Forschung & Lehre 26, Ausgabe 1/2019, S. 56.
Herr Sinn, als ehemaliger Präsident des Münchener ifo Instituts für Wirtschaftsforschung haben Sie viele Jahre an der unmittelbaren Schnittstelle von Wissenschaft und Politik geforscht. Wer hat den Takt angegeben?
Es ging in beide Richtungen. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, die man versuchen kann in den öffentlichen Diskurs einzubringen, und es gibt umgekehrt Fragen aus dem öffentlichen Diskurs an die Wissenschaft, die man versuchen kann zu beantworten. Die Brücke zu bauen zwischen wissenschaftlichem Elfenbeinturm und öffentlichem Diskurs ist Aufgabe eines Instituts wie das ifo. Man neigt als Wissenschaftler dazu, über raum-und zeitlose Fragen nachzudenken. Das ist für die Grundlagenforschung wichtig, aber man sollte die gesellschaftliche Relevanz der Forschung stets im Auge behalten und zeitaktuelle Fragen behandeln.
Wie stark haben Ihnen Auftraggeber hineingeredet?
In meiner Amtszeit ist von der Politik nie versucht worden, Einfluss auf unsere Forschungsergebnisse zu nehmen. Es hat immer mal wieder inhaltliche Proteste und Widerstand gegeben, aber es ist auch völlig legitim, dass die Meinung von Politikern von wissenschaftlichen Befunden abweicht, sofern es eine offene Diskussion darüber gibt. Bei anderen Auftraggebern hatte ich allerdings den Eindruck, dass diese ein Interesse hatten, bestimmte Ergebnisse in bezahlten Gutachten anders dargestellt zu sehen. Ich habe daher durchgesetzt, dass die großen Wirtschaftsforschungsinstitute einen Grundlagenbeschluss gefasst haben: Seitdem enthalten alle Verträge für Auftragsgutachten eine Klausel, dass Gutachten auf jeden Fall veröffentlicht werden müssen und der Auftraggeber weder das Recht hat, dies zu untersagen, noch den Zeitpunkt für eine Veröffentlichung vorzugeben. Für Auftraggeber, die das nicht akzeptiert haben, hat das ifo Institut nicht gearbeitet.
Um die Forschungsstärke des ifo weiter zu verbessern, haben Sie es an die LMU München „angedockt“. Mit welcher Forschungsarbeit konnten Sie auch gesellschaftlich am meisten bewegen?
Das sind sicherlich unsere Analysen, die in die Gestaltung der Agenda 2010 einflossen. Durch ein Gutachten, das niemand bezahlt hat, sondern ein eigenes Stück Forschung war, haben wir sichtbaren Einfluss auf den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gehabt und eine Reform in Richtung auf eine aktivierende Sozialpolitik mit vorangebracht – mehr Geld fürs Mitmachen und weniger fürs Wegbleiben. Es war ein voller Erfolg.
Woran lag es, wenn Ihre Gutachten keine Wirkung zeigten und, wie Sie einmal sagten, „direkt in der Tonne“ landeten?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir am meisten bewegen konnten, wenn sich unsere Arbeit nicht nur direkt an die Politik, sondern vor allem an die allgemeine Öffentlichkeit gewandt hat, um eine Diskussion in Gang zu setzen – erst unter Fachleuten, dann unter ande-ren –, die schließlich die Politik erreicht. Politiker zeigen sich oftmals beratungsresistent, wenn man sie direkt anspricht, aber reagieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Wähler ein Thema ernst nehmen.
Wie hat sich der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik Ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren verändert?
Ich kann nur für mein Fach sprechen. Die Regierungen unter Angela Merkel fielen nicht dadurch auf, dass sie wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen besonders viel Raum gaben. Volkswirte mussten sich intensiver am öffentlichen Diskurs beteiligen und der Politik gelegentlich Dampf machen, um sich Gehör zu verschaffen.
Das Interview führte Katrin Schmermund.
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