„Wir dezimieren unsere Industrie“

Handelsblatt, 26./27./28. April 2024, Nr. 82, S. 48/49.

Der streitbare Ökonom erklärt seine Sicht auf den drohenden ökonomischen Niedergang Deutschlands, er beklagt eine verfehlte Klimapolitik und den selbstschädigenden Protektionismus.

Auch acht Jahre nach seinem Ausscheiden als ifo-Präsident ist Hans-Werner Sinn kein bisschen altersmilde. Wortgewaltig wie eh und je, gern gegen den Mainstream, bisweilen polemisch, aber immer ökonomisch fundiert - so präsentiert sich der Wirtschaftswissenschaftler im Handelsblatt-Gespräch.

Handelsblatt: Herr Sinn, wir stehen vor wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit zunehmender Deglobalisierung, der ökologischen Transformation und demografischem Wandel. Braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell?

Hans-Werner Sinn: Nein, wir sollten vielmehr erst mal jene Teile des alten Geschäftsmodells reaktivieren, die wir mit politischen Entscheidungen kaputtgemacht haben.

Kaputtgemacht?

Ja, mit den Verbrennerverboten, dem Atomausstieg, dem neuen Protektionismus der EU nach dem Brexit und nicht zuletzt der schleichenden Rückabwicklung der Agenda 2010. Und das alles zu einer Zeit, während der wir ohnehin bereits demographische Probleme hatten.

Also ist das Gerede vom neuen „kranken Mann“ Europas  gerechtfertigt? Der Kanzler sprach zuletzt dagegen  von einem neuen Wirtschaftswunder, das mit dem ökologischen Umbau einhergehen könnte.

Schauen Sie sich die Fakten an: Die deutsche Industrieproduktion fiel seit 2018 um neun Prozent, während die EU im Durchschnitt um fast vier Prozent zulegte, die Schweiz sogar um 20 Prozent. Der Fahrzeugbau ging um 14 Prozent und die Chemieproduktion um 20 Prozent zurück. Das sind alarmierende Zahlen. Von einem Wirtschaftswunder kann in der Zeit der Produktionsverbote nicht die Rede sein.

Mit Verboten meinen Sie die Klimapolitik? 

Ja, die Verbrennerverbote, die Abschaltung der Atomkraftwerke und die allgemeine Energieverknappung. Mit solchen Maßnahmen vertreiben und dezimieren wir unsere Industrie. Leider ist das meiste klimapolitisch unwirksam.

Sie wollen das alte Geschäftsmodell reaktivieren, indem wir ernsthaft  auf Klimaschutz verzichten?

Absolut nicht, wir müssen das Klima schützen. Aber unilateraler Klimaschutz funktioniert nur bei Kohlenstoffen, die man selbst im Boden verwahren kann, also bei der Braunkohle, die man nicht fördert, und beim CO2, das man in den Boden pumpt. Wenn die genutzten Brennstoffe aber anderswo liegen, – und das ist bei Öl, Gas und Steinkohle der Fall – hat man nur wenige Möglichkeiten. Jedenfalls hilft es nicht, wenn Europa und Deutschland Verbrennerautos und Ölheizungen verbieten, weil das Öl dann anderswohin geliefert wird.

Können Sie das belegen?

In den vergangenen 40 Jahren, bis zur Coronakrise, sind die Fördermengen bei kaum sichtbaren Schwankungen einem linear ansteigenden Trend gefolgt, während die Weltölpreise aufgrund unterschiedlicher regionaler Konjunkturlagen kräftig  schwankten. Wenn die eine Region in der Krise war und wenig kaufte, fiel der Weltmarktpreis und andere Regionen nahmen die freigegebenen Mengen gerne ab. Der Weltölmarkt war ein Verschiebebahnhof, während die Summe der Fördermengen selbst nicht reagierte. Nur die Corona-Krise war eine Ausnahme, weil  alle Länder weniger Öl kauften.

Das ist doch realitätsfern. Globale Aktionen wie der Klimaklub haben sich bislang aber nun wahrlich nicht als Schlüssel zur Rettung der Erde erwiesen.

Die Schwierigkeiten bei der Erzielung multilateraler Abkommen verkenne ich nicht. Daraus folgt aber keinesfalls, dass unilaterale Maßnahmen in Form von Nachfrageeinschränkungen bei handelbaren Brennstoffen überhaupt einen Klimaeffekt haben. 

Aber der unilaterale Klimaschutz ist doch entscheidend dafür, dass der globale Klimaschutz überhaupt eine Chance hat: Europa hat eine Vorbildfunktion und muss zeigen, dass die klimaneutrale Umstellung der Wirtschaft zu leisten ist.

Selbst, wenn das Argument stimmen würde:  Dafür muss ja nicht gleich ganz Europa zum Versuchskaninchen gemacht werden. Das Saarland würde reichen. Aber das Argument stimmt nicht. Europa setzt ein Negativbeispiel, das andere nicht nachmachen werden. Wer wird uns schon bei der Dezimierung der Industrie folgen wollen?

Andere Ökonomen sagen, wir dezimieren unsere Wirtschaft weniger mit  dem Klimaschutz, sondern mit mangelnden Investitionen.  Die Schuldenbremse müsse reformiert werden. Was ist da Ihre Haltung? 

Wir brauchen eine harte Schuldengrenze, weil sich die Währungsunion zu einer Haftungsunion entwickelt hat. Die Maastricht-Kriterien wurden durch die EZB ausgehebelt, weil sie es als ihre Aufgabe ansah, die Länderrisiken auszubügeln. Da wegen ihrer Aktionen Schuldenkönige nicht mehr durch wachsende Zinsspreads bestraft werden, ist jegliche Schuldendisziplin verschwunden.

Es geht ja weniger um die Frage der Budgetrestriktionen an sich, sondern um die Frage, wie sie gestaltet sein muss. Die aktuelle Schuldenschranke unterscheidet nicht zwischen konsumtiven und investiven Ausgaben. Das ist doch ein nicht bestreitbares Problem.

Selbst Schulden zur Finanzierung der Infrastruktur verdrängen die privaten Investitionen, weil sie dem Kapitalmarkt Mittel entziehen. Wir haben das ja gesehen: Die Nullzinspolitik trieb die Staaten in die Verschuldung. Die Staatsverschuldung war der Sprengstoff für das Preisniveau, den die Pandemie entzündete. Die Preissteigerung wurde durch steigende Zinsen bekämpft. Der Zinsanstieg ließ die Blasen platzen und stoppte die Investitionen. 

Nun ist es in Deutschland so, dass die Abschreibungen auf die bestehende Infrastruktur in vielen Jahren höher ausfielen als die staatlichen Investitionen. Netto betrachtet investiert die öffentliche Hand seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr. Das ist kein Problem?

Doch. Die Investitionsquote ist sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor zu gering. Wenn wir verhindern wollen, dass die öffentlichen Schulden private Investitionen verdrängen, müssen wir die erforderlichen Mittel dem Konsum entziehen, also entweder die Sozialausgaben senken oder die Steuern erhöhen.

Wo würden Sie ansetzen?

Allein seit 2020 wurde das Volumen des Bürgergelds um 30 Prozent vergrößert, weitaus mehr als das Preisniveau anstieg. Der Staat hat seine Position als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt gefestigt, während ohnehin Arbeitskräfte fehlten. Das musste nicht sein. 

Ist nicht ein Sozialstaat in Zeiten zunehmender Polarisierung unserer Gesellschaften ein Gewinn?

Grundsätzlich ja. Aber wir brauchen ein System, bei dem der Staat als Partner der privaten Wirtschaft auftritt – und jenen Menschen, die durch ihre Arbeit nicht genug verdienen, einen Zuschuss gibt, so dass das soziokulturelle Existenzminimum gewahrt bleibt. Lohnersatzeinkommen an Gesunde zu zahlen, obwohl es einen Mangel an Arbeitskräften gibt, lähmt die Wirtschaft.

Ein weiteres, vielleicht noch größeres Problem ist der demografische Wandel. Wie schätzen Sie Gefahr des damit einhergehenden Arbeitskräftemangels ein?

Das ist ein kaum noch lösbares Problem. Natürlich kann man die Situation durch Zuwanderung etwas verbessern. Aber das reicht nicht. Das umlagefinanzierte Rentensystem wird total überfordert, weil die jetzt sechzigjährigen Babyboomer eine Rente von Kindern erwarten, die sie nicht haben.

Und nun? Der politische Reformwille bei der Rente ist verschwindend gering.

Es bleibt nichts anderes übrig, als länger zu arbeiten. Darauf wird es hinauslaufen, ganz egal was die Politiker heute sagen. Zugleich wird es vor allem darum gehen müssen, die staatlichen Fehlanreize für das Kinderkriegen zu korrigieren.

Das heißt konkret?

Als Bismarck die Rente eingeführt hat, ging es ihm darum, die kinderlosen Alten zu schützen. Das System fußt bis heute auf diesem Ansatz. Plötzlich wurde Altwerden möglich, ohne selbst Kinder zu haben.

Sie wollen weg von der umlagefinanzierten Rente?

Das geht heute nicht mehr, weil im Übergang zu einem kapitalgedeckten System doppelte Lasten entstehen. Was man braucht sind vielmehr wesentlich bessere Anreize dafür, dass auch Familien, die eine gute Ausbildung für die Kinder finanzieren können, Kinder bekommen. Ansonsten könnte man auch das alte Rentensystem ergänzen um eine neue Säule, die Zusatzrenten von der eigenen Kinderzahl abhängig macht und Kinderlose veranlasst, die für die Erziehung nicht benötigte Lebenszeit für den Aufbau einer kapitalgedeckten Zusatzrente zu verwenden.

Rentenreformen sind politisch extrem unattraktiv, weil es Maßnahmen gegen eine Bevölkerungsschicht bedeutet, die immer mehr Wähler stellt…

In zwanzig Jahren werden die jungen Leute sehen, dass kinderlose Alte unter unwürdigen Umständen leben müssen, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht, während alte Eltern immerhin noch von ihren Kindern versorgt werden. Sie werden deshalb umdenken, privat wie politisch, und sich wieder dem  traditionellen Familienmodell zuwenden. Dann ändert sich alles.

Kanzler Scholz verweist bei dem Thema gern auf die 1990er-Jahre. Damals habe es ähnliche Prognosen zum Rentensystem gegeben, die seien aber auch nicht eingetreten. Was halten Sie von solchen Aussagen.

Das kann ich nicht nachvollziehen. Die Rentenprobleme stehen ja vor der Haustür. Ich empfehle dem Kanzler einen Blick auf die deutsche Alterspyramide.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme wird jetzt immer stärker bewusst: Deutschland  hat lange in den besten aller möglichen Welten gelebt. Die Energieversorgung sicherte Russland mit günstigen Gas, um die Verteidigung kümmerten sich die USA, und China kaufte deutsche Investitionsgüter. Erleben wir eine ökonomische Zeitenwende?

Ohne Zweifel. Das gilt insbesondere auch für die internationale Konkurrenzlage. China brauchte die Maschinen aus Deutschland, um seine Industrieproduktion hochzufahren. Inzwischen stellt es die selbst her. Jetzt will sich Europa durch Protektionimus retten. Davor habe ich Angst.

Was konkret meinen Sie?

Etwa das, was die EU-Kommission in Anlehnung an US-Strategen, die den Begriff erfunden haben, Derisking nennt.  Das ist nichts anders als eine semantische Umschreibung für Protektionismus.

Europa will ja gar keine Entkopplung, sondern eben den Abbau von Abhängigkeiten.

Die Unterschiede sind semantischer Natur. Wir kommen ohne China nicht mehr aus. In über 500 Produktgruppen, die das Statistische Bundesamt ausweist, liegen die Importe aus China über 50% der Gesamtimporte. Eigene Industrien aus Sicherheitsgründen zu fördern, ist im Bereich der Pharmaindustrie sinnvoll, auch im digitalen Bereich. Das will ich nicht verhehlen.  Aber eine geschickte Diversifizierung der Lieferketten werden die Unternehmen schon aus eigenem Antrieb betreiben. Da brauchen sie die Politik nicht.

Wir nehmen mal an, dass Ihnen das neue Lieferkettengesetz auch nicht gefällt...

Nein, dass die Unternehmen jetzt ihre ganzen Lieferketten überprüfen müssen bezüglich der Einhaltung von irgendwelchen ethischen Kriterien, das ist versteckter Protektionismus. Kein Protektionist hat jemals zugeben, dass er einer ist. Er argumentiert immer moralisch.

Was ja per se nicht schlecht sein muss …

Doch, weil es ins Abseits führt. Jedes Produkt hat seine Vorprodukte, die wiederum ihre Vorprodukte haben. Das ist so kompliziert, dass man dann lieber gleich ganz auf den Import solcher Güter verzichtet. Was die EU da betreibt, ist eine Verarmungsstrategie.

Sie haben also kein Problem mit Produkten aus Kinderarbeit?

Kinderarbeit ist ein Extremfall. Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn gerade wir Deutschen den  Regierungen und Menschen der dritten Welt Moralvorschriften machen wollen. Welche Anmaßung zu glauben, dass wir von Ferne die Situation besser beurteilen können als die Regierungen und Eltern vor Ort.

Um die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern ist neuerdings wieder Industriepolitik das große Thema. Was halten Sie von Ansiedlungssubventionen für die Chip-Industrie, wie im Falle Intel?

Wenig. Es überzeugt mich nicht, wenn der Staat pro Arbeitsplatz 3,3  Millionen Euro auf den Tisch legt, um damit eine bereits veraltete Technologie einzukaufen. Der Staat sollte sich auf die Förderung der Grundlagenforschung konzentrieren und könnte ansonsten beschleunigte steuerliche Abschreibungen für Technologie-Investitionen der Wirtschaft zulassen. Das ist das beste Instrument – übrigens auch viel besser als Steuersenkungen. Die USA nutzen es mit ihrem IRA-Gesetz.

Wenn Sie sich so gegen Derisiking stemmen: War es nicht fatal, dass Deutschland sich in die Gas-Abhängigkeit Russlands begeben hat?

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Die Abhängigkeit kam nicht zuletzt dadurch zustande, dass die Bundesregierung auf das Gas gesetzt hatte, um die Flatterhaftigkeit der grünen Energien abzupuffern. Im Übrigen ist Russland langfristig schon ein natürlicher Partner Westeuropas. Westeuropa ist stark im verarbeitenden Gewerbe, Russland hat die Rohstoffe, die wir brauchen. Die Strategie, trotz des Eisernen Vorhangs mit Russland Handel zu betreiben, war jedenfalls richtig. 

Wie bitte? Sie behaupten, die Pipeline-Connection hat nicht dazu geführt, dass Putin die Abhängigkeiten Deutschland vom Gas als geopolitische Waffe einsetzen konnte?

Putin war noch nicht an der Macht, als der Eiserne Vorhang zu war. Was ihn betrifft, ist es bedauerlich, dass wir die Chance, die sich im Jahr 2001 bot, nicht genutzt haben. Wenn wir damals auf sein  Angebot, eine Freihandelszone mit der EU zu errichten, eingegangen wären, hätte man den Krieg vielleicht verhindern können. Zu behaupten, dass Putin das schon immer vorhatte, ist mir zu billig.

Zu Billig? Putin hat doch sein Vorgehen in unzähligen Reden oder auch Essays angekündigt? Ihm ging es doch nie um Wirtschaft, sondern immer nur um seine irre Fantasie die Wiederkehr eines großrussischen Reichs.

Er hat einige Jahre nach seinem Angebot eine Kehrtwende gemacht, das ist richtig. Europa hatte die historische Chance für einen dauerhaften Frieden damals nicht einmal ausgelotet.

Heißt das, wir brauchen eine Appeasement-Politik?

Wenn Sie schon auf Chamberlain Bezug nehmen wollen: Wegen der Atombewaffnung Russlands und des desolaten Zustandes der Bundeswehr haben wir keine andere Wahl, als so schnell wie möglich nachzurüsten, die Ukraine zu unterstützen und zugleich den Kriegseintritt zu vermeiden. 

Zum Schluss würden wir gerne über die deutsche China-Politik. Von dort kamen zuletzt große Zeichen der Schwäche. Haben wir China überschätzt?

Nein, das glaube ich nicht. Derzeit haben sie mit dem Platzen einer rieseigen Immobilienblase zu kämpfen. Aber China bleibt ein sehr produktives Land mit sehr fleißigen Menschen.

Europa, das ja sicherheitspolitisch extrem abhängig von den USA ist, ist in einer schwierigen Sandwich-Position zwischen den beiden Supermächten. Was empfehlen Sie?

Wir müssen Partner der USA sein und bleiben, aber im Sinne einer gleichberechtigten Partnerschaft. Voraussetzung ist eine politische, und vor allem sicherheitspolitische Einigung Europas. Wir sind jedenfalls nicht Befehlsempfänger der USA.

Sehen Sie die Risiken, sollte Donald Trump wiedergewählt werden?

Wenn man einen politischen Konfrontationskurs zwischen den Migranten in den Städten und der Stammbevölkerung auf dem Land fährt, wie Trump das tut, dann dient das bestimmt nicht der Befriedung des Landes. Im übrigen finde ich den Grundansatz der Biden-Regierung richtig, mehr auf den Sozialstaat zu setzen, so sehr ich den Unseren für verbesserungswürdig halte. Amerika hat zu wenig Sozialstaat, Europa zu viel.

Zum Schluss eine Prognose: Wo steht Deutschland in zehn Jahren?

Deutschland ist vor allem wegen der Rentenkrise und der Verstrickung in europäische Haftungssysteme großen Risiken ausgesetzt. Wer investiert in ein Land, wo er sich vermutlich an hohen Finanzierungslasten wird beteiligen müssen? Dazu kommt noch die problematische Energie- und Klimapolitik. Und wenn einem die Wettbewerber zusetzen, kann man nicht selber nur die soziale Hängematte auspolstern. Fest steht jedenfalls, dass der Kurs, den Deutschland seit der Ära Merkel eingeschlagen hat, so nicht funktioniert.

Das Gespräch führten Jens Münchrath und Julian Olk.

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