Rezension in der Sozialistischen Tageszeitung (nd) von Hans-Dieter Schütt:
Kein Zurück vom Rührei
Ökonom Hans-Werner Sinn zu Gast in Gregor Gysis Gesprächsreihe am DT
Die Schifferkrause hält er schon Jahrzehnte durch. Als liebte er den Sturm, die hohe Welle. Hans-Werner Sinn trägt den Seemannsbart, der durch Abraham Lincoln weltberühmt wurde, und er kennt sehr wohl den Wind, der von vorn kommt. Aber auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin tritt er an diesem Sonntagvormittag mit gemessener Vorsicht, kulturvoll scheu geradezu. Einer der prägenden Ökonomen Deutschlands. Konservativ beständig und gewohnt an Kontroversen. Zu Gast in Gregor Gysis Gesprächsreihe.
Sehr früh fällt der Name Karl Marx. Profitrate, Arbeitswerttheorie. Jeder Stichpunkt könnte aus dem Stand in die Vorlesung springen. Am Ende wird die kompromisslose Rationalität des Forschers und Analytikers – wie immer man über seine Ansichten denkt – einen Hauch sehr spezieller Kühle verströmt haben. Als habe sich just dort, wo jemand Klarheit in die Dinge bringen will, tatsächlich ein Spalt zum Motor der Welt aufgetan, aber du fühlst nurmehr ein verstärktes Ausgeliefertsein an undurchschaubare, unberechenbare Prozesse. Krisen, die sich recken; Blasen, die platzen; Kapitalströme, die mit- und weg- und hinunterreißen.
Aufgewachsen ist der 1948 Geborene im westfälischen Brake, zunächst vorwiegend bei der Großmutter, da die elterliche Wohnung zu klein war und Vater und Mutter arbeiten mussten, sie in einer Fahrradfabrik, er als Taxifahrer. Er war der einzige „seiner“ Volksschule, der aufs Gymnasium kam, „ich bin dankbar, dass das meine Eltern mittrugen, zu finanziell schwierigen Zeiten, da es darum ging, so schnell wie möglich einen Beruf zu lernen und Geld zu verdienen.“
Er war in seiner Jugend gleichzeitig Mitglied im Christlichen Verein Junger Männer und bei den „Falken“ der SPD. Sah Bilder von Albert Schweitzer in Lambarene und wollte daraufhin Missionar werden. „Aber ehrlich gesagt, reizten mich als Jungen mehr die Löwen und die Landschaft als der ethische Anspruch Schweitzers.“ Wurde 33-jährig Professor für Volkswirtschaft, lehrte in Stanford und Princeton, fühlte auf Posten in Kanada „die wissenschaftliche Befreiung vom Hierarchiedenken in Deutschland“. Das Münchener Ifo-Institut erhob er zu einer theorieprägenden Stätte. Nobelpreisträger Robert Solow lobte: „Er hat München zu einem der Weltzentren für Wirtschaftsforschung gemacht.“
Sinn hat seit jeher polarisiert, wurde von Linken und Gewerkschaften attackiert, weil er immer wieder von den Gefahren einer „konsumierenden Politik“ sprach, dazu gehöre „die Abschaffung der Atomkraftwerke, die Beherbergung von vielen Wirtschaftsmigranten aus Nicht-EU-Ländern, die Frührente und vieles mehr.“ Redet auch im Gespräch mit Gysi über die „Kreditblase im Süden Europas“, nur Zuschüsse hielten überall dort, wo es keine Wettbewerbsfähigkeit gebe, den Euro. Ein Pulverfass, so Sinn, deshalb sei es legitim, wenn ein Land wie Griechenland die Eurozone verließe. „Deutschland ist der Kaufladen, in dem sich die Welt bedient, wo sie aber nur die Hälfte bezahlen muss, weil die Bundesbank die andere Hälfte finanziert.“ Wahrscheinlich würden Macrons Pläne für die Euro-Zone in eine neue Schuldenkrise führen. „Wenn Deutschland für Schulden der Euro-Partner bürgt, können sich die Länder Südeuropas munter weiterverschulden. Langfristig könnte das die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Kontinents schwächen. „Aber freilich bleibe er „leidenschaftlicher Europäer“, und der Euro sei nicht rückgängig zu machen - „das Rührei kriegen Sie ja auch nicht mehr zurück in seine ursprüngliche Form.“
Auch den Mindestlohn hält Sinn für einen Fehler. „Er passt generell nicht in eine Marktwirtschaft. Spätestens im Abschwung wird er zum Hemmnis. Besser wäre doch, die Einkommen am unteren Rand durch viel höhere Lohnzuschüsse zu ergänzen.“ Merkel nennt er eine „kluge Schachspielerin der Politik“, die AfD eine Partei, „die seriös begonnen“ habe, das aber war’s dann. Dass nach dem Ende der DDR der Wert des Volkseigentums nicht auf die Bevölkerung aufgeschlüsselt und verteilt wurde, hält er noch immer für einen polit-ökonomischen Fehler bei der Wiedervereinigung – beschrieben im Buch „Kaltstart“, das er gemeinsam mit seiner Frau verfasste. Fürs Titelbild damals wurde ein „Trabant“ benötigt, Sinn kaufte ihn für tausend D-Mark und fuhr das Gerät eine beträchtliche Weile.
Ein Fazit seiner Laufbahn sei die Einsicht, dass es keinen Zweck habe, „Partikularinteressen zu bedienen“. Politiker seien gar zu „beratungsresistent“, sie fürchten die Erfordernisse des freien Marktes, „sie moralisieren lieber, weil sie Stimmen gewinnen wollen“. Wenn politische Korrektheit eingefordert werde, weil einem die Argumente ausgingen - „das finde ich unerträglich. In einer Gesellschaft mündiger Bürger müssen wir doch Sachverhalte offen diskutieren können. Ein Argument ist ein Argument. Punkt.“
Er sei, sagt Sinn, kein Betriebs-, sondern Volkswirt, „also gilt es nicht, Politiker und deren Betrieb, sondern das Volk direkt zu beraten, ihm Wissen zu vermitteln.“ Bekennt sich dazu, sogar für die „Bild“-Zeitung zu schreiben, „vereinfachen ist nicht schlimm, wenn man dabei nicht falsch wird“. Volkswirtschaft sei, so Sinn, „Analyse im Dienste des Gemeinwohls“. Der Ökonom beinahe doch in der Nähe des Missionars? Gelegenheit für Gysi, nach Gott zu fragen, Sinn wehrt das als „sehr intime Frage“ etwas ab, betont aber den „traditionellen, kulturbildenden Wert“ des Christlichen. Gysi nickt: Obwohl er Atheist sei, fürchtet er „eine gottlose Gesellschaft - denn keine Politik, kein Parteikonzept kann ethische Maßstäbe so transportieren, erwecken, festigen, wie es in religiöser Glaubensnähe möglich ist.“
Hans-Werner Sinn wirkt so souverän wie bescheiden. Er hat Lust auf Medien, sagt von seinen drei Kindern, sie machten „alles anders als die Eltern“. Als er von Marx sprach, fiel der Begriff von der „schöpferischen Zerstörung“. Das Lebenselixier des Kapitalismus. In immer neuen Ruinen rumort sofort neues Blühen. Marktwirtschaft for ever? Natürlich nicht, „aber Marktwirtschaft lässt sich nicht schön- und wegreden.“ Die Tragik der Träumer. Gysi sagt irgendwann leise: „Transformation.“ Sinn schweigt.
Der Vormittag war keine Lektion, aber auch kein Streitgespräch. Das bleibt der Kern von Gysis Gäste-Offerten: alle Auffassungen gelten lassen, ohne sofort mit Polemik zu antworten. Wanderungen auf fremden Lebenswegen - für die Selbstbereicherung: Geistes Spiel ist offen. Und Öffnung verhindert das Übel des geistigen Dogmas: Nie passt, was du siehst, und nie ist, was du denkst. Die Welt aber tickt anders. Von da kommt sie, die erwähnte Kühle.
Nachzulesen auf www.neues-deutschland.de.