Handelsblatt, 24./25./26. März 2023, Nr. 60, S. 12/13.
Kaum ein deutscher Ökonom hat die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland so viele Jahre geprägt wie Hans-Werner Sinn. Auch sieben Jahre nach seinem Ausscheiden als Ifo-Präsident mischt der 75-Jährige wortgewaltig mit. Dass er von Political Correctness nicht viel hält, macht die Gespräche mit dem streitbaren Wirtschaftswissenschaftler umso interessanter.
Herr Sinn, fünfzehn Jahre nach Ausbruch der bisher letzten Bankenkrise erlebt die Weltwirtschaft wieder Bankenpleiten in den USA und Europa. Wieder muss der Staat rettend eingreifen. Überrascht Sie das – und droht eine zweite Finanzkrise?
Die Finanzkrise ist ja schon da. Deshalb greifen die Zentralbanken der westlichen Welt in einer konzertierten Aktion so energisch ein. Es hat mich nicht wirklich überrascht. Ich habe immer davor gewarnt, dass ein Rückwärtsgang bei der Null- und Negativzinspolitik schwierig bis unmöglich ist, weil es dann zu Abwertungen der Bankaktiva kommt.
Nun, die Zinswende hat doch längst stattgefunden und viele Monate bis zum jetzigen Bankencrash sogar relativ geräuschlos …
Die Zinswende war behutsam. Die Realzinsen, also die Zinsen nach Abzug der Inflation, sind noch immer stark negativ. Aber selbst die bisherigen vorsichtigen Zinsschritte bringen die Banken in Schwierigkeiten.
Immerhin hat die EZB in dieser kritischen Lage den Leitzins um einen halben Prozentpunkt angehobend. Ist das nicht ein Signal, wie ernst die EZB inzwischen die Inflation nimmt?
Schon. Ich vermute aber, dass sie von der Pleite der Silicon Valley Bank überrascht wurde und die längst vorbereiteten Beschlüsse nicht kippen wollte. Tatsächlich dürften wir in Europa bereits jetzt den Höhepunkt der Leitzinsanhebung erreicht haben, weil die Banken mehr Wertverluste nicht verkraften könnten.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte zuletzt, es gebe keinen Zielkonflikt zwischen Inflationsbekämpfung und Finanzstabilität ...
Da irrt sie. Die Banken kommen in Schwierigkeiten, bevor die Inflationsbremsen richtig greifen. Wegen der Unterkapitalisierung der Banken wird die EZB ihre Inflationsbekämpfung jetzt der Bankenrettung opfern. Die Kerninflationsrate, also die Inflationsrate ohne die Energiepreise, ist in der Euro-Zone bis zuletzt kräftig gestiegen und liegt bei 7,5 Prozent für Deutschland. Und dennoch bebt das Bankensystem bereits.
Im Unterschied zu 2008 geht es heute nicht um toxische, hochspekulative Subprime-Papiere, sondern um Staatsanleihen. Ist es nicht doch eine völlig andere Krise?
Ja und nein. Anders als vor fünfzehn Jahren stehen windige Finanzprodukte nicht im Mittelpunkt des Geschehens. Die Wertverluste bei Altpapieren, die durch Zinserhöhungen erzeugt werden, wirken aber letztlich ähnlich wie Zahlungsausfälle. Es dominiert heute das Zinsänderungsrisiko nach einem Jahrzehnt der Null- und Negativzinspolitik, die vor allem über Staatspapierkäufe umgesetzt wurde. In der Euro-Zone kamen 82 Prozent des Überhangs der Zentralbankgeldmenge, der in den letzten fünfzehn Jahren, also seit Lehman, geschaffen wurde, durch Staatspapierkäufe zustande. Es war eine Illusion zu glauben, dass es aus einer solchen Politik einen Ausweg zu normalen langfristigen Zinsen geben würde.
Was wäre bei den vielen Krisen, die die Weltwirtschaft seit der Finanzkrise erlebt hat, die Alternative gewesen, als das System über geldpolitische und fiskalpolitische Rettungspakete zu stützen?
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise wurde spontan alles richtig gemacht, doch hat man es anschließend versäumt, die Banken zu zwingen, mit wesentlich mehr Eigenkapital zu arbeiten. Fast alle Banken sind unterkapitalisiert, wenn man einmal die Maßstäbe an sie legt, die sie selbst an ihre Kunden legen. Und natürlich wurden in den nachfolgenden Krisen sehr viele Fehler gemacht.
Welche Fehler sind das konkret?
Nicht nur die Null- und Negativzinspolitik, die durch die Wertpapier-Kaufprogramme umgesetzt wurde, war falsch, wie wir jetzt sehen. Auch hat die Politik falsch auf die Pandemie reagiert. Ihr mit einer staatlichen Schuldenpolitik, also mit Maßnahmen zur Nachfrageausweitung, entgegenzutreten hat nur die Inflation angetrieben. Nachfragepolitik braucht man, wenn es an Kunden fehlt, nicht, wenn die Lieferketten unterbrochen sind.
Was die Schulden angeht: In den meisten Volkswirtschaften liegen die Zinsen weit unter den Inflationsraten. Das entwertet doch die Schulden, sagen Ökonomen. Irren sie?
Nein, sie irren nicht. Bis die überschuldeten Banken daraus eine substanzielle Entlastung erfahren, wird freilich noch viel Wasser den Rhein herunterfließen. Auf beiden Seiten der Bankbilanzen stehen vor allem Nominalwerte. Da hilft die Entwertung der Schulden durch Inflation herzlich wenig. Die Schuldenentwertung wird allerdings die überschuldeten Staaten sanieren und sie zu neuen Schulden ermuntern.
Wie kann es sein, dass wieder einmal von den Banken eine so große Gefahr ausgeht? Haben denn die Regulierungsansätze nach der Lehmann-Pleite gar nichts gebracht?
Die neuen Basel-Regeln und das durch US-Präsident Donald Trump verwässerte Dodd-Frank-Gesetz haben keinen Regimewechsel ermöglicht. Insgesamt fehlten den amerikanischen Banken beim Auslaufen der Niedrigzinsphase stille Reserven, die sie als Puffer gegen die Wertverluste durch die Zinserhöhungen hätten einsetzten können.
Sollten solche Eingriffe des Staats, wie sie jetzt in den USA und der Schweiz stattfinden, nach den Erfahrungen mit der Finanzkrise nicht unter allen Umständen vermieden werden?
Die Liquiditätshilfen waren vor 15 Jahren richtig, und sie sind es auch heute. Nur sollte man die sofort wirksamen Schutzmaßnahmen mit einer grundlegenden Reform der Bankenregulierung verbinden, die präventiven Charakter hat. Die Banken brauchen mehr Eigenkapital und mehr Sicherheitspuffer, damit sie die Haftung für Fehlverhalten selbst tragen können, anstatt sie auf andere zu verlagern, und solidere Geschäftsmodelle wählen. Das heißt: Wir brauchen endlich in der westlichen Welt eine wirksame Bankenregulierung, um den Kasinokapitalismus einzudämmen.
Wie beurteilen Sie die Rettungsaktionen in der Schweiz? War es richtig, die beiden Großbanken Credit Suisse und UBS zu fusionieren? Schon während der Finanzkrise 2008 spotteten Ökonomen ja, die Schweiz sei eine Bank mit angeschlossener Volkswirtschaft.
Da die UBS eine etwas bessere Eigenkapitalquote aufweist als die Credit Suisse, macht die Fusion die Lage zumindest erst mal beherrschbarer. Insgesamt aber ist sie eine fragwürdige Lösung. Denn die UBS hat nun eine Bilanzsumme, die mehr als doppelt so hoch ist wie das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz. Wer die neue UBS retten könnte, sollte sie eines Tages straucheln, steht in den Sternen. Die alten Banken waren too big to fail, die neue ist too big to bail. Da hilft nur noch Beten.
Wir erleben nicht nur eine neue Vertrauenskrise bei den Banken. Wir haben den Ukrainekrieg, die Energiekrise, die Deglobalisierung. Was bedeutet all das für die Weltwirtschaft?
Nichts Gutes, und hinzu kommt eben noch die Inflation. Wohlstandsvernichtung statt Wachstum steht derzeit auf der Tagesordnung. Es wird Zeit, dass die Menschheit wieder zur Vernunft kommt.
Besonders Deutschland scheint angesichts der heraufziehenden Krisen herausgefordert: anhaltender Energienotstand, drohende Entkopplung von China und dann noch dieser Krieg direkt vor der Haustür der EU.Hat Deutschland ökonomisch betrachtet die beste Zeit hinter sich?
Vermutlich. Die teure Energie und die aus demografischen Gründen immer knapper werdenden Arbeitskräfte werden den Lebensstandard beschränken und das Wachstum eindämmen.
Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem neuen Wirtschaftswunder, das mit dem ökologischen Umbau einhergehen könnte. Was halten Sie davon?
Das ist – mit Verlaub – Propaganda. Dafür sehe ich nicht den geringsten Anhaltspunkt. Gerade hat er Biontech, das die Keimzelle einer neuen Pharmaindustrie hätte werden können, nach England abdriften lassen.Und selbst die BASF packt ihre Zelte. Wo soll es denn herkommen, das Wachstum?
Das frage ich Sie.
Wir haben zwei große Probleme: das demografische Problem, dass die Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt austreten, während sie selbst ja viel zu wenige Kinder hatten, die sie ersetzen könnten. Und dann gibt es das Problem, dass wir wegen des Klimawandels bereit sind, teurere, wenn auch sauberere Energien zu wählen.
Könnte es nicht sein, dass hohe Energiepreise der deutschen Wirtschaft am Ende sogar helfen? Will heißen: Der hohe Wettbewerbsdruck treibt technologische Innovationen in einem Bereich, der für die Weltwirtschaft höchst relevant ist.
Es war eben nicht der Wettbewerbsdruck, sondern eine von Politikern in Brüssel und Berlin erzeugte Verbotsorgie, die die Energiewende erzwungen hat. Politiker sind aber nicht in der Lage, die Weltmärkte besser einzuschätzen als Unternehmer, die ihr eigenes Vermögen riskieren. Das spricht nicht gegen eine Politik zur Bekämpfung der Klimaexternalität, wohl aber gegen das Argument, damit seien auch noch Wettbewerbsvorteile verbunden.
In den USA scheint es mit dem Umbau der Wirtschaft und den Subventionen im Zusammenhang mit dem Inflation-Reduction-Gesetz (IRA) tatsächlich so etwas wie Aufbruchstimmung zu geben. Warum funktioniert das hier nicht?
Einige, die hier auch an staatliches Geld heranwollen, machen den IRA für diese Aufbruchstimmung verantwortlich. Tatsächlich sind die Subventionen nicht so voluminös, dass sie den großen Unterschied machen. In Europa wird viel mehr subventioniert als in den USA, vor allem bei den grünen Technologien. Viel entscheidender sind die Unterschiede bei den Energiekosten und der Bürokratie. Während man sich in Europa wegen Putin und der vielen Energieverbote auf höhere Kosten einstellen muss, locken die USA mit niedrigen Preisen für traditionelle Energien.
Sie meinen die Verbote im Bereich Heizung, Autoantriebe oder eben Energieproduktion wie Atomkraftwerke oder Fracking?
Ja. Die Energiepolitik sollte auf die Kernkraft setzten und sichere Gasquellen zu Hause und in befreundeten Ländern erschließen. Statt fiskalischer Gaspreisbremsen brauchen wir ein höheres Angebot an günstigen Energien. Die grüne Energie im engeren Sinne kann im Verein mit der Atomkraft und europäischem Gas einen gewissen Beitrag zur Überwindung der Energieprobleme leisten. Wegen ihrer Volatilität kommt sie aber nicht allein zurecht.
Ein weiteres großes Problem ist die Deglobalisierung. Keine Volkswirtschaft hängt so vom Welthandel ab wie Deutschland. Brauchen wir ein neues Geschäftsmodell?
Nein, wir müssen das alte wiederbeleben und gegen die Ideologen verteidigen. Der links-grüne Moralismus, der anderen als willkommenes Argument für schieren Protektionismus dient, führt uns auf teure Abwege.
Was genau meinen Sie? Das jetzt oft genannte Friendshoring, das die USA propagieren, die ja nicht gerade für große moralische Ansprüche in der Außenpolitik bekannt sind?
Friendshoring ist auch Protektionismus. Der Handel bringt aber besonders große Spezialisierungsvorteile für alle Beteiligten, wenn sie sich unterscheiden. Vive la difference.
Das gilt auch in Menschenrechtsfragen?
Nein, ich meine nicht die Unterschiede in den jeweils geltenden nationalen Ideologien, sondern die Unterschiede in den Faktorausstattungen mit Kapital, Arbeitskräften und Bodenschätzen. Die Verbindungen zu China dürfen nicht abreißen. China ist Deutschlands größter Handelspartner, China ist ein mächtiges Land, und China ist Deutschland gewogen. Ich würde diese Karte nicht aufgeben, auch wenn es sicher richtig ist, sich stärker zu diversifizieren.
Europa, das ja sicherheitspolitisch extrem abhängig von den USA ist, ist in einer schwierigen Sandwich-Position im epochalen Kampf zwischen den USA und China. Was empfehlen Sie?
Unsere Sicherheitsinteressen sind natürlich engstens mit denen der USA verbunden. Doch liegen die wirtschaftlichen Interessen nicht beisammen. Wir müssen uns hier emanzipieren.
Emanzipieren heißt: weiter so wie bisher?
Wir, die Europäer und die Deutschen, müssen jedenfalls unsere besonderen Beziehungen zu China pflegen. Wir können nicht den konfrontativen Weg der USA übernehmen. Das sollten wir schon aus ökologischen Gründen nicht tun. Man kann China nicht klein halten wollen und gleichzeitig hoffen, dass es die fossilen Brennstoffe, die wir ihm wegen unserer Kaufverbote verbilligt überlassen, aus klimapolitischen Gründen nicht verwendet.
Das heißt, der typisch deutsche und scharf kritisierte Weg, der sich mit der Formel „Wandel durch Handel“ zusammenfassen lässt, bleibt richtig?
Ja, der Ansatz ist richtig. Willy Brandt hatte recht. Schon der Philosoph Immanuel Kant wusste, dass Nationen, die Handel miteinander treiben, weniger Kriege gegeneinander führen. Der Welthandel ist ein Stück Friedenspolitik. Nur der Handel kettet die Länder so weit aneinander, dass sie friedlich gesinnt bleiben.
Nun, man kann bestimmt nicht behaupten, dass der äußerst intensive Handel mit China bislang zu einer Öffnung des Landes oder einer besseren Menschenrechtslage geführt hat.
Ersteres schon. China hat heute ein marktwirtschaftliches System. Kaum jemand hätte sich vor 40 Jahren die Dramatik des Wandels vorstellen können, als Deng Xiaoping sein Land für den Westen öffnete.
Aus China kamen zuletzt große Zeichen der Schwäche. Haben wir China überschätzt?
Nein, China ist nach wie vor eine sich stürmisch entwickelnde Wirtschaftsmacht, in Kürze die größte der Welt.
Auch an ein Ende der Globalisierung, von der viele reden, glauben Sie nicht?
Die Globalisierung legt derzeit eine Pause ein. Die Protektionisten, die ihren eigennützigen Zielen stets moralische Mäntelchen umhängen, sind im Vormarsch. Den Schaden tragen wir alle, nicht zuletzt die Armen der Welt, die besonders von der Globalisierung profitiert haben.
Werden wir auch mit Russland eines Tages wieder ein normales Verhältnis pflegen können? Es gibt Politiker, die sagen, wir müssen eine neue Sicherheitsarchitektur nicht mit, sondern gegen Russland aufbauen.
Wir müssen uns durch eine Aufrüstung vor Russland schützen, es geht leider nicht anders. Doch gleichzeitig sollten wir nach Wegen suchen, den Krieg zu beenden und einen neuen Konsens mit Russland und China zu finden. Europa braucht die russischen Bodenschätze, und Russland braucht die Märkte des Westens. Ich hoffe, dass sich diese Einsicht eines Tages wieder durchsetzen kann. Jeder Krieg geht einmal zu Ende, und jeder Staatschef wird einmal ersetzt. Künftige Generationen müssen den Neuanfang wagen.
Zum Schluss eine persönliche Frage. Sie gehörten zu jenen Ökonomen, die die Verantwortung der Deutschen gegenüber Russland wegen unserer Vergangenheit betonten. Wie tief hat Sie der Überfall auf die Ukraine getroffen?
Das hat mich sehr getroffen. Wladimir Putin hat sich ins Unrecht gesetzt. Und man kann nur entsetzt sein, dass er die Zivilbevölkerung der Ukraine bombardiert und seine eigenen Soldaten opfert. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass man die Hand, die Putin 2001 im Bundestag ausstreckte, hätte ergreifen und eine Freihandelszone mit Russland hätte errichten sollen. Damit will ich nicht sagen, dass Putin ein anderer Mensch geworden wäre, aber ich vermute dennoch, dass die Geschichte dann einen günstigeren Verlauf genommen hätte.
Herr Sinn, vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Jens Münchrath.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.com.