ifo Standpunkt Nr. 34: Des Guten zu viel

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 15. Oktober 2002

Die Steuerreform des Jahres 2001 war ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des deutschen Wirtschaftsstandorts. Sie wird besteuerbare Gewinne internationaler Konzerne nach Deutschland lenken, Direktinvestitionen anlocken und solche Investitionen zurückdrängen, die nur aus Gründen der Steuerersparnis geplant werden. Das Steuersystem wird insoweit neutraler und verliert einen Teil seiner Lenkungswirkung. Investiert wird wieder dort, wo echte Gewinne winken.

Im Hochsteuerland Deutschland kann man nur Steuerreformen fordern, die Steuersenkungen und damit Steuerausfälle bringen. Nur dürfen die Steuereinnahmen nicht völlig verschwinden. Sonst kann der Staat seine Aufgaben nicht erfüllen. Daran gemessen kann die Reform von 2001 nicht zufrieden stellen, denn sie hat das Körperschaftsteueraufkommen, also die vor allem von großen Unternehmen bezahlten Steuern, nicht nur reduziert, sondern sogar negativ werden lassen. Wurden im Jahr 2000 noch Einnahmen von 23,6 Milliarden Euro erzielt, lagen sie im Jahr 2001 bei minus 426 Millionen Euro. Mit der Körperschaftsteuer hat der Staat die Kapitalgesellschaften im Jahr 2001 nicht besteuert, sondern subventioniert.

Niemand kann das gewollt haben. Wie kam es nur dazu?

Von geringerer Bedeutung war die angekündigte Freistellung der Veräußerungsgewinne, die die Unternehmen im Jahr 2001 veranlasst hat, Veräußerungen aufzuschieben, was schon im Vorfeld der Freistellung zu Steuerausfällen führte. Wichtiger war, dass viele Unternehmen noch in 2001 in der Lage waren, steuerlich wirksame Teilwertabschreibungen auf verlustbringende Beteiligungen vorzunehmen. Dazu gehörten auch spektakuläre Abschreibungen auf ausländische Beteiligungen, die faktisch auf einen fortgesetzten internationalen Verlustausgleich hinausliefen, obwohl dieser Verlustausgleich formal nicht vorgesehen ist. Auch die schlechte Konjunktur, die die tatsächlichen Gewinne und mit ihnen die Steuerpflicht hat schrumpfen lassen, hat natürlich zu den Einnahmeausfällen beigetragen.

Der Hauptgrund für diese Ausfälle liegt jedoch darin, dass die dem deutschen Steuerrecht eigene Verwendungsfiktion, nach der bei einer Ausschüttung von Gewinnen zunächst die am höchsten belasteten thesaurierten Gewinne zu verwenden sind, zu einem steuermindernden Ersatz alter durch neue Eigenkapitaltöpfe führte. Ein Unternehmen, das im Jahr 2001 Gewinne ausschüttete, die in den Jahren vor 1999 mit 45% Steuer belastet worden waren, und statt dessen neue Gewinne thesaurierte, wurde für die bloße Umschichtung, also ohne dass es netto zu einer zusätzlichen Thesaurierung von Gewinnen kam, mit einer Steuerersparnis von 15% des Umschichtungsvolumens belohnt. Die Thesaurierung der laufenden Gewinne änderte nichts an deren Steuerbelastung in Höhe von 25%, doch die Ausschüttung der alten, früher thesaurierten Gewinne reduzierte die Steuerlast von 45% auf 30%. Etwas geringer war der Vorteil bei der Ausschüttung von Gewinnen, die in den Jahren 1999 und 2000 mit 40% belastet waren. Die Regelung ist im Wesentlichen noch bis zum Jahr 2016 gültig.

Zwar war die Absenkung der Alt-Belastung auf 30% im Falle der Ausschüttung auch schon im alten Recht gegeben, doch erst die Umstellung auf einen Steuersatz von 25% bewirkte, dass die Ausschüttungsbelastung beim "Durchschütten" neuer Gewinne durch alte Eigenkapitaltöpfe faktisch auf 10% bzw. 15% abgesenkt wurde. Indem trotz der Steuersenkung die Möglichkeit aufrecht erhalten wurde, alte durch neue Eigenkapitaltöpfe zu ersetzen, wurde die Steuerreform, die ja eigentlich auf die Entlastung neu thesaurierter Gewinne abstellte, auf die thesaurierten Gewinne längst vergangener Perioden ausgedehnt. Praktisch der gesamte seit der Reform von 1977 thesaurierte Eigenkapitalbestand der deutschen Kapitalgesellschaften wurde im Nachhinein steuerlich entlastet. Es wurden echte Geschenke verteilt.

Die Geschenke an die Aktionäre waren unnötig. Wenn man das Wachstum fördern will, ist es ziemlich sinnlos, den Ersatz alten Thesaurierungskapitals durch neues mit einer Steuersenkung zu belohnen. Von Steuererleichterungen für den Eigenkapitalumtausch kann man keine positiven Effekte für das Wachstum erhoffen. Neue, Wachstum schaffende Investitionen lassen sich nur anregen, indem man die für sie verwendeten oder von ihnen selbst erwirtschafteten Gewinne entlastet.

Das Ziel der Steuerreform war gewesen, die Gewinnthesaurierung anzuregen. Die „Unternehmen und nicht die Unternehmer“ sollten gefördert werden, so die Devise. Doch verschiedene Aspekte der Übergangsregelung führten offenbar zu dem genauen Gegenteil, nämlich einer verstärkten Ausschüttung von Gewinnen nach der Reform. Dadurch wurde die Eigenkapitalbasis der Unternehmen geschwächt statt gestärkt, und die Krisenanfälligkeit der Unternehmen wurde erhöht.

Steuertechnisch gesehen wäre es ein Leichtes gewesen, die Reform anders zu gestalten. Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, die alten Steuern zu Definitiv-Steuern zu erklären, ähnlich wie es bei der Einführung des Vollanrechnungssystems im Jahr 1977 durch die Bildung des EK 03 geschah, aber dagegen hätte es rechtliche Bedenken gegeben. Alternativ hätte man die Regel aufstellen können, dass thesaurierte Gewinne, die an die Stelle alter Eigenkapitaltöpfe treten, zum selben Satz besteuert werden wie diese Töpfe und dass nur die zusätzlich thesaurierten Gewinne in den Genuss der Steuersenkung auf 25% kommen. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn man die Reihenfolge der Ausschüttung der thesaurierten Gewinne geändert hätte. Statt der Methode der Ausschüttung nach dem am höchsten belasteten Eigenkapital hätte man die Lifo-Methode - last in first out - vorsehen können. Dann wäre es den Unternehmen nicht möglich gewesen, das früher thesaurierte Eigenkapital durch bloße Umschichtungsoperationen zu entlasten, und bei einer normalen wirtschaftlichen Entwicklung mit wachsenden Eigenkapitalbeständen hätten sich die Steuergeschenke weitgehend vermeiden lassen.

Nun wird man sehen müssen, wie sich das Körperschaftsteueraufkommen trotz des beschriebenen Konstruktionsfehlers weiterhin entwickelt. Für das Jahr 2002 ist Schlimmes zu erwarten. In Bayern hatten frühzeitig die Alarmglocken geschellt, doch besonders hart hat es Nordrhein-Westfalen und Hessen getroffen, die im ersten Halbjahr zusammen über eine Milliarde Euro mehr an Körperschaftsteuer zurückzahlen mussten, als sie einnehmen konnten. Die Verhältnisse sind in den Bundesländern keineswegs einheitlich, und Bayern schreibt mittlerweile wieder schwarze Zahlen. Dennoch lag das „Aufkommen“ bei der Körperschaftsteuer im gesamten Bundesgebiet im ersten Halbjahr bei minus 1296 Millionen Euro. Im Vorjahr war im gleichen Zeitraum ein echtes Aufkommen von über zwei Milliarden Euro verzeichnet worden, obwohl zum Jahresende das schon erwähnte Minus herausgekommen war. Viele Unternehmen kommen offenbar erst jetzt auf die Idee, die neuen Möglichkeiten auszunutzen. Die Unternehmen haben für den steuermindernden Eigenkapitalersatz noch bis zum Jahr 2016 Zeit. Zwar entfällt ab dem Jahr 2002 bzw. 2003 die Möglichkeit, steuerlich wirksame Teilwertabschreibungen vorzunehmen und Verluste aus der Veräußerung von Beteiligungen an anderen Kapitalgesellschaften abzuziehen. Die Steuerausfälle des Jahres 2001 sind also insoweit nicht dauerhaft zu befürchten. Sie könnten sich aber aufgrund von ausschüttungsbedingten Steuerentlastungen wiederholen.

Die Steuerreform war gut, aber sie war des Guten zu viel. Anstatt den Eigenkapitalersatz zu entlasten, hätte man die extreme Verringerung der Arbeitsanreize, die von der deutschen Einkommensteuer ausgeht, korrigieren können. Und man hätte die Personengesellschaften, also vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, besser behandeln können. Das wäre für das Wirtschaftswachstum und die gesamtwirtschaftliche Effizienz klüger gewesen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Vgl. auch Die Zeit "Der Irrtum des Herrn Eichel - Zu viele Geschenke für die Konzerne" vom 1. August 2002, Nr. 32, S. 26 (Titel nicht vom Autor).