Die universitäre Lehre und der Geist des Kapitalismus
Das Gespräch führten Bernhard Hiergeist und Thomas Lehnen
Hans-Werner Sinn ist einer der bekanntesten Wirtschaftsexperten weltweit. Er ist Professor an der LMU und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Philrat sprach mit dem Volkswirt über universitäre Lehre und die europäische Finanzkrise.
Herr Professor Sinn, Sie haben von 1967 bis 1972 Münster studiert, einer im Rückblick sehr bewegten und aufregenden Zeit. Wie haben Sie diese Jahre erlebt?
Es gab eine intensive Diskussion. Permanent wurden Lehrveranstaltungen durch linke Studenten politisch umfunktioniert. Das fanden wir alle sehr interessant. Es ging um tiefgehende Fragen, etwa wie das richtige Gesellschaftssystem aussieht, ob es eine Selbstorganisation der Märkte oder Chaos gibt, ob man die ordnende Hand einer zentralplanerischen Regierung braucht.
Haben Sie sich auch aktiv eingebracht oder das Ganze als Student nur am Rande mitbekommen?
Eher am Rande. 1968 war der Höhepunkt der Bewegung, da fing ich gerade an zu studieren. Die Aktiven und Wortführer dieser Entwicklung waren naturgemäß ältere Studenten.
Wie haben Sie sich Ihr Studium finanziert?
Ich bin am Wochenende und in den Semesterferien Taxi gefahren.
Wie wurden Sie das Arbeitsfeld eines Volkswirtes beschreiben?
Die VWL ist eine über 200 Jahre alte Disziplin, die Grundtatbestände sind seit jeher immer noch ungefähr die gleichen: Es werden Modelle gemacht, die das Zusammenleben von Menschen in einem Regelsystem beschreiben. Der Markt ist ja solch ein System, Millionen von Menschen entscheiden dort nach eigenem Gusto, Firmen treffen ihre gewinnmaximierenden Entscheidungen. Die Frage ist: Wie passt das alles überhaupt zusammen? Gibt es ein sinnvolles Gleichgewicht? Wo liegen die Marktfehler?
War es für Sie während des Studiums immer klar dass Sie diesen Weg einschlagen wollen?
Ich habe nur im Vorfeld gezweifelt. Eigentlich hätte ich gerne Biologie gemacht. Man hätte damit aber nur Lehrer werden können, das wollte ich nicht. Letzten Endes bin ich nun eigentlich doch Lehrer geworden. (Schmunzelt.)
Wie sieht Ihre eigene politische Vision aus?
Meine Vision besteht darin, Rationalität in die öffentliche Debatte zu bringen. Da bin ich stark vom Studium der VWL geprägt, wo man versucht, sich mit den emotionalen Themen der öffentlichen Debatte halbwegs sachlich auseinander zu setzen. Als Volkswirt sieht man die harten ökonomischen Mechanismen, das Politische hingegen eher untergeordnet.
Seit geraumer Zeit wird von Finanzmärkten, die außer Kontrolle geraten sind, gesprochen. Wo muss man ansetzen, um die Stabilität wieder zu erhöhen?
Man muss die Banken stärker regulieren und das Haftungsprinzip berücksichtigen. Jemand, der riskante Entscheidungen trifft, muss für die Konsequenzen eintreten. Das kann er aber nicht, wenn er wie alle Kapitalgesellschaften eine Haftungsbeschränkung hat und nicht über genügend Eigenkapital verfügt, was das Hauptproblem der Banken ist. Man kann das natürlich von der moralischen Seite aufziehen und über die bösen Bankmanager reden, die ihren Gewinn maximieren wollen, aber das ist einem Ökonomen zu billig. Der Ökonom sieht die Strategie der Bank als Spiel, bei dem die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. Um dem Spiel den Reiz zu nehmen, muss man die Banken zwingen, mit mehr Eigenkapital zu arbeiten. Nur mit guten Spielregeln fährt die individuelle Vorteilssuche zu etwas kollektiv Rationalem.
„Ist Deutschland noch zu retten?", fragten Sie in Ihrem 2003 erschienenen Buch. Wie sehen Sie es heute?
Es ist gerettet. Damals ging es um die fehlende Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Wir waren einfach zu teuer und mussten billiger werden. Man brauchte eine Phase der Lohnmoderation, denn bei niedrigeren Löhnen gibt es mehr Jobs. Heute haben wir so wenig Arbeitslose wie im Vereinigungsboom. Die größten Probleme in nächster Zeit entstehen aus der europäischen Schuldenkrise. Die EU ist an sich ein Segen für Europa, aber der Euro wird zunehmend zu einer grenzwertigen Veranstaltung. Er ist nicht mehr nur ein Berechnungssystem, um den Austausch zwischen den Ländern zu erleichtern, sondern entwickelt sich zunehmend zu einer Schuldensozialisierungsmaschine. Dazu war er eigentlich nicht gedacht.
Es gibt immer mehr Studienanfänger und gleichzeitig immer kürzere Studienzeiten. Seit Bologna wird die universitäre Lehre immer verschulter. Wie sehen Sie die Situation der Hochschulen?
Ich habe zwei Jahre in Kanada unterrichtet und war sehr beeindruckt von der Effizienz des dortigen Lehrplans. Er ist stärker verschult und diese Verschulung erscheint mir auch richtig. Ein straff organisierter Lehrplan, der genau die Inhalte für jedes Semester festlegt, aber auch Wahlmöglichkeiten integriert, ist auch im Sinne der Studenten.
Leided die Lehre nicht unter dem Effizienzdruck?
Nein, im Gegenteil. Die Lehre ist in den angelsächsischen Ländern meistens besser organisiert. Es gibt ja auch viel mehr Professoren je Student. Ich glaube, dass das Bachelor/ Master-System, das wir von dort übernommen haben, eine gute Sache ist. Früher hatten wir diese Karrieren, wo Studenten über Jahre herumhingen und am Ende das Examen nicht bestanden. Ich persönlich habe an unserer Fakultät vor gut 20 Jahren als Dekan die Prüfungsordnung geändert und den Bachelor eingeführt. Wir waren die Ersten, die das gemacht haben. Das war noch nicht der gleiche Bachelor, den wir heute haben, aber es war die gleiche Grundidee. Inzwischen bin ich froh, dass diese Unterteilung europaweit umgesetzt wurde.
Hätte es positive Effekte, wenn in Deutschland weiter Studiengebühren erhoben oder erhöht würden? Oder sollte Bildung für Jedermann frei zugänglich sein?
Das Studium sollte etwas kosten. Wenn man das Gefühl hat, dass bestimmte Gesellschaftsschichten dann benachteiligt sind, kann man ihnen das Geld geben, das sie brauchen. Man gibt es ihnen ja jetzt auch. Wenn nun der Student ein Kunde wird und der Professor der Dienstleister, dann entwickelt sich eine bessere Anreizstruktur, die zu einem besseren Studium führt. Man könnte auch das Geld, das der Staat zuschießen will, den Studenten in Form von Gutscheinen geben, von denen man sich dann in einem wettbewerblichen universitären System genau die Professoren „kaufen" kann, die man haben will.
Sie sind nun schon lange im Geschäft, sprechen viel in der Öffentlichkeit. Wie bereiten Sie sich auf Ihre Reden und Vorträge vor?
Ich stecke da viel Zeit hinein. Wenn Sie versuchen, anderen einen Sachverhalt zu erklären, und schauen dann in ungläubige Gesichter, dann wissen Sie, dass Sie etwas falsch gemacht haben. Man muss gute Vergleiche haben, komplizierte Sprache vermeiden und direkte, einfache Sätze verwenden, damit die Botschaft auch verstanden wird. Man ist zu kompliziert, wenn man aus dem akademischen Bereich kommt. Ich bin jetzt im ifo Institut schon zwölf Jahre mit den Medien und einem Nicht- Fachpublikum konfrontiert. Da lernt man, die Dinge zu vereinfachen und auf den Punkt zu bringen.
Wie lange wird es den Kapitalismus noch geben?
Den Kapitalismus und die Marktwirtschaft wird es noch sehr lange geben, weil es dazu einfach keine Alternative gibt. Wenn wir die Marktwirtschaft aufgeben, werden wir alle wieder zu Materialisten, die nur ans Überleben denken. Andere Systeme wie der Sozialismus sind ineffizient, weil sie keine privaten Anreize bieten. Sie erzeugen Materialisten, weil es den Leuten dreckig geht. Die größte kulturelle Erfindung der Menschheit ist der Markt. Dass Menschen in Tauschgeschäfte treten konnten, hat die Spezialisierung ermöglicht; und aus dieser entstanden der Wohlstand und die Möglichkeit zur Muße, die man für geistige Beschäftigung braucht. Ohne den Markt wäre der gesamte restliche kulturelle Überbau unseres Daseins nicht möglich gewesen.
Wie wird es noch, dauern, bis die ganze Welt vor diesen Errungenschaften profitieren kann?
Es profitiert doch schon die ganze Welt. Der Kommunismus ist besiegt und wir haben einen dramatischen Rückgang der Armut in der Welt. Die Globalisierung hat ebenfalls dazu geführt, dass die Zahl der Armen insgesamt zurückgegangen ist. Heute ist es immerhin so, dass mit China und Indien, das früher mit seiner starken Zentralverwaltungswirtschaft auch teil-kommunistisch war, 45 Prozent der Menschheit auf dem Wege sind, einen Lebensstandard zu haben, wie man ihn früher nur in den OECD-Ländern kannte. Dennoch ist auch klar, dass wir zunehmende Hungerprobleme auf der Welt kriegen werden. Das jedoch nicht wegen, sondern trotz der Marktwirtschaft, weil sich die Menschheit immer stärker vermehrt. Die Marktwirtschaft ist aber meiner Meinung nach die beste Methode, mit diesen ganzen Schwierigkeiten fertig zu werden.
Hans-Werner Sinn (*I948) studierte in Münster und Mannheim VWL und ist heute Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der LMU. Seit 1999 ist er Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, das vor allem durch seinen monatlich veröffentlichten ifo-Geschäftsklimaindex bekannt ist. Ansonsten tritt Sinn auch als Autor wirtschaftspolitischer Sachbücher wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ (2003) oder „Der Kasino-Kapitalisrnus“ (2009) in Erscheinung.