ifo Standpunkt Nr. 35: Warum der Euro wieder steigt

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 5. Juli 2002

Vor mehr als eineinhalb Jahren hat der Autor dieser Zeilen in einem Artikel im Handelsblatt (Nr. 214 vom 6. November 2000) erstmals die These vertreten und dann in verschiedenen Publikationen erhärtet (siehe www.CESifo.de), dass der Euro bis zu seiner physischen Einführung schwächeln und danach wieder ansteigen werde. So ist es gekommen. In Zyklen fiel der Euro bis zum Februar dieses Jahres, dem Zeitpunkt der offiziellen Beendigung des Währungsumtausches, und ab März zieht er wieder an, zuletzt bis fast auf die Parität mit dem Dollar.

Damals war als Hauptgrund die Flucht ausländischer, vornehmlich türkischer und osteuropäischer Halter von D-Mark-Bargeld in andere Währungen angeben worden. Die ausländischen Geldhalter, die noch 1995 etwa ein Drittel der D-Mark-Bargeldmenge hielten, hatten von der geplanten Abschaffung der D-Mark gehört, wussten aber nicht recht, was sie sich unter einem Euro vorstellen sollten. Jedenfalls hatten sie Angst, beim Umtausch übervorteilt zu werden, und wussten nicht einmal, wer den Umtausch vornehmen würde.

Außerdem war damals auf die Halter von europäischem Schwarzgeld hingewiesen worden, von denen zu vermuten war, dass sie kein Interesse daran haben würden, beim Umtausch am Bankschalter die Herkunft ihres Geldes offen zu legen.

Für die Theorie, für die es damals nur die anekdotische Evidenz gab, dass an den grenznahen Filialen der Bundesbank hohe Geldrückflüsse beobachtet wurden, liegen mittlerweile umfangreiche Indizien vor. So hatte die österreichische Notenbank in einer Umfrage unter Tausenden osteuropäischer Geldhalter noch im Mai 2001 festgestellt, dass sich von denjenigen, die sich eine Meinung gebildet hatten, mehr als vierzig Prozent n i c h t von der D-Mark in den Euro wechseln wollten. In einer Expertenbefragung des ifo Instituts hatte eine Mehrheit der Befragten zudem mitgeteilt, dass sich die Osteuropäer nicht hinreichend über die Umtauschmodalitäten informiert fühlten und über den Umtausch besorgt waren, was sich später wegen der hohen Umtauschgebühren der osteuropäischen Banken als berechtigt erwies.

Das wichtigste Indiz für die These war aber schon damals der sehr deutliche Rückgang im Wachstum der D-Mark-Bargeldmenge. Der Rückgang hatte im Jahr 1997 begonnen, kurz nachdem das Ende der D-Mark auf dem Gipfel von Dublin fest gemacht worden war, und damals hatte zeitgleich der Kursverfall der D-Mark begonnen.

In der Zwischenzeit beschleunigte sich der Rückgang des Wachstums, und ab dem Winter 2000/ 2001 begann die Bargeldmenge sogar absolut zu fallen. Bis zum Februar dieses Jahres war die umlaufende D-Mark-Bargeldmenge um 90 Mrd. Euro gegen den Trend gefallen, von 160 Mrd. Euro auf etwa 60 Mrd. Euro. Die Dramatik dieses Einbruchs stellt alle bislang beobachtbaren Geldmengenänderungen in den Schatten.

Parallel zu dieser Entwicklung ist auch die gesamteuropäische Euro-Bargeldmenge gefallen. Der Absturz gegen den Trend lag bis zum März bei etwa 120 Mrd. Euro. Zum Bargeldeinbruch, den die Bundesbank registrierte, kamen also noch etwa 30 Mrd. Euro bei den anderen Ländern hinzu. Wenn man nicht unterstellen will, dass Deutsche mehr Schwarzgeld als andere Europäer hielten, kann man diese Entwicklung nur so interpretieren, dass der DM-Bargeldrückfluss aus dem Ausland den Löwenanteil der Geldmengenreduktion erklärt.

Der Bargeldrückgang begann viel zu früh, als dass er mit irgendwelchen technischen Gegebenheiten bei der Umstellung der Währungen in Verbindung gebracht werden könnte. Vielmehr ist er darauf zurückzuführen, dass die Bundesbank angesichts der sinkenden Liquiditätspräferenz gezwungen war, zur Verteidigung ihres angekündigten Diskontsatzes die Geldmenge zu verringern und im Ausgleich die Menge verzinslicher Assets im privaten Sektor zu erhöhen, was u.a. durch Diskont- und Wertpapierpensionsgeschäfte bewerkstelligt wurde. Die solcherart vorgenommene passive Intervention konnte zwar den Zins erfolgreich verteidigen. Sie konnte aber die Kurssenkung nur abschwächen. Trotz der passiven Intervention blieb der Euro schwach und fiel zeitweilig sogar auf unter 85 Cent.

Diese Erklärungen für den Kursverfall des Euro wurden von vielen tatsächlichen oder vermeintlichen Sachverständigen zurückgewiesen. Erst wurde der Sachverhalt als solcher bestritten, und als das nicht mehr ging, wurde behauptet, die genannten Bargeldeffekte seien viel zu klein, als dass sie den Kurseinbruch beim Euro erklären könnten. Jedenfalls seien die involvierten Bestände viel kleiner als die selbst kurzfristig gemessenen Devisenströme. Diese Behauptungen treffen den Punkt nicht, denn es ist nicht der kurzfristige Umtauschstrom, sondern die längerfristige Bestandsnachfrage nach Währungen, die für die Wechselkursentwicklung relevant ist. Ströme gehen in beide Richtungen und erklären rein gar nichts, auch wenn die Praktiker des Devisenmarktgeschehens es glauben. Glücklicherweise liefert die Ökonometrie eine klare Antwort auf die Frage nach der Größe der beobachteten Effekte. Danach bedeutet eine Mindernachfrage nach Eurobargeldbeständen im Umfang von 100 Mrd. Euro einen langfristigen Kurseinbruch um etwa 30 Cent oder mehr. Das ist genug, um den tatsächlichen Kursverfall zu erklären, übrigens auch weit mehr als die zum Zwecke der Devisenmarktintervention bei der europäischen Zentralbank vorgehaltenen Devisenreserven.

Gelegentlich wird als Gegenargument gegen diese Überlegungen darauf hingewiesen, dass sich die Geldmenge M3 hätte verringern müssen, wenn es wirklich zu einer Absetzbewegung von der D-Mark gekommen wäre. Dieses Argument verkennt, dass die Intervention der Bundesbank sich innerhalb des breiten Geldaggregats M3 abgespielt hat. Der zum Zwecke der Zinsstabilisierung vorgenommene Austausch von Bargeld gegen Assets, die wie das Bargeld Teil von M3 waren, hat dieses Geldaggregat selbstverständlich nicht verändern können.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die europäische Zentralbank im Herbst letzten Jahres beschlossen hat, ihre M3-Geldmengendefinition zu ändern, weil in den letzten Jahren immer größere Teile der verzinslichen Komponenten dieses breiten Geldaggregats in die Hände von Ausländern gelangt waren. Nach den Informationen der EZB und einer noch weiter zurück führenden Rechnung ifo Instituts waren vom Januar 1999 bis zum September 2001 Assets im Wert von etwa 100 Mrd. Euro von dieser Korrektur erfasst. Dabei handelt es sich vermutlich um das Pendant der zum Zwecke der Zinsstabilisierung zurück genommenen Fluchtgelder.

Mittlerweile ist die Flucht vorbei, und die Trends drehen sich um. Seit März ist der Euro wieder im Aufwind, und zeitgleich hat die von der Bundesbank emittierte Bargeldmenge wieder zugenommen. Es ist alles spiegelbildlich so wie im Vorfeld der Umstellung. Der Euro eignet sich hervorragend für schwarze Geschäfte und findet nun auch in Osteuropa, der Türkei und sonst wo auf der Welt neue Freunde. Allmählich verdrängen Euro-Bargeldbestände wieder die fremden Währungen, die zwischenzeitlich in den Taschen der Geldhalter Platz gefunden hatten, und das Euro-Bargeld wird knapp. Der Euro-Kurs steigt, obwohl nun die EZB passiv interveniert, indem sie zum Zwecke der Verteidigung ihres Zinsziels neues Bargeld in die Wirtschaft pumpt.

Natürlich gibt es rivalisierende Erklärungen für die Stärke des Euro bzw. der Schwäche des Dollar. So wurde z.B. darauf hingewiesen, dass der sinkende Dollar das schwindende Vertrauen in die amerikanische Wirtschaft reflektiere. Diese Behauptung klingt zunächst plausibel, ist aber im Lichte der Umfragen zum Vertrauen der Investoren und Konsumenten abwegig. Nicht nur die Umfragen des ifo Instituts in Amerika, sondern auch viele andere Umfragen belegen ganz eindeutig, dass das Vertrauen in den Aufschwung in den USA wesentlich robuster als in Europa ist.

Auch die vielfach kolportierte These, im schwachen Dollar spiegele sich die Flaute der amerikanischen Aktien wieder, steht auf schwachen Beinen. Zwar ist der Dow-Jones-Index seit Jahresbeginn gefallen, doch der DAX und der Euro-Stoxx-Index sind viel stärker gefallen. Rela-tiv zu den europäischen sind also die amerikanischen Aktien in der fraglichen Zeit gestiegen, und das impliziert einen starken, nicht einen schwachen Dollar.

Nirgendwo ist der Glaube an falsche und völlig haltlose Theorien so verbreitet wie an den Devisenmärkten. Die vordergründige Plausibilität obsiegt stets gegenüber der ökonomischen Analyse. Sie kann häufig Punktsiege davontragen, weil falsche Theorien temporär wahr werden, wenn alle ihr Kaufverhalten daran ausrichten. Aber längerfristig siegen die Fundamentals. Die bis zur Euro-Umstellung fallende und danach wieder steigende Geldnachfrage der Osteuropäer und Schwarzgeldhalter gehört zur Gruppe solcher Fundamentals.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Warum der Euro steigt" im Handelsblatt Nr. 129 vom 9.7.2002, S. 8.