ifo Standpunkt Nr. 167: Plan B

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 9. Juni 2015

Spieltheoretiker wissen, dass sie auch den Plan B durchdenken müssen, denn er ist der Drohpunkt, von dem das Verhandlungsergebnis für Plan A maßgeblich abhängt. Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis arbeitet als Mann für das Grobe an Plan B, während Alexis Tsipras, sein Regierungschef, sich für Plan A zur Verfügung stellt. Das Rollenspiel gehört zur Strategie.

Die Vorbereitung von Plan B, dem Austritt aus dem Euro, hat zwei Elemente. Zum einen muss man provozieren, um die eigene Bevölkerung für den Fall eines Austritts zu emotionalisieren. Ohne die Eskalation des Streits wäre das griechische Volk nicht bereit, der Regierung während der schwierigen Zeit nach dem Austritt die Treue zu halten.

Zum anderen gilt es, die Kosten des Plans B für die Gegenseite in die Höhe zu treiben. Das tut die griechische Regierung, indem sie ihren Bürgern die Kapitalflucht erlaubt. Sie könnte die Flucht eindämmen, wenn sie sich konziliant zeigen würde, und sie könnte sie mit Kapitalverkehrskontrollen sofort unterbinden. Aber das würde ihren Drohpunkt verschlechtern.

Die Kapitalflucht heißt nicht, dass Kapital per Saldo ins Ausland wandert, sondern nur, dass privates gegen öffentliches Kapital getauscht wird. Griechische Bürger leihen sich bei ihren Banken Geld, das im Wesentlichen durch ELA-Notfallkredite (Emergency Liquidity Assistance der Europäischen Zentralbank) der griechischen Notenbank gegenfinanziert wird. Dann überweisen sie das Geld ins Ausland, was die Banken der Liquidität beraubt. Die Überweisung zwingt die Notenbanken der anderen Länder, ohne Kreditvergabe neues Geld zu schaffen und die Zahlungsaufträge zur erfüllen. Damit geben diese Notenbanken der griechischen Notenbank einen Überziehungskredit, wie er durch die sogenannten Targetsalden gemessen wird.

Tritt Griechenland aus dem Euro aus, so haben die griechischen Kapitalflüchtlinge ihr Vermögen im Ausland in Sicherheit gebracht (oder Auslandsschulden getilgt), während die ausländischen Notenbanken auf ihren Euro-Targetforderungen gegenüber der griechischen Notenbank sitzen bleiben. Letztere ist dann nämlich bankrott, weil ihre Aktiva auf abgewertete Drachmen lauten und der griechische Staat weder haften muss noch haften kann. Im Januar und Februar stiegen die griechischen Targetschulden um fast eine Milliarde pro Tag, und Ende April lagen sie bei 99 Milliarden Euro. Kein Wunder, dass Varoufakis und Tsipras auf Zeit spielen und sich weigern, eine echte Reformliste vorzulegen.

Ähnlich ist es übrigens, wenn griechische Bürger Bargeld von ihren Konten abrufen, um es im Koffer zu verstecken oder außer Landes zu schaffen. Auch dieses Geld, Ende April 43 Milliarden Euro, ist vor dem Umtausch gegen Drachme geschützt und verbessert den Drohpunkt der griechischen Regierung. Bei einem Austritt wird viel von diesem Geld für den Kauf von Gütern und Wertobjekten sowie für die Schuldentilgung in den Rest der Eurozone fließen und insofern zu einem realen Verlust für die Staatengemeinschaft werden.

Ermöglicht wurde diese Verbesserung des griechischen Drohpunktes durch die EZB, denn die Zweidrittelmehrheit im EZB-Rat, die für eine Begrenzung der ELA-Notfallkredite nötig gewesen wäre, kam nie zustande, obwohl diese Kredite mit einem Gesamtvolumen von mittlerweile 81 Milliarden Euro die Haftungsmasse der griechischen Notenbank, die bei etwa 41 Milliarden Euro liegt, schon lange überschritten haben. Die Notfallkredite haben die Banken trotz der Kapitalflucht liquide gehalten und der griechischen Regierung die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen erspart.

Allerdings hört man, dass die EZB den ELA-Krediten nun doch bald einen Riegel vorschieben wird. Sie hat sich bislang damit herausgeredet, dass die ELA-Kredite durch Pfänder gesichert seien, obwohl die Qualität dieser Pfänder vielfach unterhalb der Note BBB– lag, also nicht dem Investment Grade entsprach. Aber nun scheinen ihr doch Bedenken zu kommen. Zieht die EZB die Reißleine, wird Bewegung in die Verhandlungen kommen, weil die griechische Regierung ihren Drohpunkt durch Abwarten nicht mehr verbessern kann. Das macht aber nichts, denn auch so ist es ihr bereits gelungen, eine, gemessen an den Umständen, sehr gute Verhandlungsposition aufzubauen. Dank der Unterstützung durch die EZB wird sie eine Kombination aus Hilfsgeldern und einem Verzicht an Reformauflagen erstreiten können, die wesentlich günstiger für sie ist als alles, was sie zu einem früheren Zeitpunkt hätte erreichen können.

Und sollte es doch zum Grexit kommen, dann hat sie mit den Nettoüberweisungen von 99 Milliarden Euro ins Ausland und dem Euro-Bargeld in Höhe von 43 Milliarden Euro, zusammen immerhin 79 Prozent des BIP von 2014, die maximal mögliche Erstausstattung für den Übergang in das Drachme-Regime herausgeholt. Da sage einer, Varoufakis verstehe nichts von Politik.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen in gekürzter Fassung als “Arbeiten am Drohpunkt”, Handelsblatt, 9. Juni 2015, S. 48; sowie als “Varoufakis’s Great Game” bei Project Syndicate, 29. Mai 2015.