Der aktuelle konjunkturell bedingte Rückgang der Arbeitslosigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland seit den siebziger Jahren einen ungebrochenen Trend zu mehr Arbeitslosigkeit besonders bei den Geringqualifizierten gibt. Diese Arbeitslosigkeit bedeutet einen Verlust an Sozialprodukt und stellt einen sozialen Sprengsatz ersten Ranges dar. Da nach der Osterweiterung der EU Millionen von Osteuropäern auf die deutschen Arbeitsmärkte drängen werden, sind Probleme vorprogrammiert. Der Arbeitsmarkt verlangt strukturelle Reformen, und die Reform der Sozialhilfe ist dabei wahrscheinlich die wichtigste.
Die deutsche Sozialhilfe wirkt als Lohnuntergrenze, die die Schaffung von Jobs verhindert. Niemand ist bereit, für einen Lohn unter der Sozialhilfe zu arbeiten. Und kein Unternehmer stellt jemanden ein, dessen Lohn die Arbeitsproduktivität überschreitet. Menschen, deren Arbeitsproduktivität unter der Sozialhilfe liegt, finden deshalb prinzipiell keine Jobs. Sie stecken in der Armutsfalle.
Diese Wirkung der Sozialhilfe kann darauf zurückgeführt werden, dass sie als Lohnersatzleistung ausgestaltet ist, aber diese Ausgestaltung ist nicht gottgegeben. Statt das Geld unter der Bedingung der Untätigkeit auszuzahlen, könnte der Staat auch verlangen, dass der Begünstigte selbst ein Markteinkommen erwirbt, sofern keine unabweisbaren sozialen oder medizinischen Indikationen dagegen sprechen. Eine solche Form der Sozialhilfe wird unter dem Namen Earned Income Tax Credit in Amerika schon seit langem praktiziert. In Deutschland kürzt der Staat die Sozialhilfe um siebzig Pfennig bis zu einer Mark, wenn man selbst eine Mark mehr verdient. In Amerika gibt er - bis zu einem gewissen Plafonds - 40 Cents hinzu, wenn man einen Dollar mehr verdient.
Die deutsche Sozialhilfe zementiert eine Lohnuntergrenze. Die amerikanische macht die Löhne nach unten hin flexibel. Gestaltet man die Sozialhilfe so wie in Amerika, dann wird der Konflikt zwischen dem angestrebten Existenzminimum und der privatwirtschaftlichen Beschäftigung, der in Deutschland besteht, aufgehoben. Die Schwarzarbeit verliert ihre Attraktivität, und die Menschen sind bereit, auch zu niedrigem Lohn zu arbeiten, weil sie ja erst durch den Nachweis des selbst verdienten Geldes sozialhilfeberechtigt werden. In Amerika liegen die niedrigsten Löhne bei etwa 30 Prozent der durchschnittlichen Löhne, in Deutschland liegen sie bei etwa 70 Prozent. Kein Wunder, dass es in den USA ein Jobwunder gab, während den Deutschen die Arbeit ausging.
Die amerikanische Sozialhilfe unterscheidet sich allerdings nicht nur durch die Anreizstruktur von der deutschen, sondern auch durch das Niveau des gewährten Schutzes. Trotz der staatlichen Unterstützung ist das Einkommen der Geringqualifizierten wesentlich niedriger als in Deutschland. Will man das amerikanische Problem der "working poor" vermeiden, so muss eine wesentlich großzügigere Ausgestaltung des Systems als in den USA gewählt werden. Das hat zudem den Vorteil, dass die untersten Tariflöhne umso schneller ins Rutschen kommen, was neue Jobs für Geringqualifizierte entstehen lässt. Es gibt einen allgemeinen Wachstumsschub, und die verteilbare Menge an Gütern und Dienstleistungen steigt. Vermutlich steigt sogar der Zielerreichungsgrad der Sozialpolitik. Diejenigen Personen, denen man helfen will, verfügen über zwei statt nur ein Einkommen und haben bei gegebenen Sozialausgaben des Staates in der Summe aus Sozialhilfe und Arbeitseinkommen mehr Einkommen als bisher.
Zum Kern des US-Systems gehört eine erhebliche Härte gegenüber jenen, die, obwohl ihnen Arbeit zugemutet werden kann, keine Arbeit aufnehmen. Diese Härte steht dem Ziel, den Geringqualifizierten auf würdige Weise zu helfen, nicht entgegen, sondern erlaubt es im Gegenteil, dieses Ziel besser zu erreichen als bisher. Heute schafft die Sozialhilfe das Bewusstsein der Nutzlosigkeit, fördert Attentismus und erzeugt Gewöhnungseffekte für Kinder, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen. Weder einem sozial- noch einem christdemokratischen Menschenbild entspricht es, die notwendige Hilfe für die Geringqualifizierten an die Bedingung des Nichtstuns zu knüpfen. Es ist kaum zu glauben, dass wir trotzdem so verfahren.
Es ist nicht auszuschließen, dass der sofortige Übergang zu einem System des Earned Income Tax Credit Reibungsverluste mit sich bringt. Die Sozialhilfe sollte deswegen allmählich gesenkt werden, und gleichzeitig sollten die freiwerdenden Mittel für Lohnergänzungsleistungen genutzt werden. Sukzessive muss versucht werden, die Schutzbedürftigen aus dem Fernsehsessel an die Werkbank zu befördern und ihnen dort das angestrebte Einkommen zu sichern.
Das Problem des Übergangs liegt darin, die Akzeptanz für Niedriglohnjobs in der Privatwirtschaft zu steigern, ohne dabei zugleich die Schutzbedürftigen, die zunächst keinen Arbeitsplatz finden, in unzumutbare finanzielle Schwierigkeiten zu bringen. Zu Lösung dieses Problems muss der Staat befristete Jobs anbieten, damit jeder versorgt ist und keiner behaupten kann, er fände keine Stelle. Dafür ist ein Lohn zu zahlen, der einerseits niedrig genug ist, nicht mit der Privatbeschäftigung zu konkurrieren, und andererseits hoch genug, ein angemessenes Gesamteinkommen zu sichern.
Wer gar nicht arbeitet, obwohl ihm die Arbeit zugemutet werden kann, kann nur sehr wenig vom Staat beanspruchen. Wer die staatliche Beschäftigung annimmt, kann dafür zusätzlich einen Lohn bekommen, der ihn auf ein Gesamteinkommen in Höhe der jetzigen Soziahilfe hievt. Wer sich selbst einen Privatjob besorgt, erhält seinen Lohn und eine Lohnergänzungsleistung, die das Gesamteinkommen über das Gesamteinkommen im Falle der staatlichen Beschäftigung anhebt. Das sind die Grundregeln eines neuen, aktivierenden Sozialhilfesystems, das es den Menschen erlaubt, sich mit eigener Kraft aus der Armutsfalle zu befreien. Nur so können die Arbeitsmärkte für die New Economy, die Globalisierung und die Osterweiterung der EU fit gemacht werden.
Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Institut
Der Standpunkt erschien unter dem Titel "Befreiung aus der Armutsfalle" in der Wirtschaftswoche Nr. 4 vom 18. Januar 2001, S. 32.