Hans-Werner Sinn ist Deutschlands bekanntester Ökonom. In seiner Autobiografie will er sein Image vom kühlen Wirtschaftswissenschaftler geraderücken.
Man kann Hans-Werner Sinn, und das tun viele, für einen Eiswürfel halten. Einen Propheten der ökonomischen Sachzwänge. Eine ewige Kassandra, die Griechenlands Staatsbankrott schon zu Zeiten der Antike aufkommen sah.
Schmähungen wie „Schmalspur-Ökonom“, „Professor Unsinn“ und „Krawallmacher“ begleiten Sinn fast sein ganzes Forscherleben. Freilich: Sinn gehört nicht zu den Gelehrten, die nur im Elfenbeinturm vor sich hin dozieren. Die ihr Wissen für elitäre Zirkel produzieren und sich hinter komplizierten Wachstumsmodellen und Fachlatein verstecken.
Sinn hat sich ganz bewusst dafür entschieden, „als Berater des Volkes“ aufzutreten. Er will, das betont er häufig, seine Erkenntnisse mit allen teilen. In einfachen Worten, die auch Laien verstehen können.
Dabei geriet ihm in der Vergangenheit manche Analyse oder Rechnung so spitz (etwa was ein Flüchtling den Sozialstaat kostet), dass der Gegenwind aus der Politik, den Medien, zuweilen auch der eigenen Zunft nur so brüllte und heulte. Dazu kommt, dass es Sinn völlig egal ist, in welches politische Klima er seine Thesen segeln lässt. Fakten sind Fakten.
Sinn war VWL-Dekan an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Berater der Bundesregierung und Präsident des renommierten Ifo-Instituts. Er hat mehrere Bestseller geschrieben und hochdekorierte Preise erhalten. Fast scheint es, als dass die Dinge, die man ihm im Zuge seiner außergewöhnlichen Karriere so an den Sturkopf warf, Sinn nie wirklich trafen.
Schließlich fühlte er sich schon immer nur einer Sache verpflichtet, und das darf man ihm getrost abnehmen: „Rerum cognoscere causas“ – „Den Grund der Dinge erkennen“, wie es Vergil formulierte. So heißt denn auch seine Autobiografie, die diesen Februar erschien: „Auf der Suche nach der Wahrheit“.
Den Bau der Mauer persönlich miterlebt
Seine Perspektive auf die Wahrheit serviert Sinn, der im März seinen 70. Geburtstag feierte, dem Leser in geballter Form. Etwa, was der gebürtige Ostwestfale von der Agenda 2010 hält (Ausweg aus einem falsch konstruierten Sozialstaat), von Angela Merkel (eine Enttäuschung), dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (falsche Politik), dem Euro (Ursache für Schuldenlawine, Zerstörer von Industrien), dem Staatsanleihen-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (Fass ohne Boden).
Sein Buch ist nicht nur eine fakten- und detailreiche Zeitreise vom Wirtschaftswunder zu den Nachwendejahren hin zu Merkels Deutschland und Draghis Europa; ein verschriftlichtes und durchaus unterhaltsames Proseminar, das nahezu 50 Jahre im Dienste der Wissenschaft reflektiert.
Es ist auch das Zeugnis eines nachdenklichen Menschen aus einfachsten Verhältnissen, der sehr persönliche, überraschende und emotionale Einblicke gibt. Etwa, wie er mit seiner Frau Gerlinde, ebenfalls Volkswirtin, engste Vertraute, Mitautorin, Korrektiv, „und Liebe seines Lebens“, den Fall der Mauer am 9. November erlebte. Beide hingen sie vor dem Radio und weinten vor Freude.
„Die Überwindung der deutschen Teilung im Jahr 1990“, schreibt Sinn, „stellt das wichtigste historische Ereignis meines Lebens dar“. Sinn hat den Bau der Mauer als 13-Jähriger selbst erlebt, als er eine Tante im Osten besuchte. Auf der Rückkehr sah er, wie Soldaten das Brandenburger Tor verstellten und Stacheldraht ausrollten.
Glühender Verehrer Willy Brandts
Am nächsten Tag, es war der 13. August 1961, hatte das Militär die Grenze bereits abgeriegelt. Ein Ereignis, das Sinn tief prägte und die Frage nach dem „Warum“ zeitlebens in seinem Bewusstsein verankern sollte. Um die Verwandten im Osten fortan zu sehen, musste Sinn „erniedrigende Grenzkontrollen“ über sich ergehen lassen. So spricht kein Eiswürfel.
Sinn, der anders als man glauben mag, ohne Käpt’n-Ahab-Bart 1948 auf die Welt kam, besuchte als einziger Schüler seiner Dorfschulklasse das Gymnasium. Sein Vater, ein Lkw-Fahrer und seine Mutter, eine Friseurin, die in einer Fahrradfabrik arbeitete, mussten das Schulgeld für den einzigen Sohn hart verdienen. Als Jugendlicher engagierte sich Sinn bei den Falken, einer SPD-Jugendorganisation. Später trat er der Partei bei und war glühender Verehrer Willy Brandts.
Gerade deshalb wurmt es Sinn, wenn man ihn heute neoliberal oder marktradikal nennt. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ich kenne die Nöte des Alltags.“
Weshalb Sinn Ökonom geworden ist? Weil er mit wirtschaftlichem Sachverstand die Gesellschaft besser machen wollte – gerade zugunsten der einfachen Menschen, wie er schreibt. Ihnen hilft, davon ist Sinn überzeugt, saubere ökonomische Analyse eben mehr als gefühlsbeladene Wohlfühlrhetorik.