Die Europäische Zentralbank strebt eine jährliche Inflationsrate von zwei Prozent an. Doch eine überzeugende Herleitung dafür gibt es nicht, argumentiert Bert Rürup.
Die Europäische Zentralbank (EZB) dürfte in der kommenden Woche ihre Leitzinsen senken. An den Finanzmärkten werden im Jahresverlauf zwei weitere Zinsschritte um je 0,25 Prozentpunkte erwartet. Es stellt sich jedoch die Frage, warum die EZB ihre geldpolitischen Zügel bereits jetzt lockert – obwohl sie ihr selbst gestecktes Inflationsziel vorerst nicht erreichen wird. Im April lag die Inflationsrate im Euro-Raum bei 2,4 Prozent und dürfte nach den vorliegenden Prognosen in den kommenden Monaten eher steigen als zurückgehen. Energie hat sich auf Jahressicht wieder verteuert, und die Löhne in zahlreichen Branchen sind kräftig gestiegen. Laut EZB-Lohn-Tracker sind die Tariflöhne im Währungsraum im ersten Quartal 2024 mit einem Plus von 4,7 Prozent stärker gestiegen als im Schlussquartal 2023, als sie auf Jahressicht um 4,5 Prozent zugelegt hatten.
Auf ihrer Internetpräsenz schreibt die EZB: „Wir halten die Preise stabil, indem wir dafür sorgen, dass die Inflation niedrig, stabil und berechenbar bleibt. Mittelfristig streben wir eine Inflationsrate von zwei Prozent an. Wir verstehen dieses Ziel als ein symmetrisches Ziel. Das heißt, unserer Auffassung nach ist eine zu niedrige Inflationsrate genauso negativ wie eine zu hohe Inflationsrate.“
Seit dem Jahr 2021 hat die EZB ihr selbst gesetztes Inflationsziel jedoch klar verfehlt. So liegt das Preisniveau im Euro-Raum heute deutlich höher als Anfang 2020 – also vor dem Ausbruch der Pandemie, dem Zusammenbruch der Lieferketten nach Fernost sowie der russischen Invasion in die Ukraine. Im Schnitt der vergangenen vier Jahre betrug die jährliche Inflationsrate mehr als vier Prozent anstatt der angestrebten zwei Prozent. Es spräche also einiges dafür, dass die EZB ihren im Juli 2022 eingeschlagenen restriktiven Kurs beibehält.
Anders als die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) ist die EZB „kompromisslos der Preisstabilität verpflichtet“, wie Ex-Ifo-Chef Hans-Werner Sinn betont. Laut Vertrag über die Arbeitsweise der EU ist es „das vorrangige Ziel“ der Notenbank, die Preisstabilität zu gewährleisten. Nur soweit dies „ohne Beeinträchtigung“ dieses dominanten Ziels möglich ist, habe die Bank „die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union“ zu unterstützen.
Vieles deutet darauf hin, dass die Zeiten extrem niedriger Inflationsraten wie in den 2010er-Jahren bis auf Weiteres nicht wiederkehren werden. So dürfte der Euro zumindest kurzfristig gegenüber dem Dollar an Wert verlieren, da die Fed – wenn überhaupt – erst später als die EZB die Zinswende einläuten wird. Und ein schwächerer Euro verteuert die Importe in den Währungsraum und wirkt somit inflationstreibend.
Zudem erfordert die in der EU angestrebte überfällige Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hohe Investitionen, die nicht die Produktivität steigern, wohl aber viele Waren und Dienstleistungen verteuern werden. Steigende CO2 -Steuern und Umweltabgaben führen überdies zu Preissteigerungen.
Die Alterung der Bevölkerung wird in letztlich allen EU-Ländern das Arbeitsangebot verringern – und damit einen Erhöhungsdruck auf Löhne und Preise ausüben. In der gesamten EU werden 2050 auf eine Person im Alter ab 65 Jahren weniger als zwei Personen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren kommen – und damit nur noch nur halb so viele wie 2001.
Hinzu kommt, dass die Globalisierung, die in den zurückliegenden drei Dekaden Garant für eine moderate Teuerung war, als Preisbremse an Bedeutung verlieren wird. Die Konsumenten in Deutschland und im übrigen Westeuropa profitierten lange Zeit über sinkende Preise für zahlreiche Alltagsgüter wie etwa Bekleidung, Möbel und Elektronik von der Integration Osteuropas, Chinas und Südostasiens in den Welthandel.
Mittlerweile ist das Lohnniveau auch in Fernost kräftig gestiegen, und der Protektionismus feiert rund um den Globus ein Comeback. Heute ist es kaum vorstellbar, dass die Regierungen der entwickelten Industriestaaten es hinnehmen, dass preiswerte, aus China importierte E-Autos die heimische Autoindustrie schädigen – auch wenn dies dämpfend auf die Inflation wirken würde.
Somit stellt sich die Frage, ob die EZB an ihrem bisherigen „Zwei-Prozent-Ziel“ festhalten kann oder sollte. Eine allgemein akzeptierte Definition von „Preisstabilität“ gab und gibt es genauso wenig wie eine analytische Begründung für das Zwei-Prozent-Ziel. Gleichermaßen fehlt eine empirisch gut belegte oder allgemein akzeptierte Theorie, die Geldwirtschaft und Realwirtschaft miteinander verbindet. Unstrittig ist nur: Je größer der Abstand der Teuerung zur Nullmarke ist, desto einfacher lässt sich mit den Mitteln der konventionellen Geldpolitik das ekelhafte Problem einer Deflation, also ein dauerhaft sinkendes Preisniveau, verhindern.
Zur Zeit ihrer Gründung galt die EZB als „Europäische Bundesbank“. Es war daher naheliegend, das Inflationsziel des deutschen Vorbilds „unter zwei Prozent“ zu übernehmen. Dieses Ziel stammt aus den 1970er-Jahren und war ein pragmatischer Wert aus einer Zeit, in der die Inflationsraten in Deutschland mit sechs bis sieben Prozent bemerkenswert hoch waren.
Die „zwei Prozent“ waren ein Signal, dass die Bundesbank sich um deutlich geringere Inflationsraten bemühen werde. Da die anderen wichtigen Notenbanken ähnlich agierten, ging ab den 1980er-Jahren die Inflation weltweit zurück, und die Notenbanken konnten ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit erwerben.
Im Jahr 2003 änderte die EZB ihr Ziel auf „unter, aber nahe zwei Prozent“. Der damalige EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing stellte klar, dass darunter langfristige Inflationserwartungen innerhalb eines engen Korridors von 1,7 bis 1,9 Prozent zu verstehen seien. Seit 2021 gilt ein symmetrisches Ziel von „mittelfristig zwei Prozent“ – welchen Zeitraum „mittelfristig“ umfasst, bleibt im Ungewissen.
Diskussionswürdig ist zudem, ob sich die Geldpolitik mit dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex an der richtigen Zielgröße orientiert. Denn dieser Index berücksichtigt nur, was einen monetären Preis hat. Google, Facebook und andere Plattformunternehmen erbringen jedoch Leistungen, die sie sich nicht mit Geld, sondern mit Daten bezahlen lassen – und die damit keinen Einfluss auf die Inflation haben. Und wenn digitale Leistungen gegen Geld erbracht werden, wie etwa der Handelsblatt-Digitalpass, so sind diese digitalen Güter preiswerter als ihre analogen Pendants.
Auf der anderen Seite ist es erklärtes Ziel der Politik, klimaschädliche Produkte zu verteuern und so die Verbraucher zum Sparen oder zum Umstieg auf Alternativen zu motivieren. Das Zulassen einer dadurch verursachten höheren Inflation käme einer impliziten Besteuerung gleich, die weniger spürbar als offene Steuererhöhungen wäre. Dies fallweise zu entscheiden würde das Mandat der EZB überdehnen.
Die EZB steckt mithin in einem Dilemma: Wenn sie ihr bisheriges Inflationsziel ernst nimmt, darf sie ihren Kurs nicht lockern. Wenn sie sich – und vor allem der Politik (!) – mehr Spielraum verschaffen möchte, ist eine Lockerung naheliegend. Diese Herausforderung kommt einer Quadratur des Kreises gleich.