Die griechische Krise ist eine bittere Lektion für die Länder Europas. Will ein Land mit Importen den Lebensstandard verbessern, kann es selbst mehr Güter produzieren und verkaufen, um sich das dafür nötige Geld zu verdienen. Aber es kann auch Schuldscheine oder Vermögenswerte verkaufen. Hat es eine eigene Währung, stößt der Versuch, Schuldscheine zu verkaufen, freilich schnell an Grenzen, weil sich die Gläubiger verweigern. Viele europäische Länder mussten deshalb in der Zeit vor dem Euro des Häufigeren abwerten, um die Exporte und den Verkauf von Immobilien zu beleben. Es waren zwar selten ganze Inseln, dafür aber ziemlich viele Ferienhäuser, die Griechenland, Italien, Spanien und Portugal damals versilbern mussten.
Heute interpretieren manche dieser Staaten ihre Mitgliedschaft im Euro-Währungsverbund als Recht, ihre Importe wieder verstärkt mit Schuldscheinen statt mit realen Gütern zu bezahlen. Weder sind sie bereit, ihren skeptischen Schuldnern höhere Zinsen zu bieten, noch wollen sie billiger werden, um auf diese Weise den Verkauf von Immobilien und Gütern aus laufender Produktion anzukurbeln. Sie verlangen von anderen EU-Staaten Notfallkredite, die ihnen der Markt nicht mehr gewähren will. Klammheimlich spekulieren manche darauf, später in den Genuss eines Schuldenerlasses zu kommen. Anders ausgedrückt: Anstatt eine Gegenleistung für die bereits importierten Handys, Flugzeuge und Autos zu erbringen, wollen sie einen Teil dieser Güter letztendlich geschenkt bekommen.
Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre lässt sich dieses Ansinnen nur mit einem neuen Stabilitätspakt durchkreuzen, der eiserne Schuldendisziplin erzwingt. Nötig sind modifizierte Schuldenregeln, saftige Strafen und vor allem neue Verfahrensregeln, die diese Strafen automatisieren und dem politischen Einfluss entziehen. Konkret sollte Folgendes geschehen:
- Die erlaubte Obergrenze für die Defizitquote (Budgetdefizit in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) sollte in inverser Beziehung zur Schuldenquote (Gesamtschuldenstand in Relation zum BIP) stehen, um frühzeitig Anreize zur Schuldendisziplin zu setzen. So könnte man festlegen, dass die maximal zulässige Defizitquote für je zehn Prozentpunkte, um die die Schuldenquote von der Maastricht-Grenze von 60 Prozent abweicht, um einen Prozentpunkt von der Drei-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes abweicht. Deutschland, das am Jahresende 2009 eine Schuldenquote von 73 Prozent aufwies, müsste dann beim Defizit unter 1,7 Prozent bleiben. Dänemark mit seiner Schuldenquote von 34 Prozent wären bis zu 5,6 Prozent erlaubt. Ungeachtet dessen sollten alle Länder verpflichtet bleiben, die Schuldenquote generell unter 60 Prozent zu halten.
- Je nachdem, wie stark einzelne Staaten die Schuldenregeln verletzen, sollte eine progressiv gestaffelte EU-Steuer auf den jeweiligen nationalen Schuldenbestand verhängt werden, die sich an den Zinsaufschlägen orientiert, die die Kapitalmärkte in der Vor-Euro-Zeit verlangt hatten. Im Euro-Verbund darf es für das einzelne Land relativ zum jeweils stabilsten Land nicht billiger sein, sich exzessiv zu verschulden, als vor der Einführung des Euro. Der Euro-Verbund soll zwar die Kosten des Schuldendienstes im Durchschnitt der Länder verringern – nicht jedoch speziell die Kosten der unsoliden Länder.
- Um eine sich selbst verstärkende Schuldenfalle zu verhindern, sollten die Strafen in Form von marktüblich verzinsten, langfristigen Pfandbriefen entrichtet werden, besichert mit privatisierbarem Staatsvermögen. Die Pfandbriefe sollten nach den neuen EU-Schuldenregeln nicht zur Staatsschuld gehören.
- Alle Regeln sollten so eindeutig definiert werden, dass die europäische Statistikbehörde Eurostat die Strafen berechnen kann. Diese Behörde muss zudem eine direkte Kontroll- und Weisungsbefugnis gegenüber den nationalen Statistikbehörden erhalten. Eine vorsätzliche Fälschung von Zahlen, wie sie Eurostat dem obersten Rechnungshof Griechenlands attestierte, wäre dann nicht mehr möglich.
- Es sollte eine europäische Staatsanwaltschaft eingerichtet werden, die Pflichtverletzungen der nationalen Statistikämter und von Eurostat selbstständig verfolgt und vor den Europäischen Gerichtshof bringen muss.
- Erhält ein Land am Markt keine Kredite mehr, sollten die anderen EU-Länder bilaterale Beistandskredite gewähren, deren mit Zins und Zinseszins akkumulierter Gesamtwert im Laufe der Zeit zehn Prozent des BIPs des betreffenden Landes nicht überschreiten darf. Diese Kredite müssen ebenfalls als Pfandbriefe ausgestaltet und mit einem für diese Wertpapiere üblichen Zins ausgestattet werden. Dieser niedrige Zins impliziert keine Subventionierung, weil die Pfandbriefe sichere Papiere sind. Auch wenn sie durch ein Land begeben werden, das die Schuldenregeln verletzt hat. Allerdings gilt dies natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die EU einen Weg findet, die Pfandbriefe gegen ein einseitiges Moratorium durch das Schuldnerland zu schützen.
- Ein EU-Land, das trotz dieses Kreditrahmens zahlungsunfähig wird oder sich innerhalb von zehn Jahren fünfmal oder häufiger nicht an die vereinbarte Defizitregel hält, muss die Währungsunion verlassen.
Wenngleich die neuen Regeln eine Änderung der europäischen Verträge voraussetzen, können sie bereits bei Griechenland praktiziert werden, weil dessen Hilfsbedürftigkeit erst noch einstimmig festgestellt und die Bedingungen für die Vergabe der Notfallkredite noch definiert werden müssen. Die EU sollte die Zeit bis zur Ultima Ratio nutzen und die Verhandlungen zum neuen Stabilitätspakt vorantreiben. Denn nur wenn die EU ein Exempel statuiert, kann man hoffen, dass die Schuldenregeln befolgt werden.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel „Neuer Pakt für Europa“, Wirtschaftswoche, Nr. 15, 12. April 2010, S. 43; ebenfalls abgedruckt in The Wall Street Journal, 20. April 2010.