Dann geht es steil hoch

BZ-Interview mit Ökonom Hans-Werner Sinn über das Warten auf den Corona-Impfstoff, den kommenden Wirtschaftsaufschwung und die Furcht vor der großen Inflation.
Hans-Werner Sinn

Badische Zeitung, 21. Dezember 2020, S. 16.

Es sei ein Unding, dass ein in Deutschland entwickeltes Vakzin gegen das Coronavirus anderswo schon verabreicht wird, nicht aber in Deutschland. Das sagt Hans-Werner Sinn, Volkswirt aus München. Dabei biete der Impfstoff die einzige Chance, schnell viele Leben und wirtschaftliche Existenzen zu retten. Im Gespräch mit Ronny Gert Bürckholdt erklärt Sinn auch, warum er den Corona-Hilfsfonds der EU für schlecht gemacht hält, warum man Freunden keine Darlehen gewähren sollte – und was Pferdekutschen mit Geldentwertung zu tun haben.

Herr Sinn, halten Sie es als liberaler Ökonom für richtig, die Pandemie mit Verboten in den Griff zu kriegen, satt auf die Vernunft der Menschen zu setzen?

Es geht nicht anders. Der Ökonom spricht in diesem Fall von externen Effekten. Die Bürger sind vor allem am eigenen Wohl interessiert, weniger an dem der anderen. Wenn sie zum Beispiel wegen ihres wirtschaftlichen Vorteils in den Laden gehen, dann halten sie dagegen, dass sie sich selbst infizieren könnten, doch kaum, dass sie wiederum andere infizieren könnten. Ihre Kosten-Nutzen-Abwägung ist verzerrt. So ist das nun mal mit uns Menschen. Deshalb bedarf es in der Pandemie der kollektiven Maßregelung. Es ist zu erwarten, dass in einem demokratischen System grundsätzlich auch jene für die Maßregelung stimmen, die selbst zu wenig auf die Gefahr der anderen achten. Das ist kein Widerspruch, sondern ein für Ökonomen selbstverständlicher Unterschied zwischen kollektiver und individueller Rationalität. Dieser Unterschied begründet staatliche Wirtschaftspolitik ganz generell. Gäbe es ihn nicht, könnte jeder machen, was er will, und alles würde gut. Es wird aber nur dann gut, wenn es diese externen Effekte nicht gibt oder wenn sie durch staatliche Vorschriften internalisiert werden.

Kann die deutsche Wirtschaft den zweiten harten Lockdown verkraften?

Der deutschen Wirtschaft geht es verhältnismäßig gut. Im Teil-Lockdown zwischen November und Mitte Dezember waren nur Branchen aus dem vergnüglichen Teil des Lebens betroffen wie Gaststätten und Konzertveranstalter. Die machen vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Jetzt ist der Lockdown härter; aber auch das ist kein Vergleich zum Frühjahr, als die Automobilindustrie für Wochen zugemacht hat. Das Entscheidende ist: Wir müssen impfen, so schnell es geht. Dann brauchen wir nicht ewig über Lockdowns zu reden. Es ist unverständlich, dass der in Deutschland entwickelte Impfstoff in Großbritannien und in den USA verabreicht wird, während wir damit noch warten sollen, bis die EU uns den eigenen Impfstoff zuteilt.

Die EU-Behörden sagen, sie wollten das Zulassungsverfahren nicht abkürzen, um in der Bevölkerung nicht den Verdacht keimen zu lassen, dass da auf einer unsicheren Datenbasis entschieden wird.

Das ist ein vorgeschobenes Argument. Es ist ein Unding, die Zulassung nicht per Notfallverfahren zu machen. Die Pandemie ist zweifellos ein Notfall. Wir haben mehrere Hundert Tote allein in Deutschland am Tag. Jeder Tag, den wirfrüher impfen, schützt Leben und wirtschaftliche Existenzen.

Die Arbeitslosigkeit stieg hierzulande kaum. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?

Die Arbeitslosigkeit ist nicht gestiegen, weil wir die Unterbeschäftigung verpackt haben in der Kurzarbeit. Kurzarbeiter sind praktisch teil-arbeitslos, was aber in der Arbeitslosenstatistik nicht gezählt wird. Es ist ökonomisch vernünftig, die Menschen mit der Kurzarbeit an die Unternehmen zu binden. Die Pandemie
ist keine strukturelle Krise, sondern eine vorübergehende. Ist die vorbei, werden die Arbeitnehmer wieder gebraucht.

Dann kommt ein Aufschwung wie in den Wirtschaftswunderjahren?

Das nun nicht, aber doch ein konjunktureller Aufschwung für die nächsten zwei, drei Jahre. Nach dem Krieg war der Aufschwung nicht konjunkturell, sondern strukturell, begründet durch den Lohnkostenvorteil, den Deutschland gegenüber anderen Volkswirtschaften der westlichen Welt hatte. Ich erwarte einen Konjunkturverlauf wie bei einem umgekehrten Wurzelzeichen. Es ging steil runter, dann geht es steil hoch, doch führt der Weg wohl nicht gleich auf das Niveau von vor der Pandemie zurück. Man darf nicht übersehen, dass wir unabhängig von Corona seit Längerem strukturelle Probleme in der Automobilindustrie
haben, der die EU mit der strafbewehrten Verpflichtung, wachsende Anteile an E-Autos zu produzieren, erhebliche Schwierigkeiten macht.

In Ihrem Buch „Der Corona-Schock – wie die Wirtschaft überlebt“, das im Sommer im Freiburger Herder-Verlag herauskam, gehen Sie hart ins Gericht mit den Corona-Hilfen der EU. Warum?

Es ist richtig, Hilfe für die stark von der Pandemie bedrängten Länder des Mittelmeerraums zu organisieren. Ich hätte aber unilaterale Hilfen der Bundesrepublik für besser gefunden als EU-Hilfen. Und wenn man das schon über die EU machen will, hätten die Staaten das Geld der EU geben sollen, anstatt ihr das Recht zur Verschuldung zu geben. Die Verschuldung in Höhe von 750 Milliarden Euro ist ein klarer Bruch der EU-Verträge, der nur notdürftig durch die Einstimmigkeit geheilt wurde. Dass die entsprechenden Schuldpapiere auch noch von der Europäischen Zentralbank aufgekauft werden, halte ich für besonders problematisch. Damit kommen die Hilfen für die Länder aus der Druckerpresse.

Deutschland hätte bilateral statt über die EU helfen sollen? Wozu braucht es dann noch die EU in ihrer heutigen Form?

Die EU braucht es für grenzüberschreitende Verkehrsprojekte, um die Außengrenze zu sichern, um weltweit strategische Interesse zu vertreten. Um bedrängten Ländern Geld zukommen zu lassen, braucht es sie nicht. Über solche Spenden können die Bürger jedes Landes selbst entscheiden. Als es im Frühjahr schlimm in den italienischen Krankenhäusern aussah, hätte Deutschland Italien 20, 30 Milliarden Euro überweisen können, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Viele Deutsche haben das auch tatsächlich gemacht. Meine Frau und ich haben über den Wirtschaftsbeirat Bayern ein recht erfolgreiches Hilfsprogramm organisiert.

Es wäre besser gewesen, die Deutschen hätten das Geld verschenkt?

Ja.

Warum?

Weil die Italiener in Not waren, weil sie unsere Freunde sind, und weil man Freunden hilft. Und weil ein unilaterales Geschenk keinen Leistungsmechanismus etabliert, aus dem sich ein impliziter Rechtsanspruch für die Zukunft entwickelt. Freunden gibt man keine Kredite, sonst sind sie Freunde gewesen. Dann müsste man das Geld ja zurückfordern, und dies ist Quelle ewigen Streits.

Kommt die große Inflation?

Die Geldmenge ist enorm ausgeweitet worden, erst in der Finanz- und Schuldenkrise, jetzt in der Pandemie. Die Zentralbankgeldmenge ist seit dem Sommer 2008 von 0,9 Billionen auf 4,6 Billionen Euro gestiegen, und sie wird nächstes Jahr Richtung sechs Billionen Euro gehen. Solange das Geld gehortet wird wie derzeit, hat es keinen negativen oder positiven Effekt. Wenn die Menschen aber beginnen, es auszugeben, kann Inflation entstehen. Es ist so, als würde ein Kutscher die Zügel lockerer und lockerer lassen, die Pferde können aber nicht laufen, weil sie müde sind. Wenn sie aber wieder zu Kräften kommen, dann aber kann der Kutscher die langen Zügel nicht schnell genug anziehen. Wir haben deshalb eine latente Inflationsgefahr. Ob und wann daraus Gewissheit wird, kann niemand sagen. Wenn Inflation entsteht, kann man sie jedenfalls nicht mehr schnell genug bremsen.

Warum?

Dazu müsste die Europäische Zentralbank die vielen Staatspapiere verkaufen, die sie gekauft hat. Das würde deren Kurse drücken. Die Banken, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben, müssten Abschreibungen vornehmen. Das würde sie in die Verlustzone und ins Straucheln bringen. Auch würden die Zinsen hochgetrieben, die die Staaten bieten müssten, um neue Staatspapiere auszugeben, was auch sie in Schwierigkeiten bringt.

Weil der Einfluss der bedrängten Staaten im Zentralbankrat groß ist, wird es nach meiner Einschätzung politisch kaum möglich sein, die Zügel wieder anzuziehen.

Wie bewerten Sie die Leistung der Bundesregierung beim Versuch, der Wirtschaft durch die Pandemie zu helfen?

Minister Spahn hat kompetent gehandelt. Mit der Finanzpolitik bin ich indes weniger einverstanden. Mein Eindruck ist, dass so gut wie jeder Geld bekommen soll, der laut genug Corona gerufen hat. Es ist im Prinzip nicht falsch, in so einer Krise zeitlich begrenzt Ersatzeinkommen zur Verfügung zu stellen. Es ist aber ein regulatorisches Wirrwarr entstanden, weshalb viele der bereitgestellten Hilfen nicht abgerufen werden, weil viele Bezugsberechtigte nicht wissen, wie das geht. Das zeigt die Schwierigkeiten einer Zentralverwaltungswirtschaft, wo staatlicherseits versucht wird, solch komplizierte Prozesse zu managen. Weil das nicht funktionieren kann, haben wir die Marktwirtschaft. Deshalb ist es so wichtig, den Impfstoff schnell zu spritzen, damit wir endlich herauskommen aus der misslichen Lage.

Das Interview führte Ronny Gert Bürckholdt.

Nachzulesen auf www.badische-zeitung.de.