ifo Standpunkt Nr. 143: Die gefährliche Dimension der Bankenunion

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 15. Februar 2013

Bei seiner Debatte über die Bankenunion hat der Deutsche Bundestag mit Ausnahme des Grünen-Abgeordneten Schick nicht den Eindruck erweckt, dass er sich auf der Höhe der Zeit befindet und die Tragweite der europäischen Entscheidungen begreift. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit und offenbar auch vom Bundestag hat die Europäische Kommission dem Europaparlament im vergangenen Herbst eine neue Direktive zur zukünftigen Bankenunion vorgelegt, welche die Abwicklung insolventer Banken rechtlich regeln soll. Der 170 Seiten lange Entwurf enthält bei genauem Studium gefährliche Schutzversprechen zugunsten der Bankengläubiger in Südeuropa, die den europäischen Steuerzahler vermutlich Hunderte Milliarden Euro an Banksubventionen kosten werden.

Nach der Ankündigung der Europäischen Zentralbank (EZB), wieder unbegrenzt Staatspapiere zu kaufen, wird damit ein zweiter großer Schritt in Richtung Kollektivierung der Schulden Südeuropas vorbereitet. Die Kapitalmärkte werden beruhigt, indem den Anlegern, die ihr Geld den Banken geliehen haben, über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein glaubhafterer Zugriff auf das Portemonnaie der Steuerzahler der noch gesunden Länder Europas gewährt wird, als das bislang der Fall war. Die Kollektivierung der Lasten der Schuldenkrise wird Europa indes nicht guttun, denn sie unterminiert die Allokationsfunktion des Kapitalmarktes und ist verteilungspolitisch nicht zu rechtfertigen.

Die Schutzversprechen sind deshalb so glaubhaft, weil die EZB, die eine entscheidende Rolle bei den Entscheidungen über die Bankenrettung spielen wird, sich mit jeder Rettungsaktion selbst schützt. Sie hat im Umfang von knapp 900 Milliarden Euro Sonderkredite zur Finanzierung von Zahlungsbilanzdefiziten an die Banken der sechs Krisenländer ausgegeben, die, wie der Bundesbankpräsident in einem Brief an Präsident Mario Draghi monierte, nur schlecht besichert sind (Target-Kredite). Die EZB ist selbst Teil des Problems, das sie mit den Mitteln des ESM gelöst haben möchte. Müsste sie die Sonderkredite abschreiben, weil die Banken pleitegehen, wäre sie selbst pleite. Sie hat daher jeden Anreiz, ihre neue Rolle als Aufseherin über die Banken so zu nutzen, dass Bankpleiten mit den Mitteln des ESM verhindert werden. Sie rettet sich damit selbst.

Dass die Gläubiger der Banken und damit die EZB geschont werden sollen, erscheint mittlerweile abgemacht. In Paragraph 52 des Kommissionsvorschlags über den europäischen Rahmen für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten heißt es in wörtlicher Übersetzung, wenn auch reichlich nebulös: “Das ,Bail-in'-Instrument, das der Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit des Kreditinstituts dient, soll den Wert der Forderungen der Gläubiger maximieren, die Marktsicherheit erhöhen und die Parteien absichern. Um die Investoren und Marktpartner abzusichern und seine Auswirkungen zu minimieren, muss die Möglichkeit geschaffen werden, das ,Bail-in'-Instrument bis zum 1. Januar 2018 nicht anzuwenden.” “Bail-in” bedeutet, dass die institutionellen Gläubiger einer Bank den Teil der Verluste der Bank tragen, der über das Eigenkapital hinausgeht. Wenn die Gläubiger der Bank als Finanzinvestoren gegen das Risiko eines “Bail-in” geschützt und der Wert ihrer Forderungen maximiert werden soll, muss jemand anderes diesen überschüssigen Verlust tragen. Dieser Jemand wird der europäische Steuerzahler sein.

Nach dem EU-Gipfel vom 29. Juni 2012 soll der neue Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit seiner Kapitalausstattung von 700 Milliarden Euro zur Deckung der Verluste eintreten, die europäische Banken erleiden, sobald eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht eingerichtet ist. Auch wenn der ESM im Gegenzug Bankaktien erhält, wird er doch faktisch Geschenke an die Banken und ihre Gläubiger verteilen, denn die Verluste werden das bisschen Eigenkapital, über das die Banken verfügen, in sehr vielen Fällen übersteigen. Nach Schätzung der spanischen Notenbank sind 11 Prozent der Kredite der spanischen Banken an die Privatsektoren faul. Das sind für sich genommen bereits 5,3 Prozent der aggregierten Bilanzsumme der Banken oder die Hälfte des eingezahlten Eigenkapitals und der Rücklagen. Dazu kommen vermutlich noch Abschreibungen auf viele andere Anlagen der Banken. Diese Zahlen lassen erahnen, um was es wirklich geht. Die Bankensysteme stehen am Rande der Pleite, und die Gläubiger der Banken können ihr Geld nicht zurückbekommen, wenn man nicht andere Leute findet, die anstelle der Banken zurückzahlen. Die Schulden der Banken aus den sechs am stärksten von der Krise betroffenen Staaten summieren sich auf insgesamt 9.400 Milliarden Euro. Diese Zahl ist fast dreimal so groß wie die Summe der jeweiligen Staatsschulden, die sich auf 3.500 Milliarden Euro beläuft. Sogar ein relativ kleiner Anteil dieser Summe wäre verglichen mit der Kapazität des ESM riesig.

Wir sehen folgende Probleme auf dem Weg, auf den sich die Eurozone nun auf Drängen der EZB und der EU-Kommission begibt:

Erstens führt die Umwälzung der Abschreibungsverluste auf die Steuerzahler zu einer Destabilisierung der bislang noch gesunden Euroländer. Die Ankündigung der Ratingagentur Moody's, eine Herabstufung der Ratings der Niederlande, Luxemburgs und Deutschlands in Erwägung zu ziehen, kann hierfür ebenso als Indiz gewertet werden wie die seit Krisenbeginn auf das Zehnfache angestiegenen Risikoaufschläge auf Credit-Default-Swaps zur Versicherung gegen eine mögliche Insolvenz Deutschlands. Der Kommissionsvorschlag zur Bankenabwicklung wird in der Öffentlichkeit als ein Mittel dargestellt, eine Brandmauer zum Schutz der südlichen Euroländer zu errichten, doch in Wahrheit eröffnet er einen Brandkanal, der es den Flammen ermöglicht, sich in die Budgets der noch gesunden Euroländer hineinzufressen.

Zweitens wird eine weitere Belastung der Steuerzahler existierende Ressentiments schüren und Unfrieden in Europa stiften. Unfrieden kennzeichnet stets das Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern, aber er wird zumeist durch das Privatrecht sublimiert. Mit dem Vorschlag der EU wird das Problem, das Gläubiger und Schuldner miteinander haben, nun aber auf die staatliche Ebene gehoben und zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses zwischen den Völkern gemacht. Das wird das europäische Einigungswerk unterhöhlen.

Drittens wird die Schonung der Gläubiger der Banken dramatische Umverteilungswirkungen haben. Typischerweise konzentriert sich der Besitz der europäischen Bankaktien und der der Bankenschulden auf die reichsten 5 Prozent der Haushalte, und diese Haushalte befinden sich zu einem großen Teil auch außerhalb der Eurozone. Sie nicht an den Verlusten zu beteiligen, kommt einer riesigen negativen Vermögensteuer gleich. Der Reichtum der Vermögenden wird zu Lasten der Steuerzahler, Rentner und Sozialhilfeempfänger der Eurozone gesichert.

Viertens senken die staatlichen Garantien die Finanzierungskosten für die Banken. Das führt nicht nur dazu, dass ein aufgedunsener und übermäßig gehebelter Bankensektor erhalten wird, sondern perpetuiert die übermäßig riskanten und fragwürdigen Investitionen dieser Banken. Eine solche Fehlallokation von Kapital behindert die Erholung der europäischen Wirtschaft und lähmt das langfristige Wachstum.

Fünftens misst die EU-Kommission mit zweierlei Maß. Sie hatte recht, als sie vor etwa zehn Jahren den deutschen Landesbanken den Schutz der Gewährträgerhaftung des Staates und damit das Privileg entzog, sich zu niedrigen Zinsen verschulden zu können. Die Auffassung der Kommission, dass die Gewährträgerhaftung gegen das Beihilfeverbot verstoße und die Kapitalallokation in Europa verzerre, war korrekt. Dass nun aber dieselbe Kommission faktisch eine Gewährträgerhaftung der Staatengemeinschaft für die Banken Südeuropas vorschlägt, ist grotesk.

Das alles hat im vergangenen Sommer 480 deutschsprachige Ökonomen veranlasst, zwei getrennte, aber in ihrem Kern gleichlautende Aufrufe gegen die gemeinschaftliche Absicherung der Bankenschulden zu unterzeichnen. Die Ökonomen schlugen Debt-Equity-Swaps vor, also einen Umtausch von Bankenschulden in Eigenkapital, und sofern das Eigenkapital nicht reichen würde, die Verluste zu decken, verlangten sie, diese Verluste den Gläubigern der Banken anzulasten, weil sie über das nötige Vermögen verfügen und die Investitionsentscheidungen ja selbst getroffen hatten. Als auch wir damals diese von Kollegen initiierten Aufrufe unterzeichneten, wussten wir nicht, wie weit die EU-Kommission gehen würde. Der aktuelle Vorschlag zur europäischen Bankenabwicklung übersteigt unsere schlimmsten Befürchtungen.

Ohne Zweifel ist die Einrichtung einer zentralen Aufsicht notwendig, um die europäische Bankenkrise einzudämmen und neuen Krisen vorzubeugen. Aber die Aufsichtsbehörde braucht dafür kein Geld. Ihr sollten vielmehr bindende Regeln zur Beteiligung der Eigentümer und Gläubiger an den Verlusten an die Hand gegeben werden. Ohne eine effektive und substantielle Beteiligung des Privatsektors wird man die europäische Schuldenkrise auch weiterhin nicht in den Griff bekommen. Nötig ist eine klare Regel zur Beteiligung der Gläubiger im Umfang des negativen Eigenkapitals, das sich errechnet, wenn man alle Bilanzpositionen zu Marktpreisen bewertet. Sollte die Politik stattdessen den Lobbys der Banken und Gläubiger nachgeben und der Kommissionsvorschlag vom Europäischen Parlament ohne grundlegende Änderung akzeptiert werden, werden sich die Steuerzahler und Bürger Europas einem immer weiter wachsenden öffentlichen Schuldenberg gegenübersehen und eine Dekade der wirtschaftlichen Stagnation durchleben. Nur ein starker öffentlicher Druck auf die Europaparlamentarier kann diese Gefahr noch abwenden.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft,
Präsident des ifo Instituts 

Harald Hau
Professor für Wirtschafts- und Finanzwissenschaften an der Universität Genf

Erschienen unter dem Titel “Die gefährliche Dimension der Bankenunion”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 22. Januar 2013, S. 13 und in gekürzter Form unter dem Titel “The eurozone’s banking union is deeply flawed”, Financial Times, 29. Januar 2013, S. 9.