"Wir haften für Südeuropas Banken"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Handelsblatt, 02.07.2012, Nr. 125, S. 10

Der Ökonom hält nach dem Euro-Gipfel die finanzielle Stabilität Deutschlands für gefährdet. Die Bürger könnten „nur noch auf das Verfassungsgericht hoffen".

Herr Professor Sinn, ist der Euro durch den Gipfel gerettet?

Nein. Wall Street, die City of London und die Pariser Banken wurden gerettet. Wir stehen nun für die Rückzahlung der Schulden der südeuropäischen Banken ein.

War der Druck auf Angela Merkel zu groß?

Auf Frau Merkel wurde vom Ausland mehr Druck ausgeübt, als je zuvor ein deutscher Kanzler nach dem Krieg hat aushalten müssen. Es wurde ein Kesseltreiben veranstaltet. Um an unser Geld zu kommen, hat man Deutschland imperiale Gelüste vorgeworfen und uns den Hass der Völker prophezeit. Dem Druck konnte Angela Merkel nicht mehr widerstehen. So ist sie eingeknickt. Jetzt können die Barger, an deren Vermögen man will, nur noch auf das Verfassungsgericht hoffen.

Können Sie das Verhalten der Bundeskanzlerin denn verstehen?

Ich habe Verständnis für alles. Deutschland ist heute wieder so isoliert wie schon häufig in seiner Geschichte. Wie wir es auch anstellen, wir kommen offenbar aus dieser Isolation nicht heraus, ohne uns die Gunst der Nachbarn mit immer mehr Geld zu erkaufen. Aber wir haben viel mehr Geld auf den Tisch gelegt, als nötig war, weil wir den offenen Bruch des Maastrichter Vertrags akzeptiert haben, konkret die Verletzung der No-Bailout-Klausel nach Artikel 125 des EU-Vertrags. Der Fehler wurde schon im Mai 2010 mit dem EFSF gemacht.

Deutschlands Empfänglichkeit für äußeren Druck war die Einladung, mit immer mehr Druck immer mehr Geld zu erpressen. Wir müssen Angela Merkel helfen, indem wir Gegendruck aufbauen, damit nicht alles hinweggeweht wird, was die Stabilität unseres Staatswesens bislang ausgemacht hat.

Bislang hat der ESM-Vertrag vorgesehen, dass der Rettungsfonds die Banken nicht direkt rekapitalisieren darf, sondern das Geld an die Regierungen der Krisenländer überweisen musste. Jetzt haben die Regierungschefs direkte Bankhilfen beschlossen. Was halten Sie davon?

Deutschland hat damit eine Art ökonomischer Gewährträgerhaftung für die maroden Banken Südeuropas übernommen. Diese Banken müssen in den nächsten Jahren gewaltige Abschreibungsverluste auf die Immobilien- und Unternehmenskredite vornehmen, die in den Anfangsjahren des Euros gegeben wurden und nun notleidend sind, weil die Euro-Blase geplatzt ist. Es ist bemerkenswert, dass das zeitgleich mit der von der EU erzwungenen Zerschlagung der WestLB, der einst größten deutschen Landesbank, geschieht. Bekanntlich haben die Landesbanken ihre riskanten Geschäfte wegen der Gewährträgerhaftung des Staates ausgeübt. Das wird bei den nun vom ESM geschützten Banken Südeuropas nicht anders sein. Wir werden in Südeuropa noch viele Banken von der Art der deutschen HRE finanzieren müssen.

Reicht der ESM?

Nein, deswegen ist er schon auf Zuwachs konstruiert. Das Haftungsrisiko bei den Banken ist wesentlich größer als bei den Staaten. Die Bilanzsummen der Banken der fünf Krisenländer liegen bei knapp zehn Billionen Euro, davon sind 9,2 Billionen Euro Bankschulden. Die Staatsschulden dieser Länder liegen demgegenüber bei etwa 3,4 Billionen Euro. Daran merken Sie, auf was wir uns mit der Bankenunion eingelassen haben. Der deutsche Staat wird immer tiefer in die südeuropäische Krise hineingezogen, und die Investoren aus aller Welt, die sich verspekuliert haben, können sich noch in letzter Minute aus dem Strudel befreien. Die Finanzmärkte sind nun beruhigt, ja geradezu euphorisch, weil ein Weg gefunden wurde, das deutsche Vermögen zu verbrauchen. Die finanzielle Stabilität Deutschlands ist indes gefährdet.

Kredite, die der ESM vergibt, sollen künftig nicht vorrangig, sondern gleichrangig bedient werden. Wie beurteilen Sie das?

Das trägt zur Gefährdung bei. Der Vorrang des Retters ist das Wesen einer jeden Konkursordnung. Auch der IWF hilft nur unter dieser Bedingung. Deutschlands Position war es, die Rettung immer nur mit dem IWF und nach dessen Regeln zu organisieren. Die Bedingung, dass wir nur Geld geben, wenn der IWF es tut, wurde schon im ESM-Vertrag gekippt. Nun fiel auch noch die Bedingung, dass wir wenigstens nach den IWF-Regeln helfen. Die europäischen Verträge veralten, bevor ihre Tinte getrocknet ist.

Die direkten Bankhilfen setzen eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht voraus, die unter Beteiligung der Europäischen Zentralbank (EZB) entstehen soll. Ist sie die Richtige dafür?

Wir brauchen eine gemeinsame europäische Aufsicht, denn die nationale Aufsicht ist zu lasch, weil sie den jeweils eigenen Banken den Zugang zu den EZB-Krediten nicht versperren will. Im Übrigen gibt es allzu häufig finanzielle Verquickungen. Ob es mit der EZB besser wird, wage ich aber zu bezweifeln. Die Club- Med-Staaten, die dort eine siebzigprozentige Mehrheit haben, werden die Übertragung der Bankenaufsicht als Mandat für die Bankenrettung mit der Notenpresse begreifen. An den Parlamenten vorbei hat die EZB den Krisenländern schon jetzt Target-Kredite und Staatskredite im Umfang von über tausend Milliarden Euro gewährt. Auf diese Institution kann sich Deutschland nicht verlassen.

Aber was wäre die Alternative?

Nach Abzug von Doppelzählungen betragen die Bank- und Staatsschulden der fünf Krisenländer zwölf Billionen Euro. Das sind aus der Sicht der Gläubiger, die über die Welt verteilt sind, Vermögenswerte gleichen Umfangs. Weil die Summe riesig ist, kann nur eine einzige Personengruppe die zu erwartenden Abschreibungsverluste aus der Blasenfinanzierung im Süden tragen: die Gläubiger selbst. Die Steuereinnahmen der noch gesunden Staaten reichen dafür nicht aus. Man hätte die Banken mit Debt-Equity-Swaps rekapitalisieren können, also durch die Übergabe der Bankaktien an die Gläubiger im Austausch für einen Forderungsverzicht.

Und wie kommen die Staaten an Geld?

Sie können Pfandbriefe ausgeben, die mit Immobilien, Gold oder einem vorrangigen Anspruch auf ihre zukünftigen Steuereinnahmen besichert sind. Alle Krisenländer haben entsprechende Notfallpläne in der Schublade.

Aber wir haben ein gesamteuropäisches Problem, das gemeinsam zu lösen ist...

Nein, Vermögensverluste sind nicht gemeinsam zu tragen. Die sind immer von denjenigen zu tragen, die das Vermögen haben und mit ihrer Anlageentscheidung selbst ins Risiko gegangen sind. Da nun sehr viele Länder gleichzeitig in einer Zahlungskrise stecken und mächtige Vermögensbesitzer aus der ganzen Welt betroffen sind, ist man jedoch lieber mit vereinten Kräften gegen Deutschland aufmarschiert und hat es bezwungen.

Unsere Banken und Versicherer würden im Falle eines Gläubigerverzichts auch getroffen.

Ja, stimmt - dann müssen wir die Kette notfalls fortsetzen und sagen, dass die Gläubiger dieser Banken und Versicherungen ebenfalls auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen. Wenn wir aber die deutschen Rentner und Steuerzahler zur Kasse bitten wollen, um die Verluste zu sozialisieren, sollten wir die Hilfen auf die deutschen Banken und Versicherungen beschränken. Das ist wesentlich billiger, als die Investoren der ganzen Welt zu retten. Ein jeder möge vor seiner eigenen Haustüre kehren.

Geht die Bundesregierung zu leichtfertig mit Steuergeldern um?

Als der Hair-Cut für Griechenland auf Druck Deutschlands beschlossen und der IWF mit beteiligt wurde, hat sie sich durchgesetzt - das muss man loben. Der letzte Gipfel war nun die Revanche.

Schützt uns nicht der Fiskalpakt vor allzu großen Vermögensverlusten?

Der Pakt wird nur in Deutschland ernst genommen. Er ist ein Placebo - wie seinerzeit der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Ländern, denen der Kapitalmarkt misstraut, braucht man keine politischen Schuldengrenzen zu setzen. Wenn man ihre Kreditaufnahme begrenzen will, reicht es, ihnen weniger öffentlichen Kredit zu geben. Verhaltensmaßregeln erzeugen Unfrieden und bringen nichts als Ärger. Deutschland hätte nicht so viel Geld geben, dafür aber den Mund halten sollen. Unsere Belehrungen haben zu der vergifteten Atmosphäre des Gipfels und der Entschlossenheit der anderen Länder beigetragen, Deutschland endlich niederzuringen. Im Übrigen verhindert der Fiskalpakt bestenfalls eine übermäßige Staatsverschuldung. Wir haben aber in Südeuropa vor allem eine übermäßige private Verschuldung. Die spanische Netto-Außenschuld, überwiegend privat, ist mit etwa tausend Milliarden Euro größer als die Außenschuld aller anderen Krisenländer zusammen. Gegen die exzessive private Verschuldung hilft der Pakt ohnehin nicht.

Was nun?

Politisch sind die Weichen gestellt, aber vielleicht gibt das Verfassungsgericht uns eine Chance für Nachverhandlungen. Wir sollten zulassen, dass einige Länder, die überhaupt nicht wettbewerbsfähig sind, den Euro-Raum verlassen, um abwerten zu können. Bislang haben wir versucht, eine Strukturkrise mit den Instrumenten einer Liquiditätskrise zu lösen. Das ist gründlich schiefgegangen. Es hat Investoren aus aller Welt viel Geld zugeschanzt, aber die fundamentalen Wettbewerbsprobleme der südeuropäischen Länder nicht gelöst. Je früher wir einsehen, dass der Ansatz zu nichts führt außer zu irrsinnigen Kosten, desto eher wird Europa gesunden.

Deutschland wurde in einer ausweglosen Situation auch geholfen, denken Sie an den Marshall-Plan.

Ich bin sehr für einen Marshall-Plan als Liquiditätshilfe. Aber was wir getan haben, geht schon darüber hinaus. Nehmen Sie Griechenland. Dem Land wurden mit dem EZB-Geld, den offenen Hilfen und dem Hair-Cut bereits 460 Mrd. Euro oder 214 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zugestanden. Dagegen umfasste der Marshall-Plan für Deutschland je nach Rechnung eine Hilfe von bis zu fünf Prozent des deutschen BIP eines Jahres. Wenn man noch den Schuldenschnitt nach dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 hinzurechnet, mit dem Deutschland die Außenschuld weitgehend genommen wurde, kommt man auf 22 Prozent des BIP des Jahres 1952, etwa ein Zehntel dessen, was Griechenland anteilig erhielt. All das viele Geld hat Griechenland nicht wettbewerbsfähig gemacht, im Gegenteil. Es behindert nur die Exporte und hält die Preise hoch.

Es geht auch um die große europäische Idee. Ist es angesichts derer wirklich angebracht aufzurechnen?

Ich bin bereit, den ganzen Weg zu gehen und die Vereinigten Staaten von Amerika exakt zu kopieren.

Aber?

Aber es kommt auf die Reihenfolge der Maßnahmen an. Erst die Aufgabe der Souveränität, dann die Vergemeinschaftung der Force de Frappe, dann ein gemeinsames Budget ... aber nie die Vergemeinschaftung der Schulden der Mitgliedstaaten! Diese Hoffnung wird mir in meinem Leben nicht mehr erfüllt werden. Derweil müssen wir uns bemühen, die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu erhalten.

Die Gipfelbeschlüsse wurden im Ausland bejubelt. Insofern haben wir für die Beziehung durchaus etwas getan, oder?

Der Jubel erinnert mich an die Zeit, als Kohl dem Euro zustimmte. Er wird nur von kurzer Dauer sein. Die Bad Bank ESM, die den Anlegern der Welt die toxischen Staats- und Bankenpapiere abkaufen soll, macht unsere Kinder zu den Gläubigern der Südländer. Sie dürfen dann nach Spanien, Griechenland und Italien gehen und die Schulden anstelle der ursprünglichen Gläubiger zurückfordern. Das wird Unfrieden schaffen und den europäischen Gedanken beschädigen. Wir sind auf einer Wanderung, bei der wir uns immer mehr vom angezielten Gipfel entfernen. Unsere Führung behauptet, wir lägen noch richtig, und bittet uns, den Schritt zu beschleunigen. Ich bin nicht mehr überzeugt und schlage vor, innezuhalten, bis zur letzten Weggabelung zurückzugehen und dann einen anderen Weg zu suchen.

Herr Professor Sinn, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Dorit Heß in München.