Streitgespräch | Marcel Fratzscher und Hans-Werner Sinn diskutieren über Mindestlohn, Rentenreform, Gefahren für den Standort und über die Frage, ob die Euro-Rettung Erfolge vorweisen kann.
Herr Professor Sinn, Herr Professor Fratzscher, jahrelang galt Deutschlands Standortqualität als beispielhaft. Jetzt aber steigen Energiepreise und Löhne kräftig. Sind wir dabei, unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen?
Fratzscher: Deutschland steht im internationalen Vergleich gut da. Dank der starken Exportindustrie haben wir die Finanzkrise relativ glimpflich überstanden. Die Ausfuhren werden auch in Zukunft eine wichtige Stütze unserer Wirtschaft bleiben. Allerdings haben die großen Dax-Konzerne im vergangenen Jahr knapp 36000 neue Arbeitsplätze im Ausland geschaffen, aber nur 6000 neue Jobs in Deutschland. Aus Sicht der Unternehmen mag dies klug sein, um ihr geografisches Risiko zu diversifizieren und Marktchancen zu nutzen. Dem Standort Deutschland aber drohen Nachteile, wenn die einheimischen Investitionen lahmen und der Standort im internationalen Vergleich zurückfällt.
Sinn: Die Beschlüsse zum Mindestlohn werden die gesamte Lohnskala hochdrücken und Deutschland wieder in eine reale Aufwertung treiben, weil die Gewerkschaften und die Marktkräfte versuchen werden, die alten Lohnabstände zu verteidigen. Damit wird die mühsam errungene Wettbewerbsfähigkeit wieder gefährdet. Das ist in gewisser Weise zwar nötig, wenn der Euro überleben soll. Deutschland ist zu billig im Vergleich zu den anderen Ländern der Euro-Zone, aber...
Verstehen wir Sie richtig: Kräftige Lohnerhöhungen hierzulande sind gut, weil sie den Euro zusammenhalten?
Sinn: ...aber es kommt auf den Grund für die Lohnerhöhungen an. Setzt der Staat die Löhne hoch, droht eine Stagflation, also eine Kombination von Stagnation und Inflation. Das strahlt dann auch auf die Krisenländer ab, weil diese weniger Produkte nach Deutschland liefern können. Steigen die Löhne dagegen als Reaktion auf eine Erhöhung der Nachfrage nach Arbeitskräften, geht das in Ordnung. Deutschland benötigt eine nachfragegetriebene Inflation, die von einem Investitionsboom ausgelöst wird. Ein solcher Boom findet oder fand ja statt. Die Sparer trauen sich nicht mehr aus Deutschland heraus und flüchten in deutsches Betongold, was einen Bauboom ausgelöst hat. Aber die europäische Politik tut leider alles, die Ersparnisse wieder aus Deutschland herauszulocken zu Orten, wo es eigentlich nicht mehr hinwill.
Fratzscher: Deutschland ist nicht zu billig im Vergleich zu den anderen Ländern der Euro-Zone. Deutsche Unternehmen stehen mehr mit Unternehmen aus den USA, Südkorea und Japan im Wettbewerb als mit Unternehmen aus Portugal oder Spanien. Zudem sollten wir die Frage der Wettbewerbsfähigkeit nicht allein auf die preisliche Dimension verengen. Deutschland ist nicht erfolgreich, weil es billig ist, sondern weil unsere Unternehmen mit qualitativ hochwertigen Produkten Nischen auf dem Weltmarkt besetzen.
Davon haben die Arbeitnehmer hierzulande kaum etwas gespürt, die Reallöhne sind jahrelang gesunken.
Fratzscher: Ein Grund dafür ist unsere geteilte Wirtschaft. Auf der einen Seite gibt es die sehr produktiven und exportstarken Branchen wie die Autoindustrie, den Maschinenbau und die Chemieindustrie, wo die Unternehmen sehr gute Löhne zahlen. Auf der anderen Seite stehen viele Dienstleistungssektoren, die wenig investieren und deren Produktivität niedrig ist. Dort stagnieren die Löhne zum Teil schon seit Jahren. Das ist eine Enttäuschung.
Sinn: Was Sie als Enttäuschung bezeichnen, war die Voraussetzung für die Beschäftigungsgewinne der vergangenen Jahre. Vor zehn Jahren hatten wir in Deutschland eine zu geringe Lohnspreizung und waren Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit von gering Qualifizierten. Das hat sich durch die Agenda 2010 geändert. Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder hat die Arbeitslosenhilfe für mehr als zwei Millionen Menschen auf das niedrigere Sozialhilfeniveau gesenkt. Dadurch waren die Menschen bereit, auch zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und zu niedrigeren Löhnen wurden mehr Jobs geschaffen. Anders als befürchtet hat dies die Einkommensverteilung nicht ungleicher gemacht, denn wer nicht genug verdient, kann Zuschüsse aus öffentlichen Kassen beanspruchen. So haben wir es geschafft, gering Qualifizierte in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihr Existenzminimum zu sichern. Die Bundesregierung betreibt die Rückabwicklung der Agenda.
Fratzscher: Da widerspreche ich Ihnen entschieden. Höhere Löhne bedeuten nicht zwingend mehr Arbeitslosigkeit. Investitionen und eine dynamische Produktivität führen sowohl zu höheren Löhnen als auch zu mehr Beschäftigung, auch für die Arbeitnehmer mit geringen Einkommen. Genau darum muss es auch der Wirtschaftspolitik gehen, und deshalb sollten wir den Mindestlohn nicht in Bausch und Bogen verdammen. Derzeit verdienen rund 4,5 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro in der Stunde. Studien zufolge könnte der Mindestlohn rund 200 000 Arbeitsplätze vernichten, auch wenn Vorsicht geboten ist, denn es kann keine zuverlässige Prognose geben. Für diese Betroffenen ist das eine Tragödie. Die Politik hat sich jedoch entschieden, dass ihr die Einkommenszuwächse für die restlichen 4,3 Millionen wichtiger ist. Ich habe für eine vorsichtigere und differenzierte Ausgestaltung des Mindestlohns plädiert. Nun sollten wir jedoch die politische Entscheidung akzeptieren und versuchen, zumindest die Risiken zu minimieren.
Sinn: Ich weiß nicht, woher Sie die Schätzung nehmen, dass der Mindestlohn nur 200 000 Jobs kostet. Andere Berechnungen deuten eher auf Arbeitsplatzverluste von 900 0000 hin. Bundesweit trifft der Mindestlohn 14 bis 15 Prozent der Arbeitnehmer, in den neuen Bundesländern sogar 20 Prozent. In ein paar Jahren wird man diejenigen verdammen, die ihn heute einführen. Wir schaffen uns wieder ein Proletariat, das Sozialhilfe-Karrieren von Generation zu Generation vererbt.
Fratzscher: Sie tun so, als hätten wir keine Möglichkeiten, die Risiken des Mindestlohns für die Arbeitsplätze zu begrenzen. Das Gros der Menschen, die heute weniger als 8,50 Euro verdienen, hat keinen Berufsabschluss oder eine unzureichende Ausbildung. Zudem muss die Politik handeln, um Ausweichreaktionen in Minijobs, Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit zu bekämpfen. Wir sollten also nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern an der Ausgestaltung arbeiten, um die Risiken zu reduzieren, auch wenn der Mindestlohn kurzfristig zweifelsohne Arbeitsplätze kosten wird.
Sinn: Der davon ausgelöste Lohnschub wird flächendeckend sein. Im Übrigen geht es aber nicht nur um diejenigen, die schon einen Job haben. Derzeit sind rund drei Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Das sind drei Millionen zu viel. Ich hätte mir gewünscht, dass man auf dem Weg der Agenda 2010 noch einen Schritt weiter gegangen wäre und die Lohnzuschüsse erhöht hätte. Die Marktlöhne hätten sich dann noch weiter ausspreizen können, bis die Arbeitslosigkeit verschwunden ist. Jetzt hat die Regierung die Weichen in die andere Richtung gestellt. Wenn deutlich wird, dass der Mindestlohn Jobs vernichtet, wird man den Arbeitgebern Lohnzuschüsse gewähren, damit sie die Kosten des Mindestlohns nicht in vollem Umfang tragen müssen.
Fratzscher: Sie gehen davon aus, dass die Märkte funktionieren und die Löhne die Produktivität der Arbeitskräfte widerspiegeln. Viele Unternehmen zahlen aber Löhne, die unter der Produktivität liegen. In diesen Fällen bewirkt der Mindestlohn, dass sich die Löhne der Produktivität annähern, ohne Arbeitsplätze zu gefährden. Zudem können die Unternehmen durch Investitionen die Produktivität ihrer Arbeitskräfte erhöhen. Eine Ausweitung staatlicher Transfers, wie Sie sie vorschlagen, kann keine langfristige Lösung sein, denn die Menschen, die ihr Lohneinkommen mit staatlichen Transfers aufstocken, können auch davon keine vernünftige Altersvorsorge aufbauen, und die Altersarmut wird weiter steigen.
Sinn: Dass die meisten Arbeitskräfte ihren Job trotz Mindestlohn behalten, heißt doch nicht, dass dieser unschädlich ist. Entscheidend sind die Grenzanbieter, also diejenigen, deren Produktivität unter dem Mindestlohn liegt. Die werden ihren Job verlieren und landen dann in der von Ihnen beklagten Altersarmut. Denen nutzt der höhere Lohn nichts, weil sie durch ihn ihren Job verlieren.
Die Bundesregierung plant auch die Rente mit 63 und die Begrenzung der Zeitarbeit. Dagegen deregulieren Krisenländer wie Spanien ihre Arbeitsmärkte, um sich wieder fit zu machen. Wird Deutschland zum nächsten Spanien?
Fratzscher: Die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft sind bei Weitem nicht so gut, wie viele dies glauben wollen. Unsere Wirtschaft ist in den vergangenen 15 Jahren nur sehr gering und in den letzten beiden Jahren nur um 0,4 beziehungsweise 0,7 Prozent gewachsen. In diesem Jahr dürfte die Rate bei knapp zwei Prozent liegen - eine Aufholreaktion nach zwei schwachen Vorjahren. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist schon länger schwach, wir haben eine der niedrigsten Investitionsquoten weltweit. Daher ist es problematisch, wenn wir jetzt das Rad der Reformen vor allem in der Rentenpolitik zurückdrehen. Ohne die Reformen hätten wir bis 2017 rund 20 Milliarden Euro Überschüsse in den öffentlichen Kassen. Das Geld könnten wir gut für Investitionen in die Bildung sowie die Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur gebrauchen.
Sinn: Die staatliche Infrastruktur in Deutschland verkommt, die Nettoinvestitionen sind seit Jahren negativ. Nach Artikel 115 Grundgesetz, der die Kreditaufnahme des Staates auf die Höhe der Investitionen begrenzt, hätten wir eigentlich gar keine Kredite mehr aufnehmen dürfen, sondern Schulden tilgen müssen. Wir vererben unseren Kindern einen mangelhaften Kapitalstock, hohe Staatsschulden und ungedeckte Forderungen aus der Euro-Rettung. Es zeigt sich, dass wir ein ausgewachsenes Demokratieproblem haben. Der Staat verteilt Geschenke an die älteren Wähler und vernachlässigt die Zukunft, weil die Kinder noch nicht wählen können. Es ist ein Konstruktionsfehler unseres Systems, dass die Eltern bei Wahlen kein Stimmrecht für ihre Kinder haben.
Fratzscher: Wir sollten unsere Staatsfinanzen nicht schlechtreden. Verglichen mit anderen Industrieländern, hat Deutschland durchaus Konsolidierungserfolge vorzuweisen. Seit 2012 erwirtschaften wir Überschüsse im Staatshaushalt. Das Problem besteht darin, dass wir die Oberschüsse zu wenig für Investitionen in die Zukunft und für zukünftige Generationen ausgeben. Wir sollten uns daher fragen, welche Staatsausgaben sinnvoll sind und welche nicht. Die Rente mit 63 und die Mütterrente hilft auch zu selten den Menschen, die am bedürftigsten sind.
Sinn: Die Mütterrente ist durchaus berechtigt. Unser Rentensystem benachteiligt diejenigen, die Kinder großziehen und dafür auf eine kontinuierliche Erwerbsbiografie verzichten. Die Schaffenskraft unserer Kinder wird in unserem Rentensystem sozialisiert. Die Mütterrente reduziert das Ausmaß der Umverteilung zulasten der Matter ein wenig und geht daher in die richtige Richtung. Die Rente mit 63 dagegen dreht die Agenda 2010 zurück und wird Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Beiträge Milliarden kosten. Das belastet die Wettbewerbsfähigkeit.
Wäre es nicht vernünftig, die staatliche Infrastruktur zu privatisieren, um den Staatshaushalt zu entlasten?
Fratzscher: Ich sehe da durchaus Potenzial. Weltweit werden 75 Prozent der Verkehrsinfrastruktur privat finanziert. Wir hängen in Deutschland noch der Vorstellung an, der Staat müsse die Infrastruktur finanzieren. Angesichts der Schuldenbremse, die wir uns verordnet haben, müssen wir von dieser Vorstellung Abschied nehmen.
Sinn: Ich halte die öffentlich-privaten Partnerschaften großenteils für Mogelpackungen. Dabei handelt es sich meistens um eine verdeckte Staatsverschuldung, weil der Staat für die Nutzung der Straße Leasingraten an das private Unternehmen zahlt, das die Straßen baut. Der Staat zahlt auf diese Weise mehr Zinsen, als wenn er sich direkt verschuldet, aber der optische Vorteil ist, dass er die Schulden nicht verbuchen muss.
Private Unternehmen könnten aber auch mit einer Maut die Finanzierung selbst übernehmen.
Sinn: Es spricht zwar viel für die Maut, aber sie allein kann die Kosten für den Bau von Straßen nicht decken. Um staatliche Zuschüsse wird man nicht umhinkommen. Private können Straßen nur bei Monopolpreisen rentabel betreiben. Die dürften aber kaum erwünscht sein.
Fratzscher: Sie unterstellen, dass der Staat die öffentlichen Güter genauso effizient betreiben und produzieren kann wie private Anbieter. In der Realität gibt es aber viele öffentliche Güter, die von Privaten effizienter betrieben werden als vom Staat. Deshalb machen öffentlich-private Partnerschaft durchaus Sinn.
Nicht nur beim Staat, auch bei den Unternehmen entwickeln sich die Investitionen zurück — und das schon seit den Siebzigerjahren, wenn wir die Phase der Einheit einmal weglassen. Wie kommt das?
Fratzscher: Die deutschen Unternehmen verfügen zwar über riesige Finanzreserven, aber sie investieren nicht in Deutschland, weil die europäische Krise für eine große Verunsicherung sorgt. Aber auch die Rahmenbedingungen in Deutschland sind schwächer geworden: Die Verkehrsinfrastruktur wird schlechter, Fachkräfte sind rar, und kein Unternehmen weiß heute, ob in zwei Jahren seine Energiekosten um 10, 20 oder 40 Prozent höher liegen werden. Das macht es enorm schwierig, zu planen, und setzt Anreize, eher im Ausland zu investieren.
Sinn: 36 Prozent der deutschen Exporte gehen aber nur in die Euro-Zone. Ich stimme aber zu, dass Deutschland wieder viel mehr im Inland investieren sollte. Das Geld, das ins Ausland wanderte, kommt häufig nicht mehr zurück.
Wie meinen Sie das?
Sinn: Die Banken in Nordamerika haben es verstanden, mit getürkten Finanzprodukten den Sparern der Welt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die deutschen Landesbanken haben da irrsinnig viel Geld verbraten, aber auch die HRE und andere private Banken. Das war sinnlos investiertes Kapital, da ist man in irgendwelche Finanzfallen hineingetappt, und das Geld ist weg. Auf der anderen Seite haben wir auch in Europa viel Geld vergeudet. Wegen minimaler Zinsgewinne haben Banken und Versicherungen das Geld der deutschen Sparer in Südeuropa angelegt - und dieses Geld bekommen wir ebenfalls zu einem großen Teil nicht zurück - wir haben viele Hundert Milliarden Euro Abschreibungen auf unsere Auslandsforderungen vornehmen müssen. Diese Fehlallokation ist durch den Euro noch bestärkt worden, weil er den Anlegern das Gefühl vermittelt hat, dass in der Währungsunion Banken und Staaten nicht pleitegehen können.
Fratzscher: Da bin ich 100-prozentig bei Ihnen. Seit 2000 haben wir 400 Milliarden Euro im Ausland verloren. Die Verantwortung dafür liegt jedoch in erster Linie bei uns Deutschen, und nicht bei anderen Ländern oder dem Euro. Zudem haben die europäischen Rettungsprogramme vor allem deutsches Vermögen geschützt.
Sinn: Das war der Bail-out, den es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Die ganze Rettungsarchitektur mit dem ESM und der Ankündigung der EZB, notfalls Staatsanleihen aufzukaufen, führt dazu, dass sich die Krisenländer noch weiter verschulden. Und das, ohne dass die Märkte nervös werden. Warum? Weil die Gemeinschaft dahintersteht. So lösen wir zwar für den Augenblick ein Problem, schaffen aber gleichzeitig ein viel größeres, das dann irgendwann nicht mehr beherrschbar ist. Wenn es dann knallt, knallt es richtig.
Fratzscher: Mitte 2012 ist es uns gelungen, die Abwärtsspirale in den Krisenländern umzudrehen. Die Finanzmärkte haben sich beruhigt, die Volkswirtschaften erholen sich langsam. Die meisten Länder haben ihre Hilfsprogramme erfolgreich abgeschlossen, und Kredite werden bereits seit 2012 wieder zurückgezahlt. Nicht alle, aber viele Rettungsmaßnahmen waren ein Erfolg.
Sinn: Die Kollektivierung der Anlagerisiken hat die Anleger veranlasst, sich wieder mit niedrigeren Zinsen zufriedenzugeben, und bei den niedrigen Zinsen verschulden sich die Krisenländer wieder mehr. Das schafft kurzfristige Nachfrageeffekte, die schnell verpuffen, dreht die Verschuldungsspirale indes nur noch schneller.
Fratzscher: Das sehe ich genau umgekehrt. Wir haben durch die Hilfsprogramme bisher eine tiefe Depression in Europa vermeiden können. Die Länder haben so Zeit bekommen, die richtigen Reformen umzusetzen.
Sinn: Gerade deshalb aber gibt es keine wirksamen Reformen!
Fratzscher: Das entspricht nicht der Realität. Es gibt viele erfolgreiche Reformen. Portugal und Irland kommen aus den Programmen heraus ...
Sinn: Sie kommen heraus, weil die Investoren von den Steuerzahlern anderer Staaten geschützt werden, ohne dass man sie gefragt hätte, nicht weil sie wieder wettbewerbsfähig sind. Portugal müsste um 30 Prozent billiger werden, um wettbewerbsfähig zu werden. Das Land hatte zwar angefangen, die Preise ein bisschen zu senken. Kaum wurden die Zügel etwas gelockert, stiegen die Preise wieder.
Wie erklären Sie sich dann, Herr Sinn, dass die Krisenländer inzwischen alle Leistungsbilanzüberschüsse haben — und das ohne Ausnahme.
Sinn: Das liegt am Kollaps der Wirtschaft und an den Zinsnachlässen durch die Rettungsschirme. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, dann haben die Exporte in keinem Land den Vorkrisentrend überschritten. Dagegen sind die Importe überall dramatisch eingebrochen, was eben daran liegt, dass die Wirtschaftsleistung eingebrochen ist. Das ist leider kein Zeichen für eine Gesundung, sondern genau das Gegenteil davon.
Fratzscher: Wir sollten anerkennen, dass Spanien zum Beispiel Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem umgesetzt hat, die noch weitreichender sind als die der Agenda 2010 in Deutschland. Die Länder müssen sicherlich noch weitere Reformen realisieren, aber es braucht Zeit, bis die Erfolge sichtbar sein werden. Und wir sollten etwas bescheidener sein: In Deutschland hat es fünf Jahre gebraucht, bis sich die Erfolge der Agenda 2010 ausgewirkt haben. Ich sehe keinen Grund, weshalb das in Spanien, Frankreich oder Irland anders sein sollte.
Sinn: Spanien hat eine Double-Dip-Depression erlebt. Die Industrieproduktion ist 30 Prozent unter Vorkrisenniveau, und die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent. Es hat um fünf Prozent real abgewertet, müsste aber um 30 Prozent abwerten, um wieder zu gesunden. Nur in Irland ist wirklich was passiert. Das Land hat seit 2006 bis heute um real 15 Prozent abgewertet. Als die Iren in die Krise kamen, gab es noch keine Rettungsschirme. Deswegen haben sie sofort schmerzhafte Reformen beschlossen. Das haben die Länder in Osteuropa, die ihre Währungen an den Euro gekoppelt hatten, aber keine Hilfen erhielten, genauso getan. Die südeuropäischen Länder dagegen, die nach der Lehman-Pleite gemeinsam in die Krise schlitterten, haben sich einfach das Geld gedruckt, das sie sich nicht mehr leihen konnten. Deshalb kamen die Reformen später.
Die Kardinalfrage ist doch, wie kommen wir von der immens hohen Staatsverschuldung herunter. Reichen Reformen aus, oder brauchen wir doch noch einmal einen radikalen Schuldenschnitt?
Sinn: Diese Länder kommen nur aus ihrer Krise heraus, indem sie die Löhne und Preise kräftig senken. Aber das passiert nur, wenn die Wirtschaft in der Flaute ist. Das wollen die Politiker natürlich verhindern, und deshalb werden sie versuchen, durch immer neue Schulden ein wenig Schein-Wachstum zu erzeugen. So steigen die Schulden immer weiter - und das ist keine Lösung. Was wir brauchen, ist ein großer Schuldenschnitt für die Staatsschulden, die Bankschulden und die Target-Schulden der Euro-Krisenländer. Darüber sollte auf einer großen Konferenz verhandelt werden. Nach einem solchen Schuldenschnitt können wir die Euro-Zone nach Regeln, die besser funktionieren als die alten, neu konstruieren. Und einige Mitglieder werden die Währungsunion dann auch verlassen müssen.
Fratzscher: Das wäre das beste Rezept, um ein Desaster zu verursachen! Ein Schuldenschnitt für Länder wie Italien oder Spanien ist der falsche Weg: Er würde unweigerlich zu einer tiefen Depression in Europa und auch in Deutschland führen. Es würde niemanden helfen und die wirtschaftliche Erholung um viele Jahre verzögern. Eine nachhaltige Entschuldung kann nur über eine weitere Konsolidierung der Staatsausgaben und über Wachstum gelingen.
Sinn: Die Politik hat leider kein Instrument, mit dem sie Wachstum erzeugen könnte.
Fratzscher: Deutschland hat dies nach 2000 gezeigt. Der Staat hat den Arbeitsmarkt reformiert, mehr Wettbewerb geschaffen und seinen Haushalt konsolidiert. Das alles hat mit dazu geführt, dass wir heute so stabil dastehen. Wenn Sie also sagen, die Wirtschaftspolitik ist irrelevant, dann stimme ich nicht mit Ihnen überein.
Sinn: Die Lohnsenkung selbst kommt aber nur durch eine vorangehende Flaute zustande. Diese Länder müssen erst durch das Tal der Tränen. Das ist unvermeidlich.
Fratzscher: Es gibt bessere Alternativen als die Strategie des „Gesundschrumpfens". Ohne Sparen und ohne Reformen geht es nicht, aber wir müssen auch über neue Wege nachdenken, um das Wachstum zu stärken. Es gibt Projektfinanzierungen von der Europäischen Investitionsbank, auch bilaterale Kredite können helfen, und es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, wie man Anreize an Unternehmen geben kann, damit sie investieren und Beschäftigung schaffen. Das ist der einzige Weg, aus der europäischen Krise herauszukommen. Wir brauchen Wachstum.
Sie beide sagen, Löhne und Preise müssen sinken, und tatsächlich geschieht Sinn: Eine allgemeine Deflation wäre schädlich. Die relative Preisänderung über Deflation in einzelnen Euro-Ländern ist dagegen Teil der nötigen Korrektur der Ungleichgewichte.
Sinn: Eine allgemeine Deflation wäre schädlich. Die relative Preisänderung über Deflation in einzelnen Euro-Ländern ist dagegen Teil der nötigen Korrektur der Ungleichgewichte. Wobei klar sein sollte, dass dies eine Belastung für die Gesellschaften ist.
Fratzscher: Ich sehe ein großes Risiko in einer Verstetigung der Deflationserwartung. Unternehmen investieren weniger, wenn sie erwarten, dass die Preise über die nächsten Jahre fallen werden. Denn dann sinkt die Rendite von Investitionen, der Realzins und die Schuldenlast wachsen. Das heißt dann auch weniger Beschäftigung, weniger Einkommen, weniger Wachstum, und damit entsteht eine Spirale, in der sich der Deflationsdruck verfestigt.
Sinn: Aber diese Spirale kann es doch gar nicht geben, solange es sich nur um eine Korrektur der relativen Preise in einem Teilgebiet der Währungsunion handelt. Irgendwann ist die Wettbewerbsfähigkeit wieder erreicht, und wenn die Preise dann noch weiter fallen würden, würde ja die Nachfrage überborden.
Fratzscher: Nein, die Nachfrage wird nicht überborden - im Gegenteil, eine solche Spirale führt zu einem weiteren Fall der Nachfrage, da noch mehr Menschen ihre Beschäftigung verlieren und die Einkommen weiter sinken. Eine solche Deflationsdynamik hat nichts Positives; sie zerstört permanent einen Teil der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft.
Sinn: Klar, aber es kann keine Spirale ins Bodenlose geben nach Art einer säkularen Stagnation wie in Japan. In einem Teil der Währungsunion kann das nicht sein, das könnte nur für eine ganze Währungsunion insgesamt gelten - und davon sind wir weit entfernt.
Fratzscher: Der Schaden einer Deflation gilt für jede Volkswirtschaft, egal, ob innerhalb oder außerhalb einer Währungsunion. Und das Risiko ist akut: Die Deflationserwartungen an den Finanzmärkten ist deutlich unter dem Ziel von zwei Prozent, selbst in Ländern wie Frankreich und Italien fällt ein Drittel der Güterpreise. Eine Verstetigung dieser Erwartungen hätte dann negative Auswirkungen auf das Wachstum in der Euro-Zone insgesamt.
Autor: Konrad Handschuh