„Ich war immer für mehr Regulierung des Bankensystems“

Interview mit Hans-Werner Sinn, Stuttgarter Zeitung, 25.10.2008, Nr. 250, S. 14

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn: Rettungspaket der Bundesregierung nicht in allen Teilen durchdacht

Der Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans- Werner Sinn, hält das Rettungspaket der Bundesregierung in Teilen für unausgegoren. Auch vor Überlegungen, die Realwirtschaft mit Hilfe aktiver Konjunkturpolitik zu stützen, rät er ab. Im Gespräch mit Bettina Langer erklärt Sinn, warum er und andere als liberal geltenden Ökonomen seiner Ansicht nach jetzt völlig zu Unrecht für Liberalisierungsforderungen der Vergangenheit kritisiert werden.

In dieser Woche haben Politiker diskutiert, wie die Folgen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft abgemildert werden könnten. Im Gespräch ist beispielsweise, die Automobilindustrie aktiv zu stützen. Hielten Sie diesen Schritt für sinnvoll?
Nein. Maßnahmen, um einzelne Branchen zu stärken, sind verfehlt. Sie haben lenkenden Charakter und eignen sich nicht für Konjunkturpolitik. Und zur Autoindustrie im Speziellen: die Probleme in dieser Branche begannen schon vor der Finanzkrise. Sie werden nun allenfalls durch die Krise verstärkt, aber das ist bei den anderen Branchen ähnlich.

Was halten Sie von allgemeinen Konjunkturprogrammen, um die Wirtschaft zu stützen?
Wenn, dann spricht viel für Steuersenkungen. Sie haben den Vorteil, dass das Geld in der breiten Fläche bei den Bürgern ankommt. Die Bürger können dann selbst darüber entscheiden, wofür sie das Geld ausgeben wollen. Das führt zu einer vergleichsweise sinnvollen Verwendung der Mittel.

Wie wirksam können nationale Konjunkturprogramme sein, wenn – wie derzeit – die gesamte Weltwirtschaft im Abschwung begriffen ist?
Es gibt Verpuffungseffekte, das ist klar. Viele Maßnahmen stützen auch besonders den Importmarkt, davon profitiert dann das Ausland. Insofern ist die Wirksamkeit solcher Maßnahmen begrenzt. Ein Teil bleibt zwar hängen, aber der erzeugt auch nicht mehr als ein Strohfeuer. Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein solches Programm verfrüht.

Im jüngsten Gemeinschaftsgutachten, an dem Sie mitgewirkt haben, wird aber ein Abschwung, wenn nicht gar eine Rezession für 2009 prognostiziert. Gilt denn bei Maßnahmen zur Stabilisierung der Konjunktur nicht auch: je früher, desto besser?
Ich verstehe Ihr Argument. Dennoch sehe ich die Not für ein Konjunkturprogramm noch nicht. Der Arbeitsmarkt zum Beispiel befindet sich derzeit noch in einer sehr guten Verfassung. Meine Hauptsorge betrifft im Übrigen die zusätzliche Staatsverschuldung. In der Krise fehlt es häufig an Sorgfalt bei der Mittelverwendung. Sehr gerne machen die Politiker die Rechnung zulasten zukünftiger Generationen, wenn man ihnen Vorwände dafür gibt. Die zukünftigen Generationen nehmen schließlich an den Wahlen noch nicht Teil und können die Politiker, die sie belasten, nicht abstrafen. Dann muss sich wenigsten der Volkswirt für sie einsetzen.

Was halten Sie von dem jüngsten staatlichen Eingriff, dem Rettungspaket für die angeschlagenen deutschen Banken?
Es ist sehr schnell gekommen, und es ist sehr umfangreich. Es ist so umfangreich wie das amerikanische Paket, was einen doch zum Nachdenken veranlasst . . .

. . . weil die Höhe suggeriert, dass deutsche Banken massiv betroffen sind, oder weil die deutsche Politik noch vorsichtiger und mit einem vergleichsweise größeren Puffer arbeitet als die amerikanische?
Ich fürchte, dass wir stärker drinhängen, als man zunächst dachte. Immerhin ist Deutschland der zweitgrößte Finanzier des Weltkapitalmarktes nach China. Wem die Amerikaner ihre problematischen Papiere verkauft haben, weiß man natürlich nicht im Detail. Aber die wichtige Stellung Deutschlands bei der Finanzierung des Weltkapitalmarktes lässt vermuten, dass wir ziemlich mit drinhängen.

Die Politik hat mit ihrem Rettungspaket nun aber das Schlimmste verhindert?
Das Paket wird Bankpleiten in Deutschland mit hoher Sicherheit verhindern, insofern ja. Die Staatsbanken sind die ersten, die die Hilfe in Anspruch nehmen werden, der BayernLB werden weitere folgen. Das heißt: für die Krisenvermeidung im Sinne einer Vermeidung von Bankpleiten bekommt das Rettungspaket die Note eins.

Was ist mit dem zweiten Ziel, das Bankensystem zu rekapitalisieren und damit eine Kreditklemme zu verhindern?
Hier habe ich etwas mehr Bedenken, weil ich befürchte, dass die Banken das staatliche Kapital nicht nehmen werden. Fast alle Banken sind durch Abschreibungen geschwächt worden. Viel Eigenkapital ist verloren gegangen. Wenn keine neues Kapital kommt, müssen diese Banken auch ihr Kreditvolumen in Proportion zu dem geschrumpften Eigenkapital reduzieren, denn sonst würden sie Vorgaben der Ratingagenturen und Basel-II-Vorschriften verletzen. Darunter leidet dann die gesamte Wirtschaft.

Warum befürchten Sie, dass das Paket nicht angenommen wird?
Die Kombination aus Freiwilligkeit und Strafe wird nicht funktionieren. Ich weiß nicht, welches Menschenbild eines Managers die Politiker in ihren Köpfen haben, aber es scheint ein sehr heroisches zu sein. Mein Bild ist banaler: Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Manager aus freien Stücken eine Gehaltskürzung akzeptieren. Das heißt: sie werden das staatliche Geld nicht anrühren, wenn sie nicht pleitegehen. Sie werden lieber ihr Geschäftsvolumen auf einem niedrigeren Niveau fortführen als das alte Geschäftsvolumen mit staatlichem Kapital zu realisieren. Mit der Folge, dass eben doch eine Kreditklemme droht.

Sie fänden eine Zwangsteilverstaatlichung sinnvoller?
Es gibt nur zwei Möglichkeiten für die Politik. Wenn sie die Managergehälter begrenzen will, muss sie einen Zwang zur Verstaatlichung einführen. Wenn sie auf dem Prinzip der Freiwilligkeit arbeiten möchte, dann müsste sie die Beschränkung der Managergehälter weglassen. Die Kombination aus Freiwilligkeit und Strafe wird ein Flop.

Aber kann das Prinzip der Freiwilligkeit überhaupt funktionieren? Haben Banken, die Hilfen in Anspruch nehmen, ohne dazu gezwungen zu werden, nicht automatisch ein Imageproblem?
Nicht, wenn das staatliche Programm attraktiv ausgestaltet wäre, denn dann würden es auch die besten nehmen. So aber, mit den Strafen für die Manager, ist die Inanspruchnahme der staatlichen Hilfen ein extrem negatives Signal für die Märkte, denn jeder weiß, dass es der Bank sehr schlecht gehen muss, wenn sie die Hilfen in Anspruch nimmt.

Wenn Sie die Wahl hätten, würden Sie also ein System zur Zwangsverstaatlichung vorziehen?
Ich würde die Managergehälter nicht begrenzen, und ich würde die Banken zwingen, das staatliche Eigenkapital anzunehmen, wenn ihre Eigenkapitalquoten unter zehn Prozent liegen und sie es nicht schaffen, privates Kapital zu finden. So machen es die Briten. Das Wort Zwangsverstaatlichung ist dafür aber so lange unangemessen, wie der Staat Minderheitsaktionär bleibt.

Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann hat sich bereits damit gebrüstet, diese Hilfen nicht zu brauchen. Vor einigen Jahren hatte ebendieser Bankmanager eine Eigenkapitalrendite im Investmentbanking von 25 Prozent als Ziel ausgerufen.
Ich habe diese Zahl immer für übertrieben gehalten. Wie kann man 25 Prozent Rendite auf ordentliche Weise verdienen? Das ist eine Rendite, die man nur erzielen kann, wenn man extrem ins Risiko geht.

Gibt es denn so etwas wie eine angemessene Rendite?
Das lässt sich schwer sagen. Die Eigenkapitalrendite sehr erfolgreicher Banken liegt bei 15 Prozent; auch das ist recht hoch. Auch diese Rendite ist durch die Hebelwirkung des Eigenkapitals entstanden, womit hohe Risiken für die Gesellschaft verbunden sind. Ich glaube, wir müssen Banken zwingen, ihre Geschäfte mit wesentlich mehr Eigenkapital zu unterlegen, dann werden die Renditen zwar etwas niedriger sein, dafür aber werden weniger riskante Geschäfte gemacht. Dazu brauchen wir eine striktere Regulierung des Bankensektors.

Den Ruf nach „Regulierung“ hat man von Ökonomen in den vergangenen Jahren selten gehört. Sehr viel öfter wurden Deregulierung und Privatisierung gefordert, mehr Markt und weniger Staat.
Nicht von mir. Ich habe nie zu den Privatisierungsbefürwortern gezählt, und es wird Ihnen schwerfallen, in meinen Schriften das Wort Deregulierung in einem positiven Zusammenhang zu finden.

Und was ist mit Ihren Äußerungen in Bezug auf den deutschen Arbeitsmarkt?
Das ist etwas anderes. Der Arbeitsmarkt krankt unter den hohen Gewerkschaftslöhnen und der Lohnkonkurrenz des Sozialstaats, zumindest vor der Agenda 2010, also Maßnahmen, die die Lohnflexibilität einschränken. Für mich steht das Wort Deregulierung für eine Lockerung des Ordnungsrahmens der Marktwirtschaft, die ich stets außerordentlich kritisch gesehen habe. Ich habe mich in meinen Schriften mit großem Nachdruck für eine schärfere Regulierung des Bankensystems eingesetzt und den Deregulierungswettbewerb der Staaten kritisiert. Es gibt sogar eine Debatte, die meine Forderung nach einer schärferen Regulierung hervorgerufen hat.

Wollen Sie damit sagen, liberale Ökonomen werden oft einfach missverstanden?
Nein, es gibt liberale Ökonomen, die die Deregulierung der Banken fordern. Nur gehörte ich nie zu dieser Gruppe. Was ich zum Schutz meiner liberalen Kollegen aber kritisieren möchte, sind manche Berichte im Fernsehen, oder anderswo, in denen es jetzt heißt: Da sieht man’s ja, die Neoliberalen mit ihrer Deregulierung, und was nun dabei herausgekommen ist. Diese Darstellung ist oberflächlich. Auch liberale Ökonomen wollen keine Anarchie.

Können Sie das konkretisieren?
Jeder liberale Ökonom würde zustimmen, dass man ein bürgerliches Gesetzbuch braucht, ein Rechtssystem, nach dem manche Vertragsformen zugelassen und andere verboten sind. Die Marktwirtschaft braucht Spielregeln. Das ist insbesondere die Position der deutschen ordoliberalen Schule von Ludwig Erhard und Walter Eucken, für die ich viel Sympathie habe. Aber eine Regulierung darf es nach der recht einhelligen Meinung der Ökonomen nicht geben: die Preis- und Lohnregulierung. Der Unterschied zwischen einer liberalen Position und einer linken Position liegt nicht in der Frage, ob grundsätzlich Spielregeln gesetzt werden, sondern in der Frage, ob der Schiedsrichter des Fußballspiels mitspielen darf. Die vielen linken Sozialromantiker, die es in Deutschland gibt, wollen, dass der Schiedsrichter aktiv eingreift, wenn eine Mannschaft zu verlieren droht, und hin und wider zugunsten der unterlegenen Partei ein Tor schießt. Bei einem solchen Verhalten des Schiedsrichters kann, so jedenfalls die ordoliberale Position, genauso wenig ein gutes Spiel entstehen, wie wenn man den Spielern das Recht gibt, mit den Fäusten aufeinander loszugehen.

Unabhängig davon, ob man findet, der Schiedsrichter sollte mitspielen oder nicht, kann man die Regeln kritisieren. In der Finanzwelt waren sie offensichtlich bei weitem nicht eng genug gefasst.
So ist es. Seit vielen Jahren argumentiere ich so.

Wenn schon früh und deutlich auf das Problem hingewiesen wurde, warum sind dann keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen worden?
Es wird viel geschrieben auf dieser Welt. Warum soll man auf einen einzelnen Wissenschaftler hören. Selbst die Bundesregierung kam nicht durch. Die angelsächsischen Banken hatten so starke Lobbys, dass es nicht möglich war, sie politisch zu regulieren. Wir haben es von deutscher Seite ja probiert, aber zu hören bekommen: wir lassen uns doch von euch nicht die Arbeitsweise unserer Investmentbanken diktieren.

Was wäre aus Ihrer Sicht nötig, um die Finanzmärkte künftig in Schach zu halten?
Wir müssen höhere Eigenkapitalanforderungen an die Banken stellen. Und wir brauchen strengere Regeln, die sicherstellen, dass die Eigentümer der Banken für die Risiken haften. Dann werden sie von vornherein ihre Manager auf solidere Geschäftsmodelle verpflichten.

Haben wir in der Finanzmarktkrise das Schlimmste jetzt überstanden?
Ja. Wir standen kurz vor der Kernschmelze, und die ist mit dem Rettungspaket der Bundesregierung verhindert worden.

Wie lange werden wir die Folgen in der Realwirtschaft noch spüren?
Nächstes Jahr ist Flaute angesagt, und auch für 2010 befürchte ich eine Fortsetzung der Flaute. Aber irgendwann wird die Konjunktur in Europa wieder anziehen. Es geht immer auf und ab in der Wirtschaft.

 

Hans-Werner Sinn ist einer der bekanntesten Ökonomen in Deutschland. Der gebürtige Westfale studierte Volkswirtschaftslehre in Münster und Mannheim. Seit 1984 lehrt der heute 60-Jährige an der Ludwig- Maximilians-Universität in München, seit 1999 steht er zudem an der Spitze des Münchner Ifo-Instituts, das in der Öffentlichkeit vor allem für den monatlich publizierten Ifo-Index bekannt ist. Jenseits der Wissenschaft Aufsehen erregte Sinn mit Büchern wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ und „Basarökonomie“. In Letzterem vertritt er die umstrittene These, im Ausland hergestellte halbfertige Produkte würden hierzulande nur noch zusammengebaut. Vor wenigen Tagen ist Sinns jüngstes Buch erschienen. In der Publikation „Das grüne Paradoxon“ kritisiert er die deutsche Klimapolitik und fordert, man müsse stärker die Gesetze der Marktwirtschaft walten zu lassen, statt diese hemmungslos der „grünen Ideologie“ zu opfern. Sinn hat in seiner Karriere zahlreiche akademische Auszeichnungen erhalten und sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.