Für stabilitätsorientierte Ökonomen ist es keine Frage: Eine Währungsunion braucht harte rechtliche Schuldengrenzen, weil sie – implizit oder explizit – eine Gemeinschaftshaftung für Schulden mit sich bringt. Diese Gemeinschaftshaftung nimmt Käufern von Staatspapieren die Angst vor dem Konkurs und veranlasst sie, sich mit niedrigen Zinsen zu begnügen – woraufhin sich die Staaten höhere Schulden zu genehmigen pflegen. Mit Schulden finanzierte Staatsausgaben erhöhen aber die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und wirken inflationär, sofern sich nicht ungenutzte Produktionskapazitäten aktivieren lassen.
WirtschaftsWoche, 13. Oktober 2023, Nr. 42, S. 41.
Europa hat sich deshalb 1997 mit der Defizitgrenze von drei Prozent und dem gehärteten Fiskalpakt der Jahre 2011 und 2012, der eine Rückführung aller staatlichen Schuldenquoten auf maximal 60 Prozent vorsah, auf klare Schuldengrenzen geeinigt. Deutschland hatte diese als Gegenleistung für die Aufgabe der D-Mark und später für die Zustimmung zum dauerhaften fiskalischen Rettungsschirm ESM verlangt.
Besonderen Respekt vor den Schuldenregeln zeigten die meisten Staaten seitdem aber nicht. Seit Gründung der Währungsunion 1999 wurde die Drei-Prozent-Regel, gemessen an der ursprünglichen Formulierung, von den heute zur EU gehörenden Ländern 138-mal strafbar verletzt, ohne dass die EU-Kommission die vorgesehenen Strafen verhängt hätte. Bei den heutigen Euro-Staaten stieg die aggregierte Staatsschuldenquote von 71 Prozent auf 99 Prozent im Jahr 2020, also weit über die im Maastrichter Vertrag fixierte Obergrenze von 60 Prozent hinaus.
In den vergangenen zwei Jahren ging die Schuldenquote der Euro-Länder zwar wieder um sechs Prozentpunkte zurück. Das war jedoch nicht das Ergebnis einer neuen Bescheidenheit, sondern resultierte allein aus der Inflation – konkret aus dem Anstieg des Preisindexes der im Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessenen Waren und Dienstleistungen. Die Inflation blähte das nominale BIP auf und senkte so die Relation von Schulden und Wirtschaftsleistung.
Steigende Staatsschulden haben diese Inflation begünstigt und angefeuert. Ausgelöst wurde die Inflation zwar durch weltweite Angebotsverknappungen aufgrund der Coronalockdowns. Doch haben die Staaten der westlichen Welt die Einkommen und Kaufkraft der bei ihrer Arbeit eingeschränkten Bürger durch schuldenfinanzierte Transferprogramme aufrechterhalten. Die Schuldpapiere, die sie in Umlauf brachten, landeten größtenteils bei den Zentralbanken. Man lebte aus der Druckerpresse. Kein Wunder, dass darauf die stärkste Inflation der Nachkriegszeit folgte.
Die Angebotslücke aufgrund der Coronakrise ist nun zwar vorbei, die Inflationsraten gehen vorläufig zurück. Doch schon jetzt ist absehbar, dass die bevorstehende Verrentung der Babyboomer und die anhaltende Energiekrise für Knappheiten in der Zukunft sorgen werden. Kommt eine schuldenfinanzierte Ausgabenlawine hinzu, wäre ein Wiederanstieg der derzeit rückläufigen Inflationsraten die Folge.
Diese Warnung ist auch bezüglich der viel zitierten „Goldenen Regel“ angebracht. Nach dieser Regel sind neue Staatsschulden für die Finanzierung konsumtiver Staatsausgaben verboten, investive Staatsausgaben hingegen, etwa in die Infrastruktur, dürfen auf Pump finanziert werden. Die Idee ist, dass zukünftige Generationen, die von den Investitionen profitieren, auch die Lasten der Investition tragen sollen.
Das Problem bei dieser zunächst einleuchtenden Idee ist freilich, dass wegen der Inflation nicht in erster Linie zukünftige Generationen, sondern heutige Sparer zur Kasse gebeten werden, deren Geldvermögen an realem Wert verliert. In Deutschland hat die Inflation seit Anfang 2021 rund 17 Prozent des ersparten Geldvermögens der Menschen vernichtet.
Um Ähnliches für die Zukunft zu vermeiden, sollte die Europäische Union beschließen, dass konsumtive Staatsausgaben niemals mit Schulden finanziert werden dürfen. Zugleich könnte sie festlegen, dass die Summe aus produktiven Nettoinvestitionen und konsumtiven Staatsausgaben maximal zu drei Prozent des BIPs schuldenfinanziert werden darf. Falls Verknappungen eine Inflationsgefahr implizieren, müsste eine Neuverschuldung vollständig ausgeschlossen sein.
Solche Beschränkungen hätten den Vorteil, dass die Euro-Zone nicht in ein inflationäres Gleichgewicht hineinrutscht, in dem die Politik – wie früher in Italien – das Staatsbudget hemmungslos mit Schulden finanziert, weil sie weiß, dass diese Schulden im Zeitablauf dank der Inflation erodieren.
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