Die AfD will die EU durch einen losen „Bund europäischer Nationen“ ablösen. Ökonomen und Politikwissenschaftler warnen eindringlich vor einem solchen Modell: Die Risiken sowohl für die deutsche Wirtschaft als auch die Sicherheit der Bundesrepublik seien gewaltig.
Der Beschluss beim Parteitag Anfang August fiel einstimmig aus: Die AfD will eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen „Bund europäischer Nationen“. Dadurch solle die „Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt“ bleiben, heißt es.
Die ursprüngliche Formulierung einer „geordneten Auflösung der Europäischen Union“ wurde zwar abgemildert. Inhaltlich kommt der Beschluss dem aber sehr nahe. Parteichefin Alice Weidel hatte sich intern für eine vorsichtiger formulierte Forderung eingesetzt.
Wie genau sich die AfD einen solchen Staatenbund vorstellt, bleibt offen. Ein konkretes inhaltliches Konzept scheint es auch innerhalb der Partei noch nicht zu geben.
Auf einen ausführlichen Fragenkatalog von WELT antwortete die Rechtsaußenpartei: „In Zusammenarbeit mit unseren europäischen Schwesterparteien streben wir tiefgreifende Reformen in der europäischen Zusammenarbeit an. Verschiedene Wege und Szenarien sind hier denkbar, abhängig vom politisch Machbaren und Zielführenden. Entscheidend ist das Ziel: ein loser Staatenbund, in dem die Souveränität, die Demokratie und die kulturelle Identität der einzelnen Staaten gewahrt und die Zusammenarbeit auf den Bereich des Notwendigen und Sinnvollen konzentriert bleibt.“
Bereits seit ihrer Gründung steht die AfD kritisch zur EU. Bereits im ersten Bundestagswahlprogramm 2013 forderte die Partei, dass „Gesetzgebungskompetenzen zurück zu den nationalen Parlamenten verlagert werden“ sollen.
Für Mitbegründer und Ex-AfD-Chef Bernd Lucke, der 2015 aus der Partei austrat und mittlerweile wieder als Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Hamburg lehrt, gehen die Forderungen seiner früheren Partei nun deutlich weiter. „Wir haben uns damals gegen Forderungen verwahrt, die europäischen Verträge grundgesetzwidrig hin zu einer Transferunion zu überdehnen. Das ist etwas ganz anderes als die jetzigen Forderungen.“
Für Lucke ist die jetzige Forderung der AfD nach einer Wirtschaftsgemeinschaft ein „Schlagwort ohne Inhalt“ – schließlich sei die EU bereits eine Wirtschaftsgemeinschaft. So sehe er bei einem Staatenbund die Gefahr, dass es durch „zollähnliche Einfuhrhemmnisse“ zu erheblichen Beeinträchtigungen im Warenverkehr und einer Zerstörung des Binnenmarktes kommen könne. „Das steht im direkten Widerspruch zur Behauptung der
AfD, sich für Freihandel einsetzen zu wollen.“
Dennoch sieht Lucke auch vereinzelt Vorteile. So könne sich Deutschland dort positive Auswirkungen erhoffen, wo die EU „entscheidungsunfähig, überambitioniert oder undiszipliniert“ handele. Als Beispiele nennt er dabei die Asyl- und Migrationspolitik, eine „marktwirtschaftlichere Klimapolitik“ sowie eine „geld- und fiskalpolitische Solidität.“
Gleichzeitig betont Lucke jedoch, dass eine starke Bundesregierung dies auch innerhalb der EU umsetzen könne. Einen Staatenbund oder einen EU-Austritt lehne er entsprechend ab.
So unklar die konkreten Pläne der AfD sind, so einig zeigen sich auch andere Politik- und Wirtschaftswissenschaftler darüber, dass ein Staatenbund mit deutlichen Nachteilen für Deutschland verbunden wäre. Wirtschaftswissenschaftler Markus Rudolf von der privaten Otto Beisheim School of Management etwa sagt: „Die Auswirkungen eines Staatenbundes im Vergleich zur Union auf die deutsche Wirtschaft wären ohne Zweifel ziemlich negativ.“
Ein „Cherry Picking“, bei dem man die Vorteile des Freihandels genieße und gleichzeitig die damit verbundenen Nachteile ausschließe, würde nicht funktionieren, sagt Markus Rudolf.
Wenn die AfD etwa versuche, mittels Grenzschließungen die Migration stark einzudämmen, würden gleichzeitig die Vorzüge des Freihandels verloren gehen.
Der Münchener Wirtschaftswissenschaftler und frühere Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn (/wirtschaft/article246675930/Hans-WernerSinn-Der-Klimawandel-beschleunigt-sich-wegen-des-Verbrennerverbots.html), befürchtet bei einem Zusammenbrechen der Währungsunion eine „große Finanzkrise“. „Die EU hat viele Fehler, aber es ist besser, sie zu korrigieren, als sie abzuschaffen.“
Das sieht auch Politikwissenschaftler Thomas König von der Universität Mannheim so. Deutschland müsste, sollte der AfD-Plan realisiert werden, wie jedes andere Mitglied eines Staatenbundes bilaterale Abkommen weltweit aushandeln – ähnlich wie Großbritannien nach dem Brexit. „Gegenüber der EU dürfte Deutschland allein weniger Aushandlungschancen haben“, sagt König und weist darauf hin, dass die Bundesrepublik im Fall einer Überführung der EU in eine Wirtschaftsgemeinschaft auch ihren Anteil an Euroschulden übernehmen müsste. „Auch Zolleinrichtungen und Bürokratie müssten eher aufgebaut als abgebaut werden.“
Das bestätigt auch Volker Boehme-Neßler, Professor für Europarecht an der Universität Oldenburg: „Die Staaten, die zur EU gehören, sind wirtschaftlich, rechtlich und politisch extrem verflochten. Das lässt sich nicht rückabwickeln ohne große Schäden – ökonomisch und politisch.“ Bei einer Rückabwicklung müssten alle Rechtsnormen, die auf EU-Recht beruhen, auf den Prüfstand gestellt werden. „Man müsste sie möglicherweise aufheben und durch neue, nationale Gesetze ersetzen. Dabei reden wir über Zigtausende von Rechtnormen. Niemand kennt die genaue Zahl, und niemand weiß, wie lange das dauern würde“, so Boehme-Neßler. „In einer Übergangszeit hätten wir dann chaotische Zustände. Niemand wüsste genau, welche Norm jetzt noch gilt oder schon außer Kraft gesetzt ist.“
Der Jurist weist außerdem darauf hin, dass sich Deutschland im Europa-Artikel des Grundgesetzes dazu verpflichtet habe, an der Entwicklung einer Europäischen Union mitzuwirken. „Ein Austritt aus der EU oder eine Mitwirkung bei der Rückabwicklung der EU insgesamt wäre das Gegenteil dessen – und damit verfassungswidrig“, sagt er. Die AfD müsste entsprechend erst das Grundgesetz ändern.
Politikwissenschaftlerin Michèle Knodt von der Universität Darmstadt warnt davor, dass allein die Einführung einer neuen nationalen Währung zu erheblichen Kosten und Unsicherheiten führen würde. So wäre eine eigene deutsche Währung gegenüber anderen Staaten in Europa vermutlich zwar verhältnismäßig stark. Doch dadurch würden deutsche Produkte im Ausland teurer und die Nachfrage geringer werden. „Eine starke Währung würde die Exportwirtschaft empfindlich treffen“, so Knodt.
Der Mannheimer Professor König fügt hinzu: „Es ist kein Geheimnis, dass die deutsche Wirtschaft auf Exporte angewiesen ist, von denen die meisten in andere EU-Staaten gehen. In einem Staatenbund wäre dieser deutsche Exportüberschuss auf Dauer nicht zu rechtfertigen.“
Knodt sähe in einem Zerfall der EU gar die langfristige Sicherheit Deutschlands gefährdet: „Die EU war immer ein Garant für Frieden in Europa.“ So habe die Europäische Union demokratisierenden Staaten Stabilität und Einbindung geboten, damit sie sich in einem Raum des wirtschaftlichen Wachstums zu demokratischen politischen Systemen entwickeln konnten. „Wer diese Gemeinschaft aufgeben will und sie als losen wirtschaftlichen Zusammenschluss wiedergründen möchte, der nimmt bewusst in Kauf, dass instabile Staaten wieder in die Autokratie zurückfallen. Das wäre eine wirkliche Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands“.
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