ifo Standpunkt Nr. 50: Basar-Ökonomie

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 18. Dezember 2003

Auch wenn der Konjunkturaufschwung jetzt kommt: Die Umwälzungen der deutschen Industrielandschaft, die seit etwa Mitte der Neunziger Jahre zu beobachten sind, werden weiterhin in bedrohlichem Ausmaß voranschreiten. Outsourcing und Offshoring bleiben die Methoden zur Überwindung der Standortschwäche. Schon des Längeren hat sich die deutsche Großindustrie in Asien engagiert, um von den niedrigen Lohnkosten zu profitieren und die Weltmärkte von dort aus bedienen zu können. Nun folgt der deutsche Mittelstand mit einem Engagement in Osteuropa. Nach Asien hat sich der Mittelstand nicht gewagt, aber nach Osteuropa traut er sich schon, denn die Rüstkosten eines Engagements sind dort sehr viel niedriger. Osteuropa bietet ebenfalls sehr niedrige Löhne, liegt aber vor der deutschen Haustür und gehört dem gleichen Kulturkreis an wie wir. Außerdem ist die Transformationskrise der ehemals kommunistischen Länder überwunden, es wurden stabile Rechtssysteme geschaffen, und ein Großteil der Länder wird schon in wenigen Monaten zur EU gehören.

Die Liste der Firmen, die nach Osteuropa gehen, ist lang und liest sich wie das Who is Who des deutschen Mittelstands. Knapp sechzig Prozent der vom Institut der deutschen Wirtschaft befragten Unternehmen mit weniger als 5.000 Beschäftigten haben bereits Standorte außerhalb der EU-Länder errichtet. Die Firmen brechen ihre Zelte in Deutschland zwar nicht zur Gänze ab, denn ihre weltweite Kundschaft wollen sie weiterhin aus Deutschland bedienen. Aber sie verlagern immer größere Teile ihrer Vorproduktkette nach Osteuropa. Entweder investieren sie dort selbst, oder sie kaufen die Vorprodukte bei anderen Firmen, die sich dort niedergelassen haben.

Die Niedriglöhne der Osteuropäer sind zu verlockend, als dass man ihnen widerstehen könnte, zumal viele Konkurrenten in Asien und anderen Teilen der Welt noch niedrigere Löhne zahlen. Die Spannweite der Stundenlohnkosten der Industriearbeiter der Beitrittsländer reicht von einem Drittel (Slowenien) bis zu einem Zehntel (Estland) der westdeutschen Werte. Polen als das bei weitem größte Land wartet mit Stundenlohnkosten auf, die bei nur etwa einem Viertel der ostdeutschen und einem Fünftel bis Sechstel der westdeutschen Lohnkosten liegen. An den Lohnunterschieden wird sich auch so schnell nichts ändern. Selbst wenn man mit jährlich zwei Prozent das Doppelte der in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa beobachtbaren Konvergenzgeschwindigkeit unterstellt, werden die polnischen Stundenlohnkosten für Industriearbeiter im Jahr 2010 bei erst bei einem Drittel und im Jahr 2020 noch unter der Hälfte der der westdeutschen Lohnkosten liegen. Kein Wunder, dass deutsche Unternehmen auf dem Wege der Standortverlagerung die Möglichkeiten der Kostensenkung ausreizen. Nach einer Untersuchung der Bundesbank hatten sie bis zum Jahr 2000 nicht weniger als 2,4 Millionen Arbeitsplätze im Ausland geschaffen.

Unternehmen, die das Spiel nicht mitmachen, riskieren den Untergang. Noch immer geht die Zahl der deutschen Konkurse von einem Rekord zum nächsten. In Deutschland gibt es heute drei Mal so viele Konkurse wie vor zehn Jahren und fünf Mal so viele wie vor fünfundzwanzig Jahren. Wegen der Konkurse sind die deutschen Großbanken in eine schwere Krise geraten, aus der sie nur mühsam wieder herausfinden.

Wie massiv der Anreiz ist, der deutschen Standortkrise durch Outsourcing zu entgehen, zeigt sich auch bereits sehr deutlich an Hand der Industriestatistik. So ist zwar die deutsche Industrieproduktion von 1995 bis zum Jahr 2003 um gut fünfzehn Prozent gestiegen, doch nahm die reale Wertschöpfung in der deutschen Industrie in der gleichen Zeitspanne nur um 5 Prozent zu. Das ist insofern bemerkenswert, als sich beide Größen früher weitgehend parallel zu entwickeln pflegten. Zwei Drittel des Zuwachses der deutschen Industrieproduktion seit Mitte der Neunziger Jahre sind vermutlich auf das Outsourcing in Niedriglohnländer, und nur ein Drittel ist auf eine Zunahme der einheimischen Wertschöpfung zurückzuführen.

Dies wirft schiefes Licht auf die Wettbewerbs- und Exportfähigkeit der deutschen Wirtschaft, denn man muss offenbar zwischen der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer unterscheiden. Zwar gelingt es den deutschen Unternehmen, dank des osteuropäischen Hinterlandes auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu bleiben, doch die deutschen Arbeitnehmer haben ihre Wettbewerbsfähigkeit großenteils bereits verloren. Die Industriebeschäftigung ging im betrachteten Zeitraum um 10 Prozent zurück, ohne dass anderswo die zum Ausgleich benötigten neuen Arbeitsplätze entstanden sind. Insgesamt sind viereinhalb Millionen Deutsche im Jahr 2003 arbeitslos. Viereinhalb Millionen Deutsche sind nicht mehr wettbewerbsfähig.

Auch die Exporte der deutschen Industrie sind kein Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit mehr. Dank des Outsourcing nach Osteuropa kann die deutsche Industrie zwar nach wie vor mit ihren Produkten auf den Weltmärkten glänzen, und auch die Exportstatistiken können stolze Zahlen aufweisen. Der Audi, dessen Motor in Ungarn gefertigt wird, geht mit seinem vollen Wert in die deutsche Exportstatistik ein. Das "Made in Germany" wird aber mehr und mehr zu einem Etikettenschwindel. In Deutschland findet noch die Endmontage statt. Die werthaltigen Teile kommen indes mehr und mehr aus Osteuropa.

Deutschland entwickelt sich in Richtung einer Basar-Ökonomie, die die Welt mit preisgünstigen und hochwertigen Waren bedient, die gar nicht mehr hier zu Lande produziert worden sind.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "4,5 Millionen Verlierer", Die Zeit, 22.12.03, S. 28.