Der einflussreiche Volkswirtschafter Hans-Werner Sinn hat seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Politisch sozialisiert bei den Falken, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, wurde er zunehmend skeptisch gegenüber linken Ideen. Er ärgert sich über Ökonomen, die sich in ihrem Elfenbeinturm verschanzen.
Hans-Werner Sinn kennt man als streitbaren und streitfreudigen Ökonomen. Auch nach seiner Pensionierung figuriert er laut dem Ranking der NZZ unter den einflussreichsten Volkswirtschaftern im deutschsprachigen Raum. Jetzt hat er ein «so ganz anderes» Buch als all die anderen geschrieben, nämlich seine Autobiografie. Es sind denn auch die Passagen über seine Jugend im Nachkriegsdeutschland, die am spannendsten sind. Man versteht dadurch besser, weshalb Sinn, der bald 70 wird, ein solches Kämpferherz hat und im öffentlichen Diskurs selten eine Beisshemmung kennt. Der deutsche Ökonom entstammt sehr einfachen Verhältnissen. Bis zum Ende der Grundschule wuchs er bei seinen Grosseltern auf, da seine Eltern voll damit beschäftigt waren, die kleine Familie mit harter Arbeit über Wasser zu halten.
Von Rechtsextremen verprügelt
Sein Vater war Camionneur, machte sich später mit einem kleinen Taxibetrieb in Brake, nahe Bielefeld, selbständig. HansWerner arbeitete schon mit 14 Jahren selbstverständlich im väterlichen Kleinstunternehmen mit, zunächst bediente er das Telefon, später war er auch Fahrer. Während seine Mitschüler am Gymnasium aus meist besserem Haus frei hatten oder schliefen, fuhr er Kunden durch die Nacht. Er wohnte nun wieder bei seinen Eltern, die eine 25 Quadratmeter kleine Sozialwohnung zugewiesen bekommen hatten. Es traf sich gut, dass er gerade dann ein winziges eigenes Zimmer erhielt, als er eine Klasse repetieren musste. Jedenfalls war sein Ehrgeiz geweckt, es zu schaffen. Und er wurde immer besser - auch dank einem weiteren Nebenjob als Nachhilfelehrer, wodurch er sein Wissen vertiefen musste.
Entzauberung des „dritten Wegs“
Sinn war nie ein Chicago-Ökonom, dem der Staat grundsätzlich suspekt ist. Vielmehr versteht er sich als klassischer Finanzwissenschafter, der sich überlegt, wie der Staat Marktversagen etwa im Umweltschutz heilen kann. Sein Interesse für politische Fragen wurde durch die Mitgliedschaft bei den Falken geweckt, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten. Sinn betont, dass die Falken in Brake ein weltoffener und undogmatischer Haufen gewesen seien. Mit der Sowjetunion hatten sie nichts am Hut. In der Bilderstrecke sieht man den jungen Sinn ein Plakat mit dem Bild von Martin Luther King hochhalten. Und einmal störte er gar eine Veranstaltung der rechtsextremen NPD. Dafür wurde er hinter der Bühne von Ordnern verprügelt.
Bei der SPD war er dagegen nur kurz, zu bieder war ihm die Gesprächsatmosphäre im Lokalverein. Dazu kam aber auch, dass er durch sein Ökonomiestudium linken Ideen zunehmend kritisch gegenüberstand. Auch einem «dritten Weg» zwischen Kapitalismus und Kommunismus, für den viele Falken schwärmten, konnte er immer weniger abgewinnen. Damit ist die Arbeiterselbstverwaltung gemeint, wie sie im damaligen Jugoslawien versucht wurde. Was funktionierte daran nicht? Diese Betriebsform pflege bei Einstellungen sehr restriktiv zu sein, da jeder neue Mitarbeiter die Gewinnbeteiligung der vorhandenen Mitarbeiter schmälere, erklärt Sinn. Jugoslawien litt deshalb unter hoher Arbeitslosigkeit.
Dass doch etwas von den Falken hängenblieb, merkt man etwa an Sinns Haltung zur Privatisierung in der ehemaligen DDR. Er machte sich nach der Wende zusammen mit seiner Frau Gerlinde für Gemeinschaftsunternehmen stark, also Aktiengesellschaften, an denen die Bürger Minderheitsanteile hätten halten sollen und ein Investor aus dem Westen die Mehrheit. Sein Modell wurde zwar nicht verfolgt, später aber von Bolivien bei der Privatisierung von Minen aufgenommen. Auch in der rohstoffreichen Mongolei konnte er die «Privatisierung ohne Verkauf» präsentieren. Die Mongolei habe sich von Bergbaukonzernen über den Tisch ziehen lassen, schreibt Sinn. Sie hätte Anteile an den Ressourcen behalten sollen.
Das Volk beraten
Sinn enerviert sich in seinem Buch über Vertreter seiner Zunft, die nicht einmal aufblickten, wenn die Welt der Wirtschaft aus den Fugen gerate. Der ehemalige Präsident des Münchner Ifo-Instituts hat dagegen schon während Krisen Bücher auf den Markt gebracht, die eine erste Einordnung erlaubten, sei es zur Finanzkrise oder zum Schuldendebakel im Euro-Raum. Mit seiner Idee einer aktivierenden Sozialhilfe hat er die Diskussion um die „Agenda 2010“ unter Kanzler Gerhard Schröder beeinflusst.
Sinn gibt sich keinen falschen Illusionen hin: Politiker hören selten auf den Rat der Ökonomen. Kanzlerin Merkel erhält zwar jedes Jahr ein dickes Gutachten der „Wirtschaftsweisen“, doch verpuffen deren Appelle rasch. Sinn dagegen versteht sich im Wortsinn als „Volks-Wirtschafter“: Der Ökonom müsse das Volk direkt beraten, man müsse die Bürger für Themen interessieren, ihre Mündigkeit ansprechen. Dass er dabei zuweilen von missionarischem Eifer getrieben ist, räumt er im Buch mit einem Schuss Selbstironie durchaus ein.
Einmal schildert er, wie er in jugendlichem Übermut durch einen See schwimmt, der breiter und breiter wird. Seine Kameraden hatten längst kehrtum gemacht. Nach weiteren zweieinhalb Stunden erreicht er völlig entkräftet das andere Ufer. Man hat nach der Lektüre seines Wälzers, der auch ein „Management Summary“ seiner wichtigsten Forschungsthemen ist, aber nicht den Eindruck, dass Sinn schon am anderen Ufer angekommen ist. Der populäre Ökonom wird jedenfalls weiter aufblicken, wenn „die Wogen hochschlagen“.
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