Hans-Werner Sinn: „. . . dann gäbe es keine Sozialmigration“, Wiener Zeitung, 24. Mai 2019, S. 3.
Herr Professor, Sie sagten einmal bei einer Rede über die Sozialunion: "Sozialstaatlichkeit, soziale Inklusion und Freizügigkeit sind drei Ziele, die nicht zusammenpassen. Ein Ziel muss geopfert werden." Warum?
Das sind die drei großen Ziele der EU, aber sie kollidieren. Wenn man versucht, alle drei herzustellen, gibt es Sozialmigration in die besser ausgestatteten Sozialstaaten. Mit der Folge, dass dort die Finanzen unter Druck kommen und eine Rivalität mit den Einheimischen entsteht. Und das führt tendenziell zu einer Erosion der Leistungen.
Diese Rede hielten Sie 2004, damals wollte sich die EU eine Verfassung geben und dabei auch soziale Rechte festschreiben. Die Verfassung kam zwar nicht, aber die Ziele blieben. Was ist seither passiert?
Es gab jedenfalls Sozialmigration. Es gibt Berichte, wie ganze Dörfer aus Rumänien in die Sozialwohnungen Berlins verlagert wurden. Dieser Prozess hat stattgefunden, und der regt immer mehr Leute auf.
Aus Österreich gibt es recht gute Daten, wie viel EU-Bürger ins System einzahlen und wie viel sie beziehen. In die Kranken- und Unfallleistung zahlen sie mehr ein, als sie erhalten, bei Pensionen sehr viel mehr, bei Mindestsicherung und Wohnbeihilfe erhalten sie wiederum mehr vom Staat. Ist das tatsächlich so ein großes Problem?
Sie haben die Hälfte der Leistungen weggelassen. Wer bezahlt die Polizei? Wer bezahlt die Brücken, die Straßen? Wer bezahlt die öffentlichen Einrichtungen? Das kann man nicht alles weglassen.
Aber Migranten fahren nicht mehr über Brücken als Einheimische.
Das nicht, aber sie zahlen weniger dafür, weil sie in der Regel unterdurchschnittliche Einkommen erhalten und auch unterdurchschnittliche Steuern zahlen. Deshalb sind sie Nettoempfänger staatlicher Leistungen. Häufig wird das ausgeblendet, indem nur die Sozialleistungen beachtet werden. Wenn man aus einem Land mit kaputter Infrastruktur kommt und ins propere Österreich geht, dessen Infrastruktur bereits bezahlt wurde, so ist auch das ein Stück Sozialmagnetismus.
2004 wurde nicht nur über die EU- Verfassung debattiert, sondern auch die Freizügigkeitsrichtline beschlossen. Danach wurden aber fast überall nationale Beschränkungen der Freizügigkeit festgeschrieben. War das ausreichend?
Jeder EU-Bürger darf sich nach Belieben in jedem anderen EU-Land aufhalten. Wer fünf Jahre in einem anderen EU-Land lebt, erhält automatisch mit dem uneingeschränkten Daueraufenthaltsrecht Anspruch auf sämtliche steuerfinanzierte Sozialleistungen. Die Frage der Einschränkung der Leistungen bezieht sich nur auf die fünf Jahre davor, und das machen die Länder unterschiedlich. Wer mit 60 Jahren in ein anderes EU-Land geht, bekommt nach fünf Jahren, wenn er 65 und nicht mehr erwerbsfähig ist, das Recht auf eine Unterstützung bis zum Lebensende. Und die ist im Fall Deutschlands mehr als das Doppelte des Einkommens eines normalen Arbeitnehmers in Rumänien.
Aber Sozialleistungen sind nicht exportierbar. Er muss dann in Deutschland leben.
Ja, er muss dort bleiben. Und da sind wir auch schon beim Kern des Problems: Wir haben das Gastlandprinzip für Sozialleistungen. Das Land, in dem man sich aufhält, ist zuständig. Darin liegt die Magnetwirkung. Wäre das Heimatland zuständig, und könnte man diese Leistungen in jedem anderen EU-Land konsumieren, gäbe es keine Sozialmigration. Deshalb ist mein Plädoyer, ein Stück weit das Heimatlandprinzip einzuführen. Ich glaube, dass das Inklusionsprinzip das Schwächste dieser rivalisierenden Ziele ist und man es deshalb auch einschränken sollte.
Welche Sozialleistungen beträfe das Ihrer Ansicht nach?
Konkret würde ich vorschlagen, bei den Sozialleistungen eines Menschen zwischen erarbeiteten und ererbten Sozialleistungen zu unterscheiden. Erarbeitete sind etwa Rentenleistungen, Unfall- und Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung. Die müssten vom Gastland gewährt werden, weil sie ans Arbeitsverhältnis geknüpft sind. Und zu den ererbten Sozialleistungen gehört etwa das Kindergeld für Kinder, die zuhause bleiben, oder die Sozialhilfe für Behinderte. Ein Kind, das zuhause ernährt werden muss, hat nichts mit dem Arbeitsverhältnis zu tun, wenn es aus Steuermitteln bezahlt wird. Und dieses Kindergeld könnte weiterhin vom Heimatland gewährt werden. Dann gibt es diesen Anreiz nicht.
Die EU will aber die Migration innerhalb der Union fördern.
Sie will die produktive Migration fördern! Und produktiv ist es, wenn Menschen durch Lohnunterschiede angeregt werden, zu wandern, nicht aufgrund unterschiedlicher Sozialleistungen. Diese Migration will offiziell keiner, und sie ist auch nicht effizient. Nur wenn Lohndifferenzen die Wanderung anregen, erhöht die Wanderung das europäische Sozialprodukt.
Aber Sozialleistungen kann man auch als Lohnsubvention verstehen, oder? Ich denke an slowakische Pflegerinnen, die ihre Arbeitskraft zu einem vielleicht günstigeren Preis anbieten können, weil sie die Familienbeihilfe einkalkulieren. Oder auch andere Leistungen, weil ihre Kinder hier in die Schule gehen.
Es ist die Summe beider Effekten, die die Leute wandern lässt. Die Leute kommen ja nicht nach Österreich, weil dort öfter die Sonne scheint, sondern wegen wirtschaftlicher Vorteile. Diese wirtschaftlichen Vorteile bestehen aus Lohnzuwächsen, Zuwächsen bei Sozialleistungen und der besseren Infrastruktur und Daseinsvorsorge des Staates. Nur die Lohnzuwächse sind sinnvolle Anreize. Es ist auch nicht Aufgabe des Staates, subventionierte Arbeitskräfte bestimmten Branchen zur Verfügung zu stellen, wenn wir in einer Marktwirtschaft leben.
Dieser Migrationsanreiz fiele weg, wenn das Heimatlandprinzip installiert wird?
Die Menschen könnten ja wandern, aber wenn es für sie nicht attraktiv ist, bleiben sie zuhause. Nehmen Sie einen Sozialhilfeempfänger aus Deutschland, der nach Mallorca will. Nach heutiger Regelung müssten ihn die Spanier bezahlen. Warum das? Warum soll man ihm nicht erlauben, mit dem Geld, das ihm in Deutschland zusteht, einen höheren Lebensstandard auf Mallorca zu haben? Ich hätte gar kein Problem damit. Der deutsche Staat hat keinen Nachteil, aber der Betroffene einen Vorteil, sonst würde er ja nicht wandern.
In Deutschland gibt es konkrete Erfahrungen mit einer Sozialunion nach der Wiedervereinigung. Sie wiesen 2004 darauf hin, dass diese Sozialleistungen einen impliziten Mindestlohn über der Arbeitsproduktivität im Osten dargestellt haben und deshalb Arbeitslosigkeit so hoch sei. Allerdings ist seit 2006 die Arbeitslosigkeit im Osten stark gesunken. Waren Sie zu ungeduldig?
Ich glaube nicht. Das war nämlich genau die Zeit, als die Agenda 2010 beschlossen wurde, als das Problem der Arbeitslosigkeit besonders deutlich wurde und die Regierung Schröder die Sozialleistungen gekürzt hat. Dafür gab es ein Zuschusselement, sodass die Leute auch noch Unterstützung bekamen, wenn sie arbeiteten. Die Devise war: mehr fürs Mitmachen, weniger fürs Wegbleiben. Das hat den impliziten Mindestlohn im Sozialsystem gesenkt und insbesondere in den neuen Bundesländern viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Wenn wir aber nun in Europa ein System gleicher Ersatzleistungen für Arbeitslose wollen, wie das einige fordern, dann treiben wir einige Regionen in die Massenarbeitslosigkeit, weil wir damit implizite Mindestlöhne stützen, die höher als die Produktivität sind. Ganz Südeuropa läuft dann Gefahr, in die Situation zu geraten wie die Extremadura in Spanien oder Süditalien heute.
Transfers in gleicher absoluter Höhe werden aber ohnehin nicht mehr debattiert. Was diskutiert wird, sind Mindeststandards, etwa dass ein bestimmter Prozentsatz des Durchschnittseinkommens als Sozialhilfe gewährt werden muss. Wäre das eine Möglichkeit?
Mindeststandards, die nicht gleich sind, sondern an den örtlichen Löhnen orientiert sind, sind ein ganz anderes Thema. Das wäre nicht so schädlich, weil es differenzierte absolute Standards wären. Aber was geht das bitte die Union an? Das kann doch jedes Land selbst machen! Das benötigt keine zentrale Lösung. Im Gegenteil. Das Subsidiaritätsprinzip im Maastrichter Vertrag verbietet es doch geradezu, dass sich die EU damit beschäftigt.
Aber es könnte die von Ihnen erwähnte Sozialmigration beschränken, wenn ein Arbeitsloser aus einem armen Land zwar in absoluten Zahlen weniger erhält als in Deutschland, aber relativ gesehen einen ähnlichen Lebensstandard erhalten kann.
Noch besser ist das Heimatlandprinzip. Dann kann er sowieso nicht kommen und die Hand aufhalten.
Diskutiert wird auch eine europäische Arbeitslosenversicherung, nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung. Und zwar ein Fonds, der unterstützt, wenn es Schocks gibt und ein EU-Mitglied plötzlich mit großer Arbeitslosigkeit konfrontiert wird.
Das wäre verheerend. Erstens gibt es keine Schocks, die vom Himmel fallen, sondern strukturelle Entwicklungen, die eher dauerhaften Charakter haben und meistens auf lokale Politikfehler zurückzuführen sind. Zweitens führen solche Transfers zwischen den Ländern dazu, dass lokale Arbeitslosengelder, die ja automatisch auch Mindestlöhne sind, gestützt und erhalten werden können. Die Folge: Die Arbeitslosigkeit wird perpetuiert. Man nennt das "Holländische Krankheit". Länder, die Ressourcen haben, so wie eben Holland, das in den 60er Jahren Gas fand, können aus diesen Ressourcen ein Lohnniveau realisieren, das für die Industrie verheerend ist. Auch Norwegen leidet unter dieser Krankheit. Ob man nun Ressourcen ans Ausland verkauft oder Geld aus dem Ausland geschenkt bekommt, ist für die Wirkung auf die Industrie ungefähr gleich. Transfersysteme würden ganz Südeuropa in die dauerhafte Lethargie führen, ähnlich wie die erwähnten Beispiele aus Südspanien und Süditalien. Das würde Europa in die Stagnation führen und so sehr schwächen, dass es den Wettbewerb mit den anderen großen Mächten der Welt nicht bestehen könnte.
Das Interview führte Simon Rosner.
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