Gerhard Schröders Sozialreformen waren ein Erfolgsmodell, sagt Hans-Werner Sinn, der ehem. Chef des Münchner Ifo-Instituts. Der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles prophezeit er, die Partei mit dem „Zertrümmern“ von Hartz IV endgültig in den Ruin zu führen. Er ist der festen Überzeugung, dass ein sanktionsloses Grundeinkommen nicht nur teuer ist, sondern Sozialhilfekarrieren erzeugt. Wer arbeiten wolle, müsse arbeiten können und dann genug zum Leben haben.
Herr Sinn, wie sähe der deutsche Arbeitsmarkt heute aus, wenn Gerhard Schröder nicht Hartz IV eingeführt hätte?
Ohne die Reformen Gerhard Schröders hätten wir vermutlich allein in Westdeutschland eineinhalb Millionen Arbeitslose mehr. Wachsende Arbeitslosigkeit hatten wir schon seit Willy Brandt. Die Agenda 2010 hat diesen unheilvollen Trend umgekehrt.
Was genau an der Agenda-Politik hat aus Ihrer Sicht so gut funktioniert?
In Deutschland hatten wir früher mit der Arbeitslosenhilfe ein sehr hohes Niveau eines zeitlich unbegrenzten zweiten Arbeitslosengel-des. Außerdem gab es eine Sozialhilfe, die über viele Jahre schneller gewachsen war als die Löhne. Die Unternehmen mussten damals für einfache Tätigkeiten vergleichsweise hohe Löhne anbieten, um jemanden zu überzeugen, bei ihnen tätig zu werden, anstatt zu Hause zu bleiben. Es gab einen hohen, durch das Sozialsystem implizierten Mindestlohn. Viele Geschäftsmodelle waren dadurch unrentabel geworden. Schröder hat diesen Mindestlohn gesenkt und dadurch ein Jobwunder geschaffen.
Wie genau hat er das getan?
Schröder hat weniger fürs Nichtstun und mehr fürs Mitmachen bezahlt. Dadurch hat er den Mindestlohn gesenkt, den ein Unternehmen bieten musste, um jemanden aus den Armen des Sozialstaates weglocken zu können. Er hat die Arbeitslosenhilfe beseitigt und die Menschen auf die Sozialhilfe heruntergestuft. Und er hat stärker auf Sanktionen gesetzt: Wer eine Arbeit nicht annimmt, muss heute mit Kürzungen rechnen. Gleichzeitig hat der damalige Bundeskanzler aber auch Hinzuverdienstmöglichkeiten eröffnet, die faktisch Lohnsubventionen sind. Vor Schröder galt: Für jeden Euro, den jemand hinzuverdiente, wurde ihm vor der Agenda 2010 auch ein Euro gestrichen. Seit Schröders Reform dürfen Arbeitslose von einem hinzu verdienten Euro zumindest 20 Cent behalten. Auch nicht viel, aber mehr als nichts. Durch die Verringerung der Schere zwischen dem, was der Staat fürs Wegbleiben, und dem, was er für Mitmachen zahlt, wurde der Mindestlohn gesenkt.
Und das hat aus Ihrer Sicht schon eine Trendwende ausgelöst?
Die Lohnskala hat sich durch die Reformen nach unten hin ausgespreizt. Deswegen gibt es inzwischen mehr Job-Angebote im Niedriglohnbereich. Das hat Wunder gewirkt am Arbeitsmarkt. Wir haben die Weltmeisterschaft bei der Ar-beitslosenquote der Geringqualifi-zierten im OECD-Maßstab abgegeben.
SPD-Chefin Andrea Nahles sagt nun, Deutschland solle Hartz IV hinter sich lassen. Sanktionen sollen min-destens verringert werden. Was halten Sie davon?
Sanktionen sind zwingend. Wer den Unterschied zwischen dem, was man mit Arbeit vom Staat bekommt, und dem, was man von ihm ohne Arbeit bekommt, wieder vergrößert, erhöht den impliziten Mindestlohn des Sozialsystems und erzeugt wie-der mehr Arbeitslosigkeit. Ich finde es falsch, wenn jemand sagt, die Leute hätten keine Lust zu arbeiten. Jeder will arbeiten, aber man kann ihm Arbeit nicht zumuten, wenn er dabei nicht deutlich mehr Geld in der Tasche hat, als wenn er nicht arbeitet. Es geht um eine einfache, harte Gesetzmäßigkeit: Je mehr der Staat fürsWegbleiben und je weniger er fürs Mitmachen zahlt, desto höher ist der Mindestlohn, desto kleiner folglich die Zahl der rentablen Geschäftsmodelle der Unternehmen.
Vertreter der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens würden einwenden, dass sie da ein recht pessimistisches Menschenbild haben. Ist Druck unbedingt nötig?
Das Argument verstehe ich gar nicht. Was ist daran pessimistisch, wenn ich sage, dass die Menschen keine Dummköpfe sind und das tun, was für sie besser ist. Das Wort „Druck“ mag ich überhaupt nicht, weil es suggeriert, es ginge darum, Faulenzer zu bewegen. Tatsächlich geht es darum, Stellen zu schaffen, und die kommen nur zustande, wenn es sich für die Unternehmen lohnt.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Hartz IV zu reformieren, was würden Sie vorschlagen?
Hartz IV war eine Reform in die richtige Richtung, aber sie war zu zaghaft. Man sollte die Hinzuverdienstmöglichkeiten weiter verbessern. Ich bin dafür, dass die Betroffenen von jedem hinzuverdienten Euro nicht nur 20 Cent behalten dürfen, sondern 50. Das hat das Ifo-Institut unter meiner Leitung schon 2002 unter dem Namen Aktivierende Sozialpolitik vorgeschlagen. Da gehen die Vorschläge des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck in eine richtige Richtung.
Der Hartz-IV-Regelsatz für Alleinstehende beträgt derzeit 416 Euro. Ist das genug? Könnten Sie davon leben?
Wer solche Zahlen zitiert, blendet die Hauptsache aus. Im Schnitt bekommt man nämlich ca. 1 200 Euro, in München gar 1 300 Euro. Es ist doch eine Milchmädchenrechnung, die Wohnkostenerstattung und die freie Krankenversicherung in der Summe nicht zu berücksichtigen. Allein schon die Krankenversicherung gibt es ohne staatliche Zuschüsse bei den Privatversicherern nicht unter 300 Euro. Dafür und für die Kosten der freien Wohnung müssen ja andere Bürger auch noch aufkommen. Hartz IV sichert das Existenzminimum. Mehr kann man den Steuerzahlern nicht zumuten.
Die Vorstellung, im Fall eines Jobverlusts Hartz IV beziehen zu müssen, weckt Abstiegsängste in der Mittelschicht.Was ließe sich dagegen tun?
Diese Ängste werden von den Gegnern von Schröders Reformen geschürt. In Wahrheit ist die Mittelschicht heute bessergestellt als vor Schröders Reformen, weil das Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, viel geringer ist als zuvor.
Glauben Sie, dass die SPD davon profitieren kann, dass sie jetzt von Hartz IV abrückt?
Andrea Nahles und ihre Truppe waren ja schon immer Schröder-Kritiker. Wenn Nahles jetzt Hartz IV zertrümmern will, dann wird sie die Partei endgültig in den Ruin führen. Wann eigentlich merkt die SPD, dass diese völlig sinnlose und irreale Opposition gegen die Errungenschaften der Regierung Schröder dieWähler in Scharen vertrieben hat? Mich wundert, dass Frau Nahles mit der Ideologie aus der Zeit vor Schröder nun wieder weitermachen will. Wann begreift sie, dass siemit den alten linken Parolen von vorgestern niemanden mehr hinter dem Ofen herholt? Hartz IV kann durch kommunale Jobs und die Verringerung des Transferentzugs verbessert werden, nicht aber durch die Aufgabe der Sanktionen für Leute, die lieber auf dem Schwarzmarkt arbeiten.
Sie denken an Ideen wie die des Berli-ner Bürgermeisters Michael Müller?
Ja, es ist besser, nominell Langzeitarbeitslosen als Gegenleistung für staatliches Geld eine reguläre Arbeit bei ihrer Kommune abzuverlangen und dann auch noch etwas draufzulegen, als ihnen die Grund-versorgung bedingungslos zu gewähren. Das sanktionslose Grund-einkommen ist nicht nur teuer, sondern es erzeugt Sozialhilfekarrieren, nimmt den Anreiz, sich ausbilden zu lassen, und treibt die Menschen in die Schwarzarbeit. Wir brauchen einen aktivierenden Sozialstaat – und keinen, der es für die Menschen attraktiver macht, zu Hause zu bleiben. Deshalb halte ich auch die Pläne für einen sozialen Arbeitsmarkt von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil für erwägenswert. Meine Forderung ist: Wer arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Diese Forderung lässt sich in der Marktwirtschaft nur mit staatlichen Zuschüssen und notfalls auch staatlichen Stellen für Langzeitarbeitslose realisieren.
Das Interview führte Tobias Peter.
Online-Version erschienen auf www.ostsee-zeitung.de