans-Werner Sinn: Ach, ich habe mich so daran gewöhnt, dass ich darüber gar nicht mehr nachdenke. Ich werde überall erkannt. Das gehört dazu, aber es raubt mir auch die Privatsphäre. Ich kann nie mal über die Stränge schlagen, weil alles was ich tue, registriert wird.

Daran sind Sie aber nicht ganz unschuldig. Sie treten gern ja mit Ihren Thesen auf.

Sinn: Das stimmt, aber bei mir bringt es der Beruf mit sich. Das Ifo-Institut soll Wissenschaft und Politik verbinden; es gehört dazu, dass wir die Öffentlichkeit suchen, dafür werden wir bezahlt. Als ich den Elfenbeinturm verließ, wusste ich, was ich tat. Aber ich freue mich wirklich darauf, wenn ich eines Tages wieder untertauchen kann. Ich bin viel lieber zusammen mit Freunden und unter Menschen, die mir vertraut sind. Wenn ich künftig einmal nicht mehr Präsident des Ifo bin, dann muss ich auch nicht mehr diese öffentliche Figur sein.

Es wirkt nicht so, als hätten Sie keinen Spaß an der Aufmerksamkeit ...

Sinn: Doch, natürlich macht es mir Freude. Aber es macht mir noch viel mehr Spaß, in meinem Kämmerlein zu sitzen und vor mich hinzuforschen. Mir ist die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kollegen letztlich wichtiger. Wenn ich mal pensioniert bin, würde ich gerne noch das ein oder andere wissenschaftliche Werk schreiben; auch formale technische Dinge, die nur für Fachleute interessant sind. Ich schreibe sehr gerne, weil ich schreibend denke. Das befreit meinen Geist. Nichts quält mich mehr als Zusammenhänge, die ich noch nicht richtig verstanden habe.

Sie haben gerade ein Buch für eine englische Version umgeschrieben.

Sinn: Ja. Da habe ich wochenlang keinen Menschen gesehen. Ich hatte mir die Sommermonate ausgesucht, als eh nichts los war, und habe sechs Wochen am Stück geschrieben.

Im stillen Kämmerlein?

Sinn: Ich war sechs Wochen im Urlaub. Es war schön warm, und ich habe mich in der Badehose in eine Ecke gesetzt und nur meine Frau gesehen. (Der Fotograf bittet Sinn, sich an die Gondeltür zu lehnen.) Stabil sieht diese Konstruktion nicht aus. Wenn hier Leute Streit kriegen und sich prügeln ...

Sie haben mal gesagt, Sie mögen keine Unterhaltungssendungen.

Sinn: All diese Quizshows, furchtbar! Das ist so albern.

Trotzdem sitzen Sie regelmäßig auf den Sofas von Illner, Maischberger und Plasberg. Das ist doch auch Entertainment.

Sinn: Das ist nicht dasselbe. Ich hoffe immer auf den sachlichen Dialog. Ich bin aber froh, dass ich mir Manches davon nicht selbst ansehen muss.

Bitte?

Sinn: Ganz im Ernst. Natürlich ist es ätzend, wenn alle wild durcheinanderreden oder der Moderator von einem Thema zum nächsten hüpft, weil er die Gedanken nicht versteht. Aber trotzdem gibt es auch Lichtblicke, bei denen man einen Gedankengang platzieren kann: Die Fernsehzuschauer merken zumindest, dass da jemand anderer Meinung ist, und vielleicht gehen sie der Idee nach und kommen auf die Internetseite des Ifo Instituts.

Und das reicht Ihnen?

Sinn: Nein, aber darauf kann ich aufbauen. Ich kann dann Interviews geben, Gastbeiträge für Zeitungen schreiben oder Bücher und hoffen, dass die Zuschauer das lesen. Die Politik lässt sich nur bewegen, wenn die Menschen bewegt werden. Für unmittelbare Beratung ist sie nicht zugänglich. Eine Talkshow ist auch ein Stück Werbefernsehen. In Werbespots können Firmen nur ihre Produkte bekannt machen, aber Inhalte rüberbringen können sie dort nicht. Eine Talkshow hat auch diesen Aspekt. Ich glaube übrigens, dass wir jetzt aussteigen müssen. Drei Runden Riesenrad, das reicht. Es ist halb elf Uhr, die beste Zeit für ein Weißwurstfrühstück. Deshalb: auf zum Schottenhamel-Zelt.

Ist das heute Ihr erster Wiesn-Besuch in diesem Jahr?

Sinn: Ja, aber morgen Abend gehe ich schon wieder. Wir haben internationale Forscher am Ifo-Institut, mit denen gehen wir hierher. Für Besucher aus dem Ausland ist das Oktoberfest großartig.

Zieht Professor Sinn dann eine Krachlederne an?

Sinn: Sie werden es nicht glauben, aber ich habe auch eine richtige Tracht. Die habe ich zum 50. Geburtstag geschenkt bekommen, und die ziehe ich selbstverständlich auf dem Oktoberfest an. Auch die jungen Leute tragen heute wieder Tracht. Meine Kinder schmeißen sich in Lederhosen und Dirndl und gehen so mit Freunden auf die Wiesn. Ich hätte das nie erwartet und hätte sie auch nie dazu angehalten, aber die machen das gerne. Ich finde das toll.

In den 50er-Jahren saßen die Männer noch in Anzug, Schlips und Hüten auf der Wiesn. Warum besinnen wir uns wieder auf die Tradition?

Sinn: Vielleicht weil die Welt irgendwie immer gleicher wird. Ich fahre nach Japan, freue mich auf das Besondere, und was sehe ich? Die gleiche Großstadt wie in Amerika. Seoul oder Tokio, das sind gesichtslose Städte. Das ist keine schöne Welt. Wir sollten die historisch gewachsene Vielfalt der Welt erhalten, anstatt alles in einem Einheitsbrei untergehen zu lassen. Deswegen stört mich auch das Kopftuch der türkischen Frauen nicht.

Finden Sie auch in Deutschland gesichtslose Städte?

Sinn: Ich will nicht über einzelne Städten den Stab brechen, aber meine Heimatstadt Bielefeld hat sich nicht zum Besseren entwickelt. Das hängt auch mit der Armut zusammen und mit dem Untergang des Textilgewerbes. Aber es gibt auch Gegenbeispiele, die Münsteraner beispielsweise haben nach dem Krieg mit großer Kraftanstrengung die ganze Innenstadt wieder aufgebaut. Das verdient Bewunderung

Fühlen Sie sich als Münchner?

Sinn: Zu Hause fühle ich mich hier in München allemal. Die Kinder sind hier groß geworden, für sie ist das die Heimat. Meine Heimat ist allerdings weiterhin Westfalen, und mit Brake fühle ich mich auch weiterhin verbunden.

Das ist der Vorort von Bielfeld, in dem Sie groß geworden sind.

Sinn: Nicht ganz. Das ist heute ein Vorort, aber das war damals nicht so. Früher war Brake ein Dorf mit prächtigen Bauernhöfen, Wiesen und Feldern. Meine Liebe für das Land hat sich in der Idylle entwickelt, in der ich groß wurde. Wenn ich heute nach Hause fahre, komme ich in ein Brake, das ich gar nicht mehr kenne. Da hat sich alles sehr stark verändert.

Zum Guten?

Sinn: Eigentlich nicht. Damals stand im Ortskern ein wunderschöner Gutshof. Architektonisch toll, mit Türmchen und Erkern. Irgendwann haben die Sozialdemokraten, die damals die Macht hatten, ihn schleifen lassen, auch weil er Ausdruck einer feudalen Vergangenheit war. An seine Stelle haben sie damals ein Hallenbad und ein Freibad gebaut. Das hätte auch daneben gebaut werden können; es war genügend Platz da. Aber nein, es musste an diese Stelle.

Ist das nicht ein bisschen spießig? Die Kinder haben sich wahrscheinlich darüber gefreut.

Sinn: Klar, als junger Bursche fand ich es auch gut, dass wir ein Freibad bekamen. Aber was ist heute? Mein Dorf wurde in die Stadt integriert, und die fand das Bad zu teuer und ließ es abreißen. Heute, nur 40 Jahre später, ist dort, wo einmal der Gutshof stand, ein Parkplatz. Wissen Sie, wir hatten in Deutschland eben auch eine Kulturrevolution. Das war Anfang der 70er-Jahre, als das Geld für die Kommunen floss, um eine konsumtive Infrastruktur aufzubauen. Damals wurde viel Beton verbaut, oft ohne Respekt vor den architektonischen Leistungen der Vergangenheit.

Herr Sinn, Sie sind ja ein Konservativer!

Sinn: Ich muss es wohl zugeben, mit zunehmendem Alter immer mehr. Als junger Mann wollte ich die Gesellschaft verändern. Aber mit dem Alter bin ich konservativer geworden und mache mir stärker bewusst, welche kulturellen Traditionen wir nicht aufgeben sollten. (Die Weißwürste kommen und drei Masskrüge. Spezi statt Bier - aber nicht das bemängelt Sinn.) Schauen Sie mal, das sind die Wiesn-Mass. Eigentlich sollte in den Krügen ein Liter sein, aber da ist fast immer zu wenig drin. Hier oben ist die Eichmarke, bis hier hätte eingeschenkt sein müssen.

Halunken! Aber bevor wir jetzt anstoßen, habe ich eine letzte Frage.

Sinn: Ja?

Haben Sie sich schon mal überlegt, Ihren Bart abzurasieren?

Sinn: Einmal habe ich ihn abrasiert, das war kurz nach dem Studium. Aber meine Frau war nicht besonders begeistert. Sie hat mich gebeten, den Bart wieder wachsen zu lassen. Was tut man nicht alles für seine Frau.

Ein Liebesbeweis, der viel Arbeit macht.

Sinn: Wie kommen Sie auf die Idee? Ich schnipsele einmal in der Woche ein bisschen dran herum, manchmal auch nur alle 14 Tage. Was Sie machen, ist viel aufwendiger! Sie rasieren sich doch sicher täglich.

Stimmt.

Sinn: Sehen Sie. Die Natur hat den Bartwuchs vorgesehen, und deshalb sollten diejenigen, die sich täglich rasieren, erst einmal erklären, warum sie sich die Mühe machen.

Inzwischen ist der Bart Ihr Markenzeichen.

Sinn: Das stimmt. Wenn ich ihn abschneiden würde, würde mich wahrscheinlich niemand mehr erkennen. Vielleicht mache ich das mal, wenn ich anonym sein will.

Das Gespräch führte Tobias Kaiser Ifo-Chef Hans-Werner Sinn im Riesenrad auf dem Oktoberfest: "Zu Hause fühle ich mich hier in München allemal", sagt der Ostwestfale Ökonomen unter sich: Hans-Werner Sinn (l.) und Redakteur Tobias Kaiser bernhardhuber.com (2)