Nach dem Triumph der AFD in Ostdeutschland kritisiert der renommierte Ökonom Hans-Werner Sinn die Ampel. Im Fokus: Ihre Klima- und Finanzpolitik sowie der aktuelle deutsche Zeitgeist.
München – Mit einer deutlichen Meinung hält sich der Ökonom Hans-Werner Sinn selten zurück. In den vergangenen Jahren ist dabei besonders die Politik der Ampelregierung um SPD, Grünen und FDP immer wieder Ziel seiner vernichtenden Kritik an der Entwicklung Deutschlands geworden.
München – Mit einer deutlichen Meinung hält sich der Ökonom Hans-Werner Sinn selten zurück. In den vergangenen Jahren ist dabei besonders die Politik der Ampelregierung um SPD, Grünen und FDP immer wieder Ziel seiner vernichtenden Kritik an der Entwicklung Deutschlands geworden.
Nach dem Beben bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, bei dem die AFD stärkste bzw. zweitstärkste Partei wurde, holte der ehemalige Chef des ifo-Instituts nun im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zum erneuten Rundumschlag aus. Der O-Ton: Mit der Ordnungspolitik der Grünen, dem erzwungenen Verbrenner-Ausstieg und „weiteren energiepolitischen Sünden“ sorge man in Deutschland für eine Deindustrialisierung, so die These des 76-Jährigen.
Hans-Werner Sinn kritisiert Ampel: „Kein Wunder, dass links und rechts neue Parteien entstanden sind“
Dass die Bevölkerung diese Entwicklung zurecht nicht mehr mittragen wolle, sieht der Ökonom in den jüngsten Wahlergebnissen in Ostdeutschland bestätigt: „Kein Wunder, dass links und rechts neue Parteien entstanden sind, die diesen Kurs nicht mittragen wollen.“
Die „selbstgefälligen Brandmauern und Schmähungen“ gegenüber diesen neuen Parteien seien die größte Schwäche der Altparteien – und eine Erklärung für die Wahlklatsche der Ampel. Man habe sich argumentativ zu wenig mit den neuen Parteien befasst, erklärt Sinn weiter. Im Falle einer AfD-Beteiligung an den Landesregierungen in Thüringen oder Sachsen erwartet Sinn in der lokalen Wirtschaft gespaltene Reaktionen: „Sollte die AfD tatsächlich beteiligt werden, weil Brandmauern eingerissen werden, reduziert sich die Gefahr der Unregierbarkeit der Länder.“ Diese Abwendung eines Stillstandes würde vermutlich viele Unternehmen erleichtern. Wiederum andere Unternehmen fürchten die daraus resultierenden Konsequenzen wie etwa den Migrationstopp und „die damit einhergehende Lohnerhöhung“, so Sinn. Letztendlich erwarte er selbst aber geringe Auswirkungen: „Die Kartoffeln werden auch in Deutschland nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wurden.“
Allerdings ist vielerorts in Ostdeutschland eher das Gegenteil der Fall – die Stimmung in der lokalen Wirtschaft ist bedrückt. „Ich mache keinen Hehl daraus, dass mich die bisherigen Ergebnisse sehr aufwühlen“, erklärte etwa Rico Chmelik, Geschäftsführer des Verbands Automotive Thüringen, gegenüber dem Spiegel.
Deindustrialisierung wegen Wahlerfolg der AfD? Sinn widerspricht und erwartet „geringe Auswirkungen“
Auch Daniel Hannemann, Gründer der Stromspeicherfirma Tesvolt aus Wittenberg in Sachsen-Anhalt, drückte dem Nachrichtenmagazin seine Sorgen aus und sprach gar von „Deindustrialisierung“ durch den Wahlerfolg der AfD. Interessanterweise warnt auch Sinns Nachfolger am ifo-Institut, Clemens Füst, vor negative Folgen für die Wirtschaft in Thüringen oder Sachsen. Neue Investoren könnten eher Unternehmen aus „anderen Bundesländer ins Auge fassen“ als den ostdeutschen, erklärte er gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Abschrecken könnte der AfD-Erfolg auch Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund, ergänzte Füst im Gespräch mit der Rheinischen Post. Das wirke sich auf zum Beispiel auf den Gesundheitssektor aus, in dem in diesem Szenario Versorgungsengpässe drohen könnten.
Für Sinn reduziere die politische Sachlage nach der Wahl dagegen die Gefahr einer Unregierbarkeit der Länder: „Im Ganzen erwarte ich eher geringe Auswirkungen, ähnlich wie es in Italien nach dem Sieg der Fratelli d’Italia war.“ Die postfaschistische Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte im Oktober 2022 die Wahl in Italien gewonnen – und wird seitdem auch von der deutschen Politik hofiert.
Sinn sieht bei Robert Habeck „ökonomischen Unsinn“ – Energiewende richte Deutschland zugrunde
Als übergeordnetes Problem identifiziert Sinn die gesamte deutsche und europäische Klimapolitik. Diese sei von Marktversagen geprägt. Deutschland fokussiere sich vollständig auf „flatterhafte“ Stromversorgung durch Wind- und Sonnenenergie und treibe den Strompreis in die Höhe. Damit richte es seine Industrie zugrunde. Gleichzeitig, so Sinn weiter, nutzten andere Industrien weltweit weiterhin Öl, Atomkraft und Kohle – und schaffen sich einen erheblichen Wettbewerbsvorteil durch günstige Energieversorgung.
In Deutschland fehlen derzeit noch die Speicherkapazitäten, um den Menschen auch Strom aus Solar- oder Windenergie im Falle witterungsbedingter Flauten zur Verfügung zu stellen. Aktuell gilt: Je höher der Anteil an Strom aus Sonnen- und Windquellen, desto höher sind die Preise für private Verbraucher und die Industrie. Bei Flauten muss Deutschland teuren Strom aus dem Ausland importieren, um Lücken im Versorgungsnetz zu füllen. Prognosen zufolge wird der Ökostrom erst ab 2045 günstiger, wenn entsprechende Speicherlösungen entwickelt sind und eine ausgefeilte Infrastruktur existiert. Bis dahin verschlingt allein die Förderung von Solarstrom Milliarden.
Warnung vor „hemmungsloser Schuldenpolitik“ – Disziplin von Deutschland als Gegengewicht
Bereits in der Vergangenheit hatte sich Sinn an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) abgearbeitet. Im Interview mit The Pioneer betitelte er im Mai dessen Blick auf die Welt als „ökonomischen Unsinn“. Speziell Habecks Kritik an der Schuldenbremse und der Forderung nach mehr Investitionstätigkeit des Staates ist für Sinn damals wie heute nicht haltbar.
Gegenüber der NZZ warnt er vor einer „Rückkehr zur hemmungslosen Schuldenpolitik“ – gerade in Bezug auf die Auswirkungen für die Währungsunion. Falle in Deutschland die Schuldenbremse, wäre die Bonität und Schuldendisziplin der EU bedroht. Die Folgen wären laut Sinn steigende Zinskosten und Risikoprämien für Länder, worauf die Europäische Zentralbank (EZB) mit Staatsanleihen-Käufen antworten würde. Hoch verschuldete Länder wie Italien könnten unter dieser Last kollabieren – zum Nachteil für die gesamte EU.
Experte befürchtet: Senkt die EZB den Leitzins, klettert die Inflation
Diese Argumentation vertritt auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP): Der Chef der Liberalen hält die vergleichsweise geringe deutsche Schuldenquote von 60 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) für ein essenzielles Gegengewicht zu Ländern wie Italien (137,3 Prozent des BIP), Frankreich (110,6) oder Spanien (107,7).
Und Sinn geht sogar noch weiter: Eine neue Verschuldung sorge wegen der Energieknappheit und dem Arbeitskräfte-Mangel langfristig für eine Zunahme der Inflation im Euroraum. Dieses Szenario werde auch durch die von der EZB angekündigten Senkung des Leitzinses befeuert. „Harte Budgetbeschränkungen“ und Eigenhaftung der Länder für ihre Schulen seien vielmehr die richtigen Lösungsansätze.
Kritiker über Hans-Werner Sinn: Top-Ökonom zwischen Renommee und Populismus
Sinn genießt in Deutschland nach wie vor den Ruf eines Top-Ökonomen und Experten für volkswirtschaftliche Fragen aller Art. Dieses Renommee hat sich der 76-Jährige in seiner Zeit als Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, kurz ifo, zwischen 1999 und 2016 aufgebaut. Auf Basis dieser Erfahrung bewertet er regelmäßig den wirtschaftspolitischen Zustand der Bundesrepublik. Kritiker werfen Sinn in diesem Zuge vor, in seinen Ausführungen die Schwelle zum Populismus zu übertreten. Etwa wenn er mit dem rechtspopulistischen Medium Tichys Einblick von einem „grünen Extremismus“ spricht, der gerade auf politischer Ebene in Deutschland herrsche.
Work-Life-Balance ersetzt alten Arbeitsethos – Sinn sieht Deutschland auf dem falschen Weg
Gegenüber der NZZ monierte Sinn neben der Kritik an Klima- und Finanzpolitik auch den grundsätzlichen Zeitgeist in der Bundesrepublik. Der Bildungsstand der Schüler sei auf „keinem guten Niveau“, bei jungen Migranten fehle das Interesse für die deutschen Ausbildungssysteme und das „Streben nach Work-Life-Balance“ habe „das alte Arbeitsethos“ verdrängt.
Deswegen fordert der Top-Ökonom eine Rückbesinnung auf die „traditionelle Arbeitsmoral“, eine große Bildungsoffensive sowie Nachbesserungen in Naturwissenschaften sowie Digitalisierung in Deutschland. Statt dieser Entwicklungen dominiere in Deutschland allerdings ein zunehmender „Dirigismus“ – eine unnötige Einmischung des Staates über Gesetze und Regularien. Dieser äußere sich in der Ordnungspolitik der Grünen und an der Tendenz, dass „realitätsferne Politiker“ entscheiden, in welche Branchen Geld fließe.
Ramelow als Beispiel für staatliche Gängelung: „Das zeigt die verkorkste Denkweise in diesem Land“
Als weiteres Beispiel führte er eine Äußerung des scheidenden Thüringer Ministerpräsidenten, Bodo Ramelow (Die Linke), an. Dieser habe gelobt, „dass in seiner Legislaturperiode über hundert neue Gesetze und Verordnungen erlassen worden seien“. Für Sinn ist das ein eindeutiges Zeichen. „Das zeigt die verkorkste Denkweise in diesem Land.“
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes hieß es in einem Zitat von Hans-Werner Sinn, dass „anders als viele Experten und ostdeutsche Wirtschaftsbosse viele Unternehmen über den Wahlausgang vermutlich erleichtert seien“. Diese Aussage hat Herrn Sinn allerdings nicht getätigt. Vielmehr lautete sein Wortlaut in einem NZZ-Interview: „Sollte die AfD tatsächlich beteiligt werden, weil Brandmauern eingerissen werden, reduziert sich die Gefahr der Unregierbarkeit der Länder. Das würden viele Unternehmen vermutlich als Erleichterung empfinden.“ Wir haben die Stelle entsprechend korrigiert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Nachzulesen auf www.merkur.de, www.fr.de, www.fnp.de und www.gmuender-tagespost.de.