Macht Deutschland beim Thema Klima alles falsch? Das sieht zumindest der bekannte Ökonom Hans-Werner Sinn so. Jetzt schlagen Sinns Aussagen aus einem Interview hohe Wellen. Was ist dran an seinen Thesen? FOCUS online Earth hat mit Expertinnen und Experten gesprochen.
„Das letzte Aufbegehren eines Skeptikers“. So beschreibt der Energie-Experte Jan Rosenow die Thesen des ehemaligen Ifo-Chefs Hans-Werner Sinn. In einem Interview mit der „ Bild “-Zeitung hat Sinn seine Meinung zur deutschen Klima- und Energiepolitik geteilt. Seine Ansichten zum Verbrenner-Verbot, zu E-Autos, zur deutschen Klima- und Energiepolitik und künftigem Verbot von Ölheizungen wurden auch in zahlreichen Medien wiedergegeben. Sein Tenor: Beim Klima macht Deutschland alles falsch.
Einerseits erklärt Sinn, dass das Verbot von Verbrenner-Motoren den Klimawandel beschleunigen würde. Außerdem behauptet er, dass durch die Nutzung von E-Autos auch mehr Kohlestrom benötigt wird und diese daher keine Lösung seien. Darüber hinaus sei es sinnlos, in Deutschland das Verbrennen von Öl und Kohle zu verbieten, da dies wohl dazu führe, dass die Preise für fossile Energieträger auf dem Weltmarkt sinken, wodurch sie in anderen Ländern vermehrt verbrannt werden.
Energiewende und Klimapolitik sind komplexe Themen, keine Frage. Hat Sinn recht mit seinen pauschalen Aussagen? FOCUS online Earth hat mit Expertinnen und Experten gesprochen.
These Nr. 1: „Verbrenner- und Ölheizungsverbot sind unnütz“
Für Deutschlands Klimapolitik hat Hans-Werner Sinn vor allem Kritik übrig. Das Verbot von Ölheizungen und Verbrennungsmotoren hält er für sinnlos. Denn: Die Verbote würden den Klimawandel sogar beschleunigen, so Sinn. Das Öl, das Deutschland wegen des Verbots von Verbrennern und Ölheizungen nicht mehr kaufe, würde auf dem Weltmarkt billiger, so der Ex-Ifo-Chef. Infolgedessen würden andere Länder einfach mehr von dem billiger gewordenen Öl kaufen, dieses verbrennen und entsprechend mehr CO2 ausstoßen. Sinn plädiert deshalb für einen Klimaclub, in dem sich alle bis fast alle Staaten für die Reduzierung der CO2-Emissionen verpflichten. Dafür brauche es die EU, die USA, Indien und China.
Was andere Experten sagen: Ganz so einfach ist es nicht. Grundsätzlich gibt es beim Thema Klimaschutz tatsächlich ein "Kooperationsproblem", wie es Forscherinnen und Forscher nennen: Um die globale Erderwärmung zu stoppen, müssen sich alle großen Industriestaaten diesem Ziel verschreiben.
Dafür braucht es Kooperation, wie zum Beispiel beim Pariser Klimaabkommen . Dort wurden konkrete Ziele festgelegt, die alle unterzeichnenden Länder erreichen müssen. Das Abkommen gilt. Das kommende Verbot von Benzin- und Diesel-Motoren und potenzielle Verbote von Ölheizungen gelten allerdings nicht nur in Deutschland, wie Sinn suggeriert, sondern EU-weit. Außerdem haben die G7-Länder bereits vor einigen Monaten den Klimaclub gegründet , wenn auch bisher ohne Indien und China.
Dennoch brauche es stärkere globale Kooperationen beim Klimaschutz, erklärt auch der Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, Axel Ockenfels. „Es ist richtig: Das Klimaproblem ist im Kern ein Kooperationsproblem“, wird er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Wenn sich wichtige Länder aus kurzfristigem Eigeninteresse aus dem Klimaschutz heraushalten, könnte das andere Länder davon abhalten, zu kooperieren.
Auch Ockenfels befürchtet, dass der Klimaeffekt negativ sei, wenn durch Verbrennungsmotor-Verbot eingespartes Öl einfach woanders verkauft und verbrannt wird. Anders als Sinn erkennt Ockenfels jedoch an, dass ein Verbrenner-Verbot darin resultieren kann, dass Deutschland sichere grüne Energie und Technik billiger macht als fossile.
Aber nochmal zurück zum Öl-Argument - funktioniert der Ölmarkt so mechanisch?
Die Organisation der erdölexportierenden Länder (Opec) beeinflusst den Ölmarkt. Weshalb die Ölpreise oftmals politisch geprägt sind und weniger von den konkreten Mengenverhältnissen abhängig, bestätigt Michael Hüther, Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gegenüber FOCUS online Earth. Das sei bereits 1973/74 im Zuge der ersten Ölpreiskrise zu beobachten, und auch nicht anders seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine.
„Insofern gibt es für den erwähnten Rebound-Effekt eine grundsätzliche, aber keine jederzeit wirksame Logik", sagt Hüther. "Zudem reagieren die Anbieter fossiler Energie so, dass ihre Monopolrenten-Einkommen aus dem Export einigermaßen stabil sind.“ Kurzum: Die OPEC-Staaten passen die Fördermengen oder Preise an, um sicherzustellen, dass ihre Erdöl-Einnahmen stabil bleiben, wenn die Nachfrage sinkt oder es zu geopolitischen Konflikten kommt.
„Hans-Werner Sinn irrt", sagt auch Ökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Ich stimme keiner der Aussagen zu und muss allem deutlich widersprechen: Ein Ausstieg Deutschlands aus dem Verbrennungsmotor würde mitnichten dazu führen, dass das nicht genutzte Öl anderweitig verwendet wird und die Klimakrise sogar beschleunigen würde. Das Gegenteil ist der Fall.“ Weltweit sei der Ausstieg aus dem Verbrenner-Motor zu beobachten, da sich der Elektromotor mehr und mehr durchsetze.
„Der Elektromotor ist deutlich preiswerter als der fossile Verbrennungsmotor", erklärt die Energie-Ökonomin. "Wir sind an einem 'Tipping Point', die Nachfrage nach Elektromobilität nimmt immer weiter zu. Weltweit haben sich die Autokonzerne dazu verpflichtet, aus dem Verbrennungsmotor auszusteigen. Die Tage des Verbrennungsmotors sind gezählt. Diesen Trend sehen wir in fast allen Industriestaaten.“ Dieser Trend führe aber nicht zu sinkenden Ölpreisen. Diese steigen derzeit aufgrund geostrategischer Konflikte und Kriege um fossile Energieträger, so Kemfert. „Außerdem werden die Ölpreise von der Opec künstlich hochgehalten. Daher kommen auch immer mehr alternative Technologien zum Einsatz, die Öl ersetzen.“
These Nummer 2: Das China-Argument
Beim Verbrenner-Verbot kritisiert Sinn nicht nur die vermeintlichen Auswirkungen auf den weltweiten Ölmarkt, sondern behauptet auch, dass China davon profitiere. „Sie ruinieren unsere Automobilindustrie, senken unseren Lebensstandard und subventionieren andere Länder, allen voran China. China hat in den letzten zehn Jahren nicht nur immer mehr Kohle verbrannt, es hat den Mineralölverbrauch noch viel schneller gesteigert“, behauptet Sinn in seinem Interview.
Was andere Experten sagen: Es stimmt, dass China der weltweit größte Umweltsünder bei der Verbrennung von Kohle ist. Gleichzeitig ist es aber auch nur ein Teil der Wahrheit. Im Vergleich mit Deutschland und der EU ist China meilenweit voraus, was den Ausbau von Solarenergie und Windkraft sowie die Zulassungen neuer E-Autos angeht. Bis 2025 wird China wohl seine Wind- und Solarkapazität fast verdoppeln und seine Ausbauziele fünf Jahre früher als geplant erreichen. . Nach Prognosen der Analysefirma Bloomberg NEF wird China in diesem Jahr insgesamt 154 Gigawatt Solarenergie, 55,7 Gigawatt Onshore-Windkraft und 8,3 Gigawatt Offshore-Windkraft zubauen. Zum Vergleich: Die Europäische Union verfügte Ende 2022 über eine gesamte Solar-Kapazität von 208,9 Gigawatt.
„Ja, in China werden weiter Kohlekraftwerke gebaut, aber seriöse Prognosen zeigen, dass das nichts ist im Vergleich mit dem geplanten Ausbau der Erneuerbaren Energien", sagt der deutsche Energie-Experte Jan Rosenow von der britischen Universität Oxford. "In China werden mehr Solar- und Windkraftanlagen gebaut als die gesamte EU besitzt. Sinns China-Argument ist nicht sehr schlüssig und eher einseitig.“
Dass der Umstieg auf das E-Auto eine Herausforderung für die deutsche Automobilbranche darstellt, ist unbestrittem. Dennoch setzen auch Länder wie China oder die USA auf die Elektroautos, China voran dominiert den Markt. Auch Matthias Huber, Professor für Energiesysteme und Energieverteilung an der Technischen Hochschule Ingolstadt, hält den Wandel für eine Herausforderung für die deutschen Autobauer.
„An dem Punkt ist sicherlich was dran", sagt Huber. "Es darf aber nicht vergessen werden, dass beispielsweise auch der größte Automobilmarkt China den Umstieg forciert. Insofern ist es für mich nicht klar, ob ein Verbot hierzulande der Automobilindustrie eher schadet oder längerfristig sogar nutzt. Alle großen Studien zu Dekarbonisierung zeigen eigentlich, dass der Pkw-Verkehr elektrifiziert werden sollte, wenn Klimaziele erreicht werden sollen. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung z.B. mit groß angelegten Forschungsprogrammen die Unternehmen bei dem Umstieg unterstützen würde“, erklärt Huber.
These Nummer 3: E-Autos sind so schmutzig wie die Kohlekraftwerke
Im „Bild“-Interview behauptet Sinn weiterhin, E-Autos seien keine Lösung, da der „schmutzige Auspuff“ nur weiter entfernt im Kohlekraftwerk liege. Sinn zufolge müsse Deutschland wegen des benötigten Stroms für E-Autos und Wärmepumpen mehr Braunkohle fördern und würde damit immer mehr CO2 emittieren. Dies argumentiert Sinn damit, dass aufgrund des AKW-Aus nicht mehr genügend Energie in Deutschland gesichert sei, da der „grüne Flatterstrom“ nicht ausreiche.
Was andere Experten sagen: Sind E-Autos wirklich so schmutzig wie ein Kohlekraftwerk? Elektromotoren sind wissenschaftlich nachgewiesen dreimal so effizient wie ein Verbrennungsmotor. Ein Elektroauto setzt rund 80 Prozent der zugeführten Energie in Bewegung um. Derweil nutzt ein Benzinmotor nur 20 Prozent seiner hinzugeführten Energie für die Fortbewegung, der Rest der im Kraftstoff enthaltenen Energie geht als Abwärme verloren. Selbst wenn ein Elektromotor also mit 100 Prozent Strom aus Braunkohle fahren würde, fiele sein Effekt fürs Klima deutlich positiver aus als bei einem Verbrennungsmotor.
Zudem werden E-Autos in Deutschland nicht mit 100 Prozent Kohlestrom beladen. Deutschland hat im Mai und Juni diesen Jahres so wenig Strom aus fossilen Quellen erzeugt wie seit Jahren nicht, wie neuste Zahlen des Fraunhofer-Instituts belegen. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022 ging die Produktion aus Braun- und Steinkohle in diesem Halbjahr um 21 bzw. 23 Prozent zurück, teilte das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme mit.
Ein Trend, der den ganzen Kontinent erfasst: „Europaweit ist die fossile Stromerzeugung im ersten Halbjahr 2023 um 93 Terawattstunden niedriger als im ersten Halbjahr 2022 und auf dem niedrigsten Stand, seit wir Daten haben“, sagte Energie-Experte Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut Anfang Juli zu FOCUS online Earth. Deutschlands Strommix ist sauberer denn je geworden, den Daten des Instituts zufolge lag der Anteil der Erneuerbaren Energien bei 57,7 Prozent.
Zudem vergisst Sinn in seiner E-Auto-Rechnung allerdings auch den Europäischen Emissionshandel (ETS). Dort sind die Gesamtemissionen des Stromsektors in der EU gedeckelt. Das bedeutet: Der Markt sorgt dafür, dass jede Kilowattstunde zusätzlicher Kohlestrom an anderer Stelle eingespart wird.
„Abgesehen von diesem rechtlichen Konstrukt ist es auch auf der technischen Ebene so, dass die Emissionen im Strom stetig sinken und dadurch auch der Ladestrom der E-Autos immer weniger CO2 ausstoßt“, erklärt Huber. Bereits mit dem heutigen Strommix ist das E-Auto dem Verbrenner emissionstechnisch klar überlegen. Außerdem geht der Ausbau der Erneuerbaren Energien stetig weiter. Bis 2030 soll Deutschlands Strom zu 80% aus erneuerbaren Quellen kommen. „Die Aussage von Herrn Sinn ist daher sowohl aufgrund des technisch-ökonomischen Rahmens als auch aufgrund der technischen Gegebenheiten nicht haltbar“, sagt Huber.
Dass die Erneuerbaren Energien nicht ausreichen, da der Strom der stillgelegten Atomkraftwerke fehle, zweifeln auch Rosenow und Kemfert an. Deutschland könne sich mit Erneuerbaren Energien versorgen, ohne auf fossile oder Energie zurückgreifen zu müssen. Und Atomkraftwerke - was auch immer man von ihrer Abschaltung halten mag - leisteten zuletzt einen willkommenen, aber nicht mehr elementaren Beitrag zum deutschen Stromsystem. Zumal Atomkraftwerke nicht flexibel genug sind, um als "Backup" für Erneuerbare Energien zu dienen.
In der Zukunft brauche es smart aufeinander abgestimmte Energien und komplementäre regulierbare Energieträger, wie Wasserstoffkraftwerke, Pumpspeicherkraftwerke oder Batterien, sagt Rosenow daher. Und fügt hinzu: „Hans-Werners Sinns Thesen lesen sich wie das letzte Aufbegehren eines Skeptikers."
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