Stuttgarter Zeitung, 18. Oktober 2018.
Der Haushaltsstreit zwischen der EU und Italien schürt Furcht vor einer Rückkehr der Schuldenkrise. Der Ökonom Hans-Werner Sinn warnt, die Europartner dürften sich nicht erpressen lassen.
Sind die Ängste vor einer Rückkehr der Eurokrise berechtigt?
Sie sind berechtigt, denn die Italiener waren zehn Jahre lang nicht bereit, Reformen zu machen, um ihre verlorene Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen. Jetzt suchen sie die Lösung über Schulden, im Zweifel auch eine Transferunion, verkleidet in die Form einer europäischen Arbeitslosenversicherung, verkleidet in die Form einer gemeinsamen Einlagensicherung. Für den Fall, dass sich die EU dagegen sträubt, droht Italien mit dem Austritt.
Eine gemeinsame Einlagensicherung könnte das Risiko eines Bank-Runs verringern.
Richtig. Sie würde allerdings auch die Zombie-Banken grenzenlos mit Einlagen versorgen und ihnen damit das Material zum Zocken bereitstellen. Dadurch entsteht ein riesiges systemisches Risiko für die Eurozone. Auf mittlere Sicht droht uns eine Wiederholung der amerikanischen Savings- und Loan-Krise, die in den 80er Jahren zum Untergang von über 1000 Sparkassen geführt und den amerikanischen Staat sehr viel Geld gekostet hat. Diese Institute hatten sich unter dem Schutz der Einlagensicherung mit den windigsten Geschäftsmodellen Geld von ihren Kunden besorgt und damit herumgezockt. Auch unsere deutschen Landesbanken gingen unter, weil sie sich unter dem Schutz der Gewährträgerhaftung billiges Geld leihen konnten.
Aber Italien gehen zu lassen, könnte der Eurozone den Todesstoß versetzen…
Das haben Sie gesagt. Richtig ist: Wir sind in einer Sackgasse angekommen, wo es keine bequemen Auswege mehr gibt. Eine Transferunion ist keine wirkliche Lösung – sie führt zwar zu einer gewissen Stabilität, aber einer Stabilität, die man auch als Siechtum bezeichnen kann. Schauen sie sich nur den italienischen Süden an, der seit Jahrzehnten abhängig von Überweisungen aus dem Norden ist. Ein derartiges Siechtum kann sich Europa im Wettbewerb mit den Chinesen, mit den Amerikanern überhaupt nicht erlauben.
Was sollte die Bundesregierung tun?
Ich würde davon abraten, die Politik des leichten Geldes fortzusetzen, denn das hat ja in diese untragbare Situation geführt. Man hat 2010, 2012 ganz tief in die Tasche gegriffen und riesige Bürgschaften ausgesprochen, um Zeit zu kaufen für Reformen. Was ist passiert? Gar nichts, man steckt nur tiefer in der Tinte und in der Haftung.
Aber gesetzt den Fall, Italien träte aus – was würde passieren?
Paolo Savona, der heutige Europaminister, hat das theoretisch durchgespielt: Er will erst einmal eine Art Parallelwährung einführen in Form von Staatspapieren, die klein gestückelt sind und für Transaktionen genutzt werden könnten. Wenn das geschehen ist, würde man den Austritt erklären, indem man über Nacht alle Konten, Kreditverträge, Arbeits- und Mietverträge umstellt auf Lira. Auch die Auslandsschulden könnten überwiegend in Lira getilgt werden, für die seit 2012 aufgenommenen Schulden gilt das allerdings nicht. Sie müssten in Euro bedient werden, was schwierig wäre. Die riesige Target-Schuld der italienischen Notenbank gegenüber dem Eurosystem und damit indirekt bei der Bundesbank von knapp 500 Milliarden Euro würde nicht getilgt werden. Das Eurosystem hat für die Durchsetzung dieser Forderung keine Rechtsgrundlage und müsste sie abschreiben, wobei die Bundesbank rund 30 Prozent des Verlustes tragen müsste.
Ist nicht die größere Gefahr, dass bei einem Austritt Italiens auch andere Länder unter Beschuss der Märkte geraten, austreten und man am Ende nur noch mit einem Nord-Euro dasteht, der heftig aufwerten würde?
Die Gefahr besteht, dass andere Länder in die Schusslinie geraten – sie ist aber auch eine Chance insofern, als die anderen Länder aus Angst davor nun endlich einmal ihre Hausaufgaben machen. Die Gefahr einer Aufwertung lässt mich relativ kalt. Der könnte ein Nord-Euroraum leicht begegnen, indem er mit der eigenen Währung Wertpapiere im Rest der Welt kauft. Jede Notenbank kann sich gegen eine Aufwertung stemmen, die Schweizer tun das seit vielen Jahren mit großem Erfolg.
Man sollte sich von Italiens Austrittsdrohung also nicht beeindrucken lassen?
Ich bin nicht dafür, dass Italien austritt, aber man kann sich auch nicht immer erpressbarer machen. Deshalb muss man eine Politik der finanziellen Solidität und Stabilität wählen anstelle dieser Politik des ewigen Geldausgebens. Italien muss dann selber entscheiden, was es macht. Vielleicht gibt es einen Machtwechsel in Rom, weil die aktuelle Regierung mit ihren Ausgabewünschen am Kapitalmarkt scheitert, und dann kehrt Italien zum Kurs der Vernunft zurück.
Das Interview führte Barbara Schäder.
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