ifo Standpunkt Nr. 91: Cuius regio eius religio

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 12. Februar 2008

Zu Weihnachten werden die Deutschen wieder fromm. Viele gehen zu Heiligabend in die Kirche, auch wenn sie im Rest des Jahres dafür keine Zeit finden. Aber in der Kirche sind sie dann getrennt wie eh und je. 31% der Bevölkerung in Deutschland sind Katholiken, und 31% sind Protestanten. Obwohl der Augsburger Religionsfrieden von 1555 bald ein halbes Jahrtausend her ist, richtet sich die Religion noch immer in erster Linie nach dem Wohnort. Cuius regio eius religio – wessen Region, dessen Religion - dieser Spruch gilt im Sinne einer empirischen Regelmäßigkeit nach wie vor.

Ungeachtet des Streits über den wahren Glauben konnten sich die Protestanten lange Zeit einbilden, dass sie insofern die bessere Religion haben, als sie wirtschaftlich erfolgreicher sind. Wie Max Weber das erklärte ist wohlbekannt. Da die Protestanten, insbesondere die Calvinisten, glaubten, dass Gottes Segen über den wirtschaftlich Erfolgreichen liegt, strengten sie sich besonders an, um diesen Segen dann mit ihrem Erfolg gegenüber ihren Mitmenschen zu beweisen. In der Tat ist das Durchschnittseinkommen der Protestanten in Deutschland auch heute noch höher als das Durchschnittseinkommen der Katholiken, und noch immer sind die protestantischen Regionen im Schnitt erfolgreicher als die katholischen.

Max Weber hatte seine Erkenntnisse aus den empirischen Studien gewonnen, die sein Schüler Martin Offenbacher in Baden angestellt hatte. Dabei ergab sich die positive Korrelation zwischen Erfolg und Protestantismus ganz eindeutig. Aber stimmt die Theorie, die jedem Deutschen in der Schule beigebracht wird, wirklich? Steckt hinter dieser Korrelation tatsächlich die protestantische Ethik?

Sascha Becker und Ludger Wößmann haben dazu nun Zweifel angemeldet. Sie arbeiten am ifo Institut und an der volkswirtschaftlichen Fakultät, wo Max Webers Lehrstuhl sich heute befindet. In einem CESifo Working Paper und in einer Habilitationsschrift sind sie der These Webers nochmals in aller Gründlichkeit nachgegangen. Dazu haben sie alte preußische Datensätze zur Wirtschaftstätigkeit, zum Analphabetentum und zur Wirtschaftskraft aus dem neunzehnten Jahrhundert und aus früheren Zeiten gesichtet, digitalisiert und mit den Methoden der modernen Ökonometrie im Hinblick auf die relevanten Korrelationen untersucht. Die Unterschiede zwischen den katholischen und evangelischen Regionen Preußens gaben ihnen bei weitem genug empirisches Material, um zu statistisch hoch gesicherten Erkenntnissen zu gelangen.

Herausgekommen ist eine neue Theorie zur Kausalität zwischen Religionszugehörigkeit und wirtschaftlichem Erfolg, die mit der protestantischen Ethik nichts zu tun hat. Statt der Ethik ist es schlichtweg die bessere Bildung der protestantischen Regionen, die die höheren wirtschaftlichen Erfolge erklärt.

Luther wollte nämlich, dass die von ihm ins Deutsche übersetzte Bibel tatsächlich gelesen wurde, und dafür musste er das Analphabetentum bekämpfen. Er wies die zum Protestantismus übergetretenen Fürstentümer an, neben den Kirchen auch Schulhäuser zu bauen, wo dann die Jungen und Mädchen ausgebildet wurden. Er schickte die Schar seiner Reformatoren regelmäßig aus, um die Arbeitsweise dieser Schulen zu kontrollieren, sozusagen als Schulinspektoren der ersten Stunde. Durch diese Politik gelang es ihm, das Bildungsniveau der protestantischen Gegenden dramatisch zu steigern. Der wesentlich höhere Bildungsstand, den die protestantischen Regionen noch im neunzehnten Jahrhundert hatten, war die Erklärung dafür, dass sich diese Regionen schneller industrialisierten und einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand erreichen konnten.

Dabei gab es von der Ethik keine Spur. Die Autoren testen dies ausführlich, indem sie Regionen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, doch mit gleichem Grad des Analphabetentums miteinander vergleichen. Von solchen Regionen gab es zwar nicht viele, aber doch einige, weil manchmal auch der katholische Herrscher von sich aus auf eine gute Schulbildung geachtet hatte. Es zeigt sich, dass die Religionszugehörigkeit in diesem Fall keinerlei Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg hatte. Der wirtschaftliche Erfolg war ausschließlich auf die bessere Bildung, und nicht etwa auf Unterschiede bei der Religionszugehörigkeit an sich zurückzuführen.

Um Weber gerecht zu werden, muss man anmerken, dass er bei der Entwicklung seiner These nicht speziell den Lutherischen Protestantismus, sondern eher den Calvinismus und einige holländische Sekten im Auge hatte, die die These von der Segnung der Tüchtigen tatsächlich vertraten. Die badischen Statistiken, auf die er sich bezog, beinhalteten in der Tat neben den lutherischen auch die reformierten Prostanten, die dem Calvinismus nahe standen. Dennoch weckt die Arbeit von Sascha Becker und Ludger Wößmann erhebliche Zweifel an der Theorie Max Webers, und auf jeden Fall belegt sie, dass im preußischen Staat die lutherischen Gebiete ausschließlich wegen ihrer besseren Bildung erfolgreicher waren als die katholischen.

Für Katholiken mag diese Erkenntnis keine Neuigkeit sein, denn ihnen waren Webers Thesen schon immer suspekt. Wie sollte denn auch das überwiegend katholische Bayern beeindruckt sein, wo doch gerade Bayern bei den Pisa-Tests besonders gut abgeschnitten hat. Aber die Protestanten müssen sich jetzt wohl doch von einem für sie angenehmen Geschichtsbild verabschieden. Unter dem Christbaum sind beide Religionen gleich, und die Unterschiede im Marktwert der Geschenke, ohnehin nur schnöder Mammon, haben, wenn überhaupt, mehr mit der Bildung der Eltern als dem Segen des Herrn zu tun.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Cuius regio eius religio", WirtschaftsWoche, Nr. 52, 21. Dezember 2007, S. 198; ebenfalls abgedruckt in Wiener Zeitung, 19.2.2008, S. 2.