Hans-Werner Sinn hat das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München zu einer Forschungsstätte von Rang gemacht (Präsident von 1999 bis 2016), die wirtschaftspolitischen Debatten jahrzehntelang mit geprägt und immer klare Kante gezeigt. Am 7. März wird er 70 Jahre alt - und legt nun seine Autobiografie vor.
„Auf der Suche nach der Wahrheit“ heißt das 672 Seiten dicke Buch, das er in den knapp zwei Jahren seit seinem Abschied als Ifo-Präsident geschrieben hat. Hatte er nicht ganz andere Pläne? „Ich muss nicht mehr von einem Termin zum andern hetzen“, sagt Sinn. „Doch, ich genieße es. Ich habe mehr Freizeit, mehr Zeit für Reisen mit meiner Frau zum Beispiel. Und ich kann meine Gedanken in größerer Ruhe zu Ende führen, mich auch neuen Themen widmen.“
Allerdings hätten die Lebenserinnerungen schon viel Zeit in Anspruch genommen. „Dazwischen hab ich ja noch das Buch 'Der Schwarze Juni' zum Brexit-Ausstieg geschrieben.“ Er schreibe eigentlich sehr schnell. „Aber der Schlussspurt war dann doch ein bisschen anstrengend.“
Als Schüler in Bielefeld wollte Hans-Werner Sinn Missionar werden. Er war Mitglied im Christlichen Verein Junger Männer und in der Sozialistischen Jugend, wollte auf den Spuren Albert Schweitzers in die Dritte Welt. Die Neugier und das Sendungsbewusstsein sind ihm geblieben. Und der Käpt'n-Ahab-Bart, den er seit Studententagen in Münster trägt.
Nach dem Studium bewarb sich der Volkswirt zunächst bei einem Gewerkschaftsinstitut, machte dann aber in der Wissenschaft Karriere. Mit gerade einmal 33 Jahren kam er als Professor von Mannheim nach München, lehrte später auch an den US-Eliteunis Stanford und Princeton. 1999 ließ er sich beknien, das ausgelaugte Ifo-Institut neu aufzubauen. Mit Erfolg. Nobelpreisträger Robert Solow lobte: „Er hat München zu einem der Weltzentren für Wirtschaftsforschung gemacht.“
In der Fachwelt genießt Sinn hohes Ansehen. Der Deutsche Hochschulverband kürte ihn 2015 zum „Hochschullehrer des Jahres“, als „Wissenschaftler, der allein der Rationalität verpflichtet ist und politischen Opportunismus nicht kennt“. Zu seiner Verabschiedung als Ifo-Präsident kamen Gäste wie Bundesbank-Präsident Jens Weidmann oder Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.
Christoph Schmidt, Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, sagt, Sinn habe sich „eine so hohe Anerkennung in der Fachwelt bewahrt, wie sie nur wenigen Ökonomen zuteil wird. Von diesem Vorbild kann sich meine - die nachfolgende - Generation eine gehörige Scheibe abschneiden.“
Für Gewerkschafter und linke Politiker dagegen ist der streitbare Professor oft ein rotes Tuch. Mit seiner Kritik etwa an den Griechenland-Rettungspaketen, an der Euro-Politik oder am Mindestlohn eckte er an, wurde von einigen als „Professor Unsinn“ geschmäht. Sinn habe sich häufig geirrt, sagte DGB-Chef Reiner Hoffmann. Linke-Chef Bernd Riexinger meinte: „Sinn steht beispielhaft für Ökonomen, die Ideologie mit Wissenschaft verwechseln und blind gegenüber sozioökonomischen Realitäten sind.“
„Wenn politische Korrektheit eingefordert wird, weil einem die Argumente ausgehen - das finde ich unerträglich“, sagt Sinn heute. „In einer Gesellschaft mündiger Bürger müssen wir doch Sachverhalte offen diskutieren können. Ein Argument ist ein Argument. Punkt.“
Weil er auch komplizierte Themen verständlich machen kann und Klartext spricht, sind mehrere Bücher des Volkswirts auch beim breiten Publikum Bestseller geworden. Bekannt wurde er 1991 mit dem Titel „Kaltstart“ über Fehler bei der Wiedervereinigung, den er mit seiner Frau Gerlinde zusammen schrieb - auch sie ist Ökonomin. Als einen seiner größten wissenschaftlichen Erfolge sieht Sinn die Aufdeckung von 300-Milliarden-Euro-Krediten südeuropäischer Notenbanken bei der Bundesbank, der sogenannten Target-Salden, im Jahr 2011.
„Ich bin ganz glücklich - zumal ich das Ifo-Institut bei Clemens Fuest in guten Händen weiß“, sagt er. Aber dass der französische Präsident Emanuel Macron jetzt weitere Schulden und Risiken in Europa vergemeinschaften will, beschäftige ihn. „Am meisten Sorgen macht mir, wie in der EU-Politik mit Macron in Deutschland sämtliche Grundpositionen des Maastricht-Vertrags geschleift werden. Der Geist von Wolfgang Schäuble ist in Gefahr“, erklärt Sinn auf der Fahrt zum Münchner Flughafen - und verpasst dabei fast die Ausfahrt.
Termine, Termine, Termine - eine Autobiografie macht doch Arbeit. Und dann? „Ich forsche weiter. Ein Wissenschaftler hört ja nie auf.“
Ebenfalls erschienen und nachzulesen auf www.focus.de.