Ökonom Hans-Werner Sinn kritisiert die deutsche Politik scharf. Verbrennerverbot, Atomausstieg, Schuldenbremse: In fast allen wichtigen Themen widerspricht der ehemalige Chef des Ifo-Instituts der Ampelkoalition und vielen Experten. Nun hat er in einem Interview nachgelegt.
„Der Bildungsstand der Schüler ist auf keinem guten Niveau“, sagt Sinn der Neuen Züricher Zeitung in einem Interview . „Das hat viel mit der Migration zu tun. Migrantenkinder haben erst einmal Schwierigkeiten, Deutsch zu sprechen.“ Außerdem sei es nicht gelungen, bei jungen Migranten ein Interesse an Lehrstellen im dualen Ausbildungssystem zu wecken und die Leistungsfähigkeit der Schulen ganz allgemein habe abgenommen. Und: „Das Streben nach Work-Life-Balance hat das alte Arbeitsethos verdrängt.“
In ähnlichen Rundumschlägen bedenkt Sinn alle Schwerpunkte derzeitiger Politik. Seine wichtigsten Aussagen im Überblick.
Staatsschulden als „Rauschgift“ für die Wirtschaft
Während Länder wie die USA und Italien ihre Wirtschaft mit schuldenfinanzierten Staatsmilliarden ankurbeln, hält die Bundesrepublik an der Schuldenbremse fest. Gut so, meint Sinn. Staatsschulden seien „Rauschgift für die Wirtschaft“.
Staatsausgaben verdrängten private Investitionen. Minister und Beamte legten das Geld aber schlechter an als Privatinvestitoren, die ihren eigenen Wohlstand riskieren: „Nicht kundige Investoren, die um ihr Geld bangen, sondern realitätsferne Politiker entscheiden, in welche Branchen Geld fließen soll und in welche nicht.“
Andere Ökonomen widersprechen Sinn und fordern Änderungen an der Schuldenbremse. Nicht um mit Staatskrediten die Wirtschaft anzukurbeln, wie Sinn unterstellt. Sondern um Investitionen zu finanzieren, die den Unternehmen ihre eigenen Investitionen erst ermöglichen und die niemand außer dem Staat tätigt: Energiekrise lösen, Versorgungsnetze aufbauen, Straßen und Schienen sanieren, bessere Bildung, mehr Digitalisierung. Diese Probleme können Unternehmen nicht oder bestenfalls teilweise selbst lösen. Wie der Staat seinen Anteil am jüngst auf 600 Milliarden Euro bezifferten Sanierungsprojekt ohne Schulden leisten soll, sagt Sinn nicht.
Schuldenbremse beibehalten
Reformvorschläge zur Schuldenbremse liefen immer auf eine Lockerung hinaus, sagt Sinn. Deutschlands Schuldendisziplin und Bonität stabilisierten aber die Euro-Währungsunion. Folglich müsse die Bundesrepublik an ihrer strikten Finanzpolitik festhalten.
Neues Schuldensystem für die EU: Jedes Land für sich selbst
Für die EU schlägt Sinn ein System mit harten Budgetbeschränkungen vor, in dem ein jedes Land für seine eigenen Schulden einsteht, anstatt sich auf die Hilfe anderer zu verlassen. „Der Schweizer Föderalismus funktioniert auch nur, weil es dort keine Zuständigkeit von übergeordneten Gebietskörperschaften für die Schulden untergeordneter Gebietskörperschaften gibt. Gläubiger wissen deshalb, dass sie die Bonität ihrer Schuldner genau prüfen müssen. Das ist eine automatische Schuldenbremse im System.“
Sinn: Umweltnutzen der Elektroauto-Politik nicht vorhanden
Steigt Deutschland aus dem Verbrenner aus, bringt das der Umwelt gar nichts, sagt Sinn: Die sinkende Ölnachfrage drücke die Preise pro Barrel. Andere Länder kaufen und verbrennen mehr. Das Ergebnis bleibt gleich. Diese Politik sei wirkungslos: „Der Effekt der Verbote ist nicht nur klein, weil Europa klein ist, sondern er ist null.“ Und: „Das Verbrennerverbot ist sofort zu kippen.“
Die Folgen für die Wirtschaft seien katastrophal: „Deutschland richtet seine eigene Industrie zugrunde. Das werden andere Länder begrüßen, aber nicht kopieren. Denn deren eigene Industrie wird über das zufließende Öl sogar gefördert.“
Für ähnliche Aussagen, die Sinn seit Jahren wiederholt, erhielt er bereits viel Kritik: „Hans-Werner Sinn irrt", kommentierte Ökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) inhaltsgleiche Aussagen von vor gut einem Jahr gegenüber FOCUS online .
Länder stiegen weltweit aus dem Verbrennungsmotor aus, der Ölmarkt funktioniere durch die Eingriffe der OPEC keineswegs so einfach, wie Sinn es darstellt, und andere Staaten stürzten sich keineswegs so begierig auf in Deutschland eingespartes Öl, wie der Ex-Ifo-Chef behauptet. Der CO2-Ausstoß sinke durch die EU-Politik folglich, meint Kemfert.
Studien legen außerdem nahe, dass die Nachfrage nach Verbrennungsmotoren in den kommenden Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Danach sinkt sie, getrieben durch Verbesserungen bei E-Autos und weil der Verkehr ab 2027 in den Emissionshandel einfließt. Sprit dürfte dadurch deutlich teurer werden. Viele Experten sehen daher in Elektrofahrzeugen die Zukunft der Autoindustrie.
Nur internationale Abkommen helfen gegen den CO2-Ausstoß
„Nur die Europäer und ein paar andere grün gesinnte Länder machen mit“ bei der Reduzierung des CO2-Ausstoßes, sagt Sinn. Die Klimakrise sei aber unlösbar, bis sich alle wichtigen Länder einbringen, etwa in einer Art Klimaclub.
Auch für diese Aussage, die Sinn seit Jahren wiederholt, erhielt er bereits viel Kritik. Internationale Bemühungen zum CO2-Sparen gibt es seit Langem, unter anderem im Pariser Klimaabkommen. Die G7-Länder gründeten einen Klimaclub. China führt beim Ausbau erneuerbarer Energien.
Alle Ökonomen fordern mehr Kooperation beim Klimaschutz. Es gibt sie aber bereits. Das Verbrenner-Aus, das Sinn kritisiert, ist eine Folge der Zusammenarbeit, die er fordert.
Zurück zur Atomkraft
Die Energiepolitik des vergangenen Jahrzehnts würde Sinn am liebsten zurückdrehen. Neben dem Verbrennerverbot bezieht er diese Aussage auch auf die Atomkraft: „Technisch müssen wir zurück zur Kernkraft, damit wir wieder niedrigere Strompreise bekommen.“ Alte Reaktoren reaktivieren, neue Flüssigsalzreaktoren bauen.
Experten halten die fünf zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke tatsächlich binnen weniger Jahre für reaktivierbar. Auch die Kosten halten sich wohl in Grenzen. Die CDU unterstützt ähnliche Pläne wie Sinn.
Wann Unternehmen die von Sinn angesprochenen Flüssigsalzreaktoren bereitstellen können, bleibt aber offen: Noch befinden sich diese in den letzten Phasen der Entwicklung.
US-Wahl: Lieber Harris als Trump für die Wirtschaft
Demokraten und Republikaner ähnelten sich in der Handelspolitik, sagt Sinn. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris sei jedoch bekannt dafür, dass sie nicht viel von Handelsrestriktionen hält. „Wenn sie gewählt würde, könnte man in Europa also etwas aufatmen. Der Protektionismus würde dann vielleicht nicht so auf die Spitze getrieben, wie das unter Trump zu erwarten wäre.“
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