€uro, 18. Mai 2024, Nr. 6/2024, S. 26-31.
€uro: Die Sozialbeiträge in Deutschland steigen drastisch. Ist das überhaupt noch zu verkraften?
Hans-Werner Sinn: Wegen der bevorstehenden Verrentung der Babyboomer wird es einen riesigen Verteilungskonflikt zwischen den Jungen und den Alten geben. Die Alten wollen ihre versprochenen Renten, die Jungen möchten aber nicht mehr von ihrem Lohn hergeben. Die Immigration kann das nur etwas dämpfen. Die vorläufig unvermeidliche Lösung besteht darin, länger zu arbeiten. Diese Lösung entlastet das Rentensystem, weil die Alten länger einzahlen und erst später in die Rente gehen dürfen.
Bernd Raffelhüschen hat auf die hohe implizite Verschuldung Deutschlands durch die Sozialversicherungen hingewiesen. Wie sehen Sie das?
Das ist korrekt. Staatsverschuldung und ein Rentensystem nach dem Umlagesystem, das ja nicht über einen Kapitalvorrat verfügt, sind ökonomisch so ziemlich dasselbe. Beim Rentensystem habe ich einen Anspruch gegen zukünftige Beitragszahler. Wenn ich ein Staatspapier in der Hand halte, habe ich einen Anspruch gegen zukünftige Steuerzahler, die das Papier bedienen müssen. Die Rentenversicherung hat eine implizite Verschuldung, die ein Mehrfaches des Sozialprodukts ausmacht.
Die Ampelregierung will mit dem schuldenfinanzierten „Generationenkapital“ am Kapitalmarkt anlegen. Aber das kommt spät, der Effekt wird überschaubar sein.
Mit Riester wurde vor über 20 Jahren versucht, das Rentensystem auch auf einen kapitalgedeckten Sockel zu stellen. Das sollte ursprünglich eine Aktienanlage sein, weil Aktien inflationssicher sind und einen realen Anspruch bedeuten. Herausgekommen sind nominalwertgesicherte Anspruchstitel mit einem festen Zins, deren Wert schon durch die letzte Inflation binnen drei Jahren um fast ein Fünftel erodiert ist. Das war also der falsche Weg. Die Leute sollten stattdessen mehr in Form von Aktien sparen und sich auf diese Weise einen Anspruch gegen das Realkapital in dieser Welt sichern. Das können deutsche oder internationale Aktien sein; die bringen Dividenden und die kann man verkaufen. Man hat etwas Reales. Da kann die Inflation sein, wie sie will, man ist nicht davon betroffen.
Das kann nur langfristig helfen, aber das Rentensystem wird jetzt schon mit mehr als 100 Milliarden Euro jährlich gestützt.
Nochmal: Die Pensionierung der Babyboomer wird radikale Schritte erfordern. Bis 2034, 2035 sind alle geburtenstarken Jahrgänge in Rente — und dann ist hier der Teufel los, wenn die vielen Rentner bezahlt werden wollen von den Beiträgen von Kindern, die sie nicht hatten. Dagegen ist kein Kraut gewachsen: Ist die nachfolgende Generation zu klein, kriegt man das erwartete Geld nicht und muss zwangsläufig länger arbeiten.
Droht uns dauerhaft höhere Inflation?
Ich glaube nicht, dass wir zu den sehr niedrigen Inflationsraten zurückkehren werden, die wir vor der Pandemie hatten. Die Kerninflationsrate liegt mit drei Prozent deutlich über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB), und es gibt Anzeichen dafür, dass sie sich auf einem höheren Niveau stabilisiert. Dies ist bedingt durch starke Lohnsteigerungen, die die Inflation weiter antreiben. Gemäß dem Maastricht-Vertrag hat die EZB nur ein Ziel, das sie kompromisslos verfolgen muss: die Konstanz des Preisniveaus, also eine Inflation von null Prozent. Mit semantischen Tricks wurden daraus im Laufe der Zeit zwei Prozent. Aber auch die werden vorläufig wohl nicht mehr erreicht.
Wie beurteilen Sie das Haushalts- und Schuldenproblem in Deutschland?
Auch der deutsche Staat hat von der lockeren EZB-Geldpolitik profitiert und sich über die letzten Jahre zunehmend verschuldet. Dies hat die Bundesregierung durch Sondervermögen und andere buchhalterische Tricks verschleiert, was das Bundesverfassungsgericht kürzlich beendet hat. Mit den gestiegenen Zinsen wurden die Kosten dieser Verschuldung spürbarer. Das ist heilsam. Wir können nicht dauerhaft unsere Ansprüche auf das Produktionspotenzial überdehnen. Das führt nur zur Inflation und dann zu Riesenverlusten der Sparer, auch der Riester-Sparer und der Kunden der Lebensversicherungen, die darauf angewiesen sind, dass der Geldwert erhalten bleibt.
Wie kann der Staat Gelder umschichten?
Er muss weg von Sozialleistungen, die im wesentlichen ausgezahlt werden unter der Bedingung, dass man sich nicht am Arbeitsprozess beteiligt. Der Skandal beim Bürgergeld ist ja offenkundig. Die Ukrainer arbeiten in Deutschland zu 17 Prozent, in Holland zu 70 Prozent. Mit dem Bürgergeld macht sich der Staat zum Konkurrenten der privaten Wirtschaft. Er sagt: „Ihr müsst nicht in die Wirtschaft, ihr könnt auch zu mir kommen.“ Kürzlich habe ich in Berlin ein Plakat des Jobcenters gesehen. Es wirbt offen dafür, zu diesem Jobcenter zu kommen, dort helfe man den Leuten dabei, unbürokratisch an ihr Geld zu kommen. Und das machen dann auch viele.
Um die Targetsalden ist es ruhig geworden. Wie brisant ist dieses Thema noch?
Es wird in der Politik weitgehend ignoriert, obwohl die Targetforderungen der Bundesbank die Hälfte unseres Nettoauslandsvermögens umfassen, das wir durch Exportüberschüsse aufgebaut haben. Die Targetsalden repräsentieren Überziehungskredite innerhalb des Eurosystems, letztlich angetrieben durch die lockere Geldpolitik. Die Forderungen der Bundesbank gegenüber dem Eurosystem sind ungedeckt und stellen ein erhebliches Verlustrisiko für Deutschland dar, sollte das Eurosystem ins Wanken geraten. Es ist ein Missverständnis zu glauben, diese Salden seien nur buchhalterische Verrechnungen ohne realwirtschaftliche Konsequenzen. Das haben zwei angelsächsische Ökonomen von Rang, David Blake und Enrico Perotti, gerade kürzlich in zwei wissenschaftlichen Aufsätzen betont.
Könnte der Euro in den kommenden Jahren platzen?
Ich glaube nicht, dass der Euro zusammenbrechen wird. Wir werden eher sehen, dass in der nächsten Krise erneut Sozialisierungs- und Bailout-Aktionen ergriffen werden — gerade weil Deutschland um die Targetsalden fürchten muss.
Im EU-Kontext muss auch die deutsche Klimapolitik gesehen werden. Sie sagen: „Der Auspuff eines Elektroautos ist nur ein Kohlekraftwerk weit entfernt.“ Können wir mit E-Mobilität das Klima schützen?
Nein. Sehen wir uns das einmal für Deutschland an: Zunächst haben wir noch eine Menge Kohlestrom im Netz. Zweitens sollen ja viele neue Gaskraftwerke gebaut werden. Elektroautos fahren also nicht nur mit grünem Strom. Die Batterien werden meist in Ländern wie China produziert, deren Kohleanteil im Strommix sogar noch höher ist als in Deutschland. Vor allem aber bleiben die fossilen Brennstoffe, die wir in Europa nicht nutzen, nicht im Boden, sondern werden anderswohin geliefert und verbraucht. Durch europäische Regulierungen bedingte Nachfragereduktionen führen zu niedrigeren Weltmarktpreisen. Das billigere Öl verbrennen andere Länder gerne.
Unsere Politik ist nicht nur ineffektiv, sondern hat auch ungewollte Folgen?
Genau. Wir suggerieren, dass wir zumindest einen kleinen Beitrag leisten können, aber das ist nicht der Fall. Die globale Ölproduktion reagiert nicht auf von Europa verursachte Preisänderungen am Weltmarkt. Das Öl wird einfach woanders verbrannt. Die unilaterale nachfrageorientierte Klimapolitik der EU scheitert auf ganzer Linie. Die einzig wirksame Politik wäre, dass die Förderländer das Öl im Boden lassen. Das ist schwer zu erreichen, es sei denn, alle verbrauchenden Länder schließen sich zusammen und senken gemeinsam ihre Nachfrage. Das hat die Pandemie gezeigt: Die Nachfrage sank weltweit, der Ölpreis fiel massiv, die Produktionsländer mussten die Förderung drosseln, um den Preis wieder hochzutreiben.
Sie sprechen von einem „Klima-Club“.
Die Idee ist, dass Länder, die dem Club beitreten, sich verpflichten, ihre CO-Emissionen gemeinsam zu reduzieren. Nur durch koordinierte internationale Aktionen können wir Wirkung erzielen. Einseitige Schritte einzelner Länder wie Deutschland machen nur unsere Industrie kaputt und nützen Konkurrenten. Die werden die Zerstörung der Wettbewerbsfähigkeit keinesfalls nachahmen.
Hat sich Deutschland wirtschaftspolitisch auf ein Abstellgleis begeben?
Das Problem liegt eher bei den EU-Regeln. Sie zielen darauf ab, die industriellen Gewichte innerhalb der EU zu verschieben, weg von Deutschland hin zu Ländern, die in den Bereichen Elektroautos und Strom besser aufgestellt sind. Eine Lösung könnte sein, das Verbrennerverbot und die dazugehörigen CO2-Verordnungen zu kippen. Sie haben keine Klimaeffekte, belasten aber unsere Wirtschaft.
Wird die Energie- und Klimapolitik in Deutschland oft emotional und ideologisch geführt?
Ja, leider. Deutschland neigt dazu, sich von ideologischen Überzeugungen zu Politikmaßnahmen verleiten zu lassen, die oft nicht funktionieren. Dies sehen wir in der Klimapolitik, die ungeachtet der Kenntnis ökonomischer Wirkungszusammenhänge, ja manchmal sogar ohne hinreichende naturwissenschaftliche Kenntnisse gestaltet wurde. Das führte zu ineffektiven Entscheidungen wie dem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie, während andere Länder wie Frankreich neue Atomkraftwerke bauen.
Welche Folgen haben solche Schritte?
Deutschland wird offiziell „grüner“, doch in Wahrheit drückt es seine überschießenden grünen Stromspitzen zu sehr schlechten, manchmal sogar negativen Preisen in ausländische Netze und kauft dafür während der Dunkelflauten teuren Atom- und Kohlestrom aus dem Ausland zu. Das lässt den grünen Strom in den offiziellen Statistiken brillieren, während der importierte Atom- und Kohlestrom, den wir verbrauchen, dort gar nicht erscheint.
Und das Heizungsgesetz . . . ?
... verursacht enorme Kosten, die die privaten Haushalte und der Staat tragen müssen, während der tatsächliche Nutzen für die CO2-Einsparung gar nicht vorhanden ist, weil das eingesparte Öl in anderen Teilen der Welt günstig verfügbar und verbrannt wird. Zudem erfordert die Umstellung auf Wärmepumpen erhebliche Mengen an Strom, der derzeit weder nachhaltig bereitgestellt noch durch die vorhandenen Leitungen gepresst werden kann. In Oranienburg dürfen schon jetzt keine neuen Wärmepumpen mehr angeschlossen werden, weil der Strom nicht reicht.
Wie sieht die Zukunft der Energieversorgung aus?
Die Volatilität von Energiequellen wie Sonne und Wind und die mangelnde Speicherfähigkeit, die der Bundesrechnungshof gerade noch mal betont hat, führen dazu, dass wir weiter auf fossile Kraftwerke angewiesen sind, um Engpässe zu überbrücken. Ohne die vorhandene konventionelle Netzwerkkapazität und die Hilfe aus dem Ausland zur Abdeckung der Dunkelflauten lässt sich der Wind- und Sonnenstrom gar nicht verwerten. Der Rechnungshof bezeichnet die Rechnungen der Regierung zur Versorgungssicherheit als „wirklichkeitsfremd“ und wirft ihr vor, mit „unwahrscheinlichen“ „Best-Case“-Annahmen zu arbeiten.
Doch Deutschland will 2045 klimaneutral sein.
Wir wollen schon in 20 Jahren gar keine fossilen Energiequellen mehr nutzen. Der Wind- und der Sonnenstrom deckten aber 2023 gerade mal acht Prozent unseres Primärenergiebedarfs. Alle grünen Energien zusammen lagen bei knapp 20 Prozent. Es ist geradezu absurd und utopisch, die Lücke von 80 Prozent in nur etwa 20 Jahren vornehmlich mit einer Vervielfältigung des Wind- und Sonnenstroms schließen zu wollen. Die Leute werden gegen den klimapolitischen Extremismus der Regierung aufbegehren, weil sie die damit verbundene Deindustrialisierung nicht akzeptieren.
Welchen Einfluss hat all dies auf den Wohlstand in Deutschland?
Wir erleben bereits einen Wohlstandsverlust. Bei der Rente bleibt er nicht aus, wenn immer weniger arbeiten. Wohlstandsschädlich sind unilaterale Klimapolitiken wie das Verbrenner- und Ölheizungsverbot. Alles für die Katz, wenn man bedenkt, dass das Öl anderswo in der Welt verbrannt wird und wir mit riesigen Ausgaben belastet werden.
Ist Deutschland eigentlich noch eine Marktwirtschaft?
Deutschland behält formal die Struktur einer Marktwirtschaft bei, jedoch werden wir schleichend dirigistischer. Ständig neue Anordnungen, Gebote und Verbote sowie eine ausufernde Bürokratie schränken die Bewegungsfreiheit der Unternehmen stark ein. Dieser zunehmende Neodirigismus, wie mein Nachfolger beim Ifo-Institut Clemens Fuest es nennt, ist eine reale Bedrohung für die Wirtschaft.
Wenn wir weiter so agieren wie bisher – wie sieht Deutschland dann 2034 aus?
Wenn wir so weitermachen, werden wir ziemlich viel ruiniert haben. Dann gibt es Verteilungskonflikte zwischen Jung und Alt und die schon sichtbaren ethnischen Konflikte aufgrund der Migration; eine schwierige Gemengelage. Deshalb ist es richtig, dass alle Parteien in Deutschland jetzt allmählich aufwachen und vorsichtig umsteuern.
Zu etwas Erfreulicherem: Immer mehr Deutsche legen in Aktien an. Wie sehen Sie die Finanzmärkte, die immer stärker von den Notenbanken beeinflusst werden?
Die Inflation ist durch die lockere Geldpolitik der Notenbanken mit verursacht worden, weil sie die Staaten veranlasst hat, sich stärker zu verschulden. Verschuldung ist Nachfrage des Staates, sie erhöht auch tendenziell das Preisniveau. Das hat in der Pandemie gewirkt, als die Lieferkettenprobleme das Angebot verknappt haben. Dann haben die Zentralbanken gemerkt, dass sie etwas dagegen tun müssen und die Zinsen erhöht. Die Zinserhöhung wiederum hat die Bewertungsblasen, die die Nullzinspolitik zuvor erzeugt hatte, zum Platzen gebracht. Das ist ein Riesenproblem der Banken, die aufgrund der Wertverluste ihrer Aktiva durch den Zinsanstieg noch Abschreibungsbedarf haben. Aber zumindest hat die Inflation dazu geführt, dass die Leute sich auf Aktien stürzten, weil sie wussten, dass Aktien hier eine gewisse Sicherheit bedeuten. Wer Aktien gehalten hat, ist vom Platzen der Blasen in den letzten drei Jahren verschont geblieben.
Wie legen Sie eigentlich persönlich Ihr Geld an?
Man kann einfachen Bürgern nur den allgemeinen Rat geben, in Immobilien zu investieren. Viele Menschen auf dem Land bauen mit Nachbarschaftshilfe ein eigenes Häuschen. Das ist eine sehr gute Absicherung für das Alter, da man keine Miete zahlen muss. In Städten mag das schwieriger sein, aber dank Homeoffice können die Städter auch auf dem Lande nach Immobilien suchen. Wer darüber hinaus noch Geld zur Verfügung hat, kann in Aktien gehen.
Das Interview führten Marian Kopocz und Frank Mertgen.