Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Mai 2011, Nr. 103, S. 10.
Die Target-Salden seien bedeutungslos, weil sie sich im Euroraum aufheben, schreibt die Bundesbank. In der Tat, zwischen Schuldner und Gläubiger heben sich die Forderungssalden immer auf. Das ist wahr, beruhigt aber den Gläubiger nicht. Genauso wenig beruhigt es, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Target-Salden in ihrer Bilanz gar nicht verbucht, weil sie über alle Euroländer addiert null sind. Nur in den nationalen Bilanzen der Zentralbanken findet man sie. Auch die F.A.Z. meint, die Target-Salden bildeten "keine Gefahr". Diese Auffassung ist nicht haltbar, denn bei diesen Salden handelt es sich um deutsche Kredite zur Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten fremder Staaten, zuletzt etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr. Sie stellen die vom Bundestag schon genehmigten Rettungskredite an Griechenland, Irland und Portugal in den Schatten.
Deutschland hat bis Ende März 2011 für 323 Milliarden Euro verzinsliche Target-Forderungen gegen die EZB aufgebaut, und die GIPS-Länder, also Griechenland, Irland, Portugal und Spanien, haben bis zum Ende 2010 für rund 340 Milliarden Target-Verbindlichkeiten gegenüber der EZB angesammelt. Diese Verbindlichkeiten sind im Wesentlichen seit der zweiten Jahreshälfte 2007 entstanden, nach dem ersten Zusammenbruch des Interbankenmarktes. Die Target-Verbindlichkeit eines Landes zeigt jenen Teil der Kreditvergabe der nationalen Notenbank an, der nicht der Bereitstellung der nationalen Zentralbankgeldmenge diente, sondern für Zahlungen an das Ausland verwendet wurde. (Grob gesprochen ist sie definiert als Überschuss der Summe aus Kreditvergabe im Zuge von Offenmarktgeschäften und der erworbenen Devisen, Goldbestände und Staatspapiere über die nationale Zentralbankgeldmenge im Besitz der Privaten und der Geschäftsbanken.) Damit misst sie zugleich jenen Teil der früheren Leistungsbilanzdefizite, der durch das Zentralbankensystem finanziert wurde.
Das Leistungsbilanzdefizit eines Landes ist der Teil des Überschusses der Importe über die Exporte, der nicht über laufende Transfers, also Geschenke, aus dem Ausland finanziert ist. Es gleicht deshalb dem Kapitalimport eines Landes. Reicht der private Kapitalimport nicht aus und steht kein Hilfskredit der Staatengemeinschaft zur Verfügung, kann sich das Land bei seiner Notenbank Geld leihen. Dieses Leihgeschäft wird durch die Target-Salden erfasst.
Das akkumulierte Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Länder in den Jahren 2008 bis 2010 betrug 365 Milliarden Euro. Es war damit etwa so groß wie der Zuwachs der Target-Schulden dieser Länder, die sich von minus 30 Milliarden Euro Mitte 2007 auf etwa 340 Milliarden Euro Ende 2010 aufgebaut haben. Offenbar hat die EZB, und damit faktisch die Bundesbank, die privaten Kapitalströme zur Finanzierung der Leistungsbilanzsalden fast voll durch eigene Kredite ersetzt. Sie betrieb den Bail-out, lange bevor die Parlamente sich dazu durchgerungen haben.
Deutschland haftet für 33 Prozent der von der EZB an die GIPS-Länder verliehenen 340 Milliarden Euro, nämlich 114 Milliarden Euro. Richtig ist die Feststellung der F.A.Z., dass Deutschland zusätzlich an der Haftung für die Kredite aus der Geldschöpfung beteiligt ist. Indes ähneln die Target-Kredite, die nun schon fast das Dreifache der normalen Geldschöpfungskredite ausmachen, in mancher Hinsicht eher zwischenstaatlichen Krediten als Geldschöpfungskrediten. Die Wahrscheinlichkeit eines Totalverlustes mag gering sein, weil dazu die Sicherheiten, die die Banken der GIPS-Länder ihren Zentralbanken gaben, platzen und die privaten Banken in Konkurs gehen müssen. Aber sie ist vor allem deshalb gering, weil die Gläubigerstaaten ihre Target-Forderungen durch Transferprogramme zur Stützung der GIPS-Länder selbst werden bezahlen müssen. Das Problem liegt weniger in der Gefahr eines harten Konkurses als in dem Drohpotential, das die GIPS-Länder bei künftigen Verhandlungen über Hilfsprogramme haben. Deutschlands Nachgiebigkeit beim den neuen ESM-Krediten kann man bereits in diesem Lichte sehen.
Um die Target-Kredite zu verstehen, ist es nützlich, das Beispiel des irischen Bauern zu Ende zu denken, der einen Traktor in Deutschland kauft (F.A.Z. vom 19. April). Nehmen wir an, der Bauer leiht sich das Geld bei seiner Bank. Da die Bank selbst kaum noch kreditwürdig ist, borgt sie sich Geld bei der irischen Notenbank, die es dazu neu schöpft. Das neu geschöpfte Geld überweist der Bauer über seine Bank und das Zentralbankensystem nach Deutschland. Die Menge an Zentralbankgeld in Irland schrumpft dadurch wieder, und statt der irischen Notenbank schöpft nun die Bundesbank neues Geld. Sie überweist es an die Bank des Lieferanten, die es ihm auf seinem Konto gutschreibt. Da nach der Überweisung in Deutschland zu viel Zentralbankgeld im Umlauf ist, kann die Bundesbank nur entsprechend weniger an die deutschen Banken verleihen. Die Bundesbank verzichtet also auf eine innerdeutsche Kreditvergabe zugunsten einer Kreditvergabe über die irische Notenbank. Zum Ausgleich für diesen Verzicht erhält sie eine verzinsliche Target-Forderung gegen die EZB und die EZB gegen die irische Notenbank. Letztere hat eine Forderung gegen die irische Geschäftsbank und die Geschäftsbank eine solche gegen den Bauern. Per saldo hat sich weder in Irland noch in Deutschland die Zentralbankgeldmenge verändert, doch ist der Traktor gegen einen erzwungenen, kontokorrentähnlichen Kredit der Bundesbank an den irischen Bauern geliefert worden, der zu Lasten der Kreditvergabe an deutsche Kreditkunden geht. Der Traktor ackert in Irland statt in Deutschland.
Ohne den erzwungenen Kapitalexport der Bundesbank hätte die Wirtschaft der GIPS-Länder schon lange die harten Budgetbeschränkungen des Marktes gespürt. Die Leistungsbilanzdefizite hätten sich entsprechend verringert, und mehr wirtschaftliche Aktivität wäre nach Deutschland verlagert worden.
Die Toleranz von EZB und Bundesbank während der Finanzkrise war dennoch richtig, denn es galt, den Zusammenbruch der Wirtschaftssysteme an Europas südwestlicher Peripherie zu verhindern, auch um negative konjunkturelle Rückwirkungen auf Deutschland zu vermeiden. Problematisch ist nur, dass man die Dinge 2010 weiterlaufen ließ, obwohl die Krise in diesem Jahr so schnell vorüberging, wie sie 2008 gekommen war, und nur noch einzelne Länder Schwierigkeiten hatten. Die Fortsetzung der Target-Kredite verfälscht die Kapitalströme in Europa, lenkt zu viel Wirtschaftskraft von den Exportländern in die GIPS-Länder und verhindert, dass sich diese Länder an die neuen Realitäten anpassen.
Die Kreditersatzpolitik der EZB lässt sich ohnehin nicht beliebig verlängern, denn wenn Jahr um Jahr weiterhin etwa hundert Milliarden Euro an Target-Krediten an die GIPS-Länder vergeben werden, verringert sich der Bestand an Zentralbankgeld, das durch nationale Kreditschöpfung entstanden ist, in den anderen Euroländern jedes Jahr um ebenfalls hundert Milliarden Euro. Die Zentralbankgeldmenge lag Ende vergangenen Jahres bei 1070 Milliarden Euro. Davon waren 567 Milliarden Euro durch direkte Kreditvergabe an die Banken im Rahmen von Offenmarktgeschäften und Notfallkrediten (ELA) entstanden. Der Rest war auf Gold- und Devisenkäufe und sonstige geldschöpfende und geldvernichtende Aktivitäten inklusive der Käufe von Staatspapieren zurückzuführen. Von diesen 567 Milliarden Euro entfielen 383 Milliarden oder 68 Prozent auf den Bestand an Zentralbankkrediten in den GIPS-Ländern, obwohl diese Länder nur 18 Prozent der Wirtschaftskraft des Euroraums auf sich vereinen. Für die anderen Länder verblieben nur noch 184 Milliarden Euro. Eine Fortsetzung der Target-Kreditvergabe von knapp 100 Milliarden Euro pro Jahr wäre also gerade mal für zwei weitere Jahre möglich, es sei denn, die EZB verkauft ihre Gold- und Devisenbestände im Umfang von etwa 510 Milliarden Euro. In diesem Fall würde sie weitere fünf, maximal sechs Jahre gewinnen. 2018 wäre aber endgültig Schluss. Danach könnte sie weitere Target-Kredite nur noch auf dem Wege einer inflationären Aufblähung der Geldmenge gewähren.
Um die öffentliche Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite zurückzuführen, muss man den Zentralbanken der GIPS-Länder klarmachen, künftig ihre Finger vom deutschen Kredithahn zu lassen. Sinnvoll wäre es, die Autonomie der nationalen Zentralbanken bei der Anerkennung von Sicherheiten für die Geldschöpfung einzuschränken und höhere länderspezifische Kursabschläge bei den als Pfand eingereichten Papieren vorzunehmen. Dies zwänge die Banken der GIPS-Länder, sich auf dem privaten Markt zu finanzieren. Dort würden die Kreditgeber so hohe Zinsaufschläge verlangen, dass sich die Leistungsbilanzdefizite automatisch verringern. Dazu sollte die EZB enge Obergrenzen für Target-Salden festlegen, deren Überschreitung eine automatische Erhöhung der Bonitätsstandards bei den akzeptierten Sicherheiten erzwingt.
EZB, GIPS-Länder und EU finden es aber besser, wenn nun die offenen Kredite der Staatengemeinschaft über den neu zu schaffenden Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an die Stelle der Bundesbank-Kredite treten, auch Deutschland stimmt dem jetzt zu. Damit sind wir in der dritten Phase der Geschichte des Euro angekommen. In der ersten floss der private Kredit grenzenlos. Das Risiko eines Kreditausfalls wurde in der Erwartung, dass die Staatengemeinschaft im Notfall einschreitet, als gering erachtet. Die GIPS-Länder blähten sich auf, wurden zu teuer und entwickelten Leistungsbilanzdefizite.
In der zweiten Phase, die nun schon über drei Jahre währt, versagte sich das private Kapital, und die EZB sprang mit ihren Target-Krediten zur Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite ein. Das milderte zwar die akute Krise, doch hielt es die Überteuerung aufrecht.
In der dritten Phase kommen jetzt die Kredite der Staatengemeinschaft und verhindern durch die Weiterfinanzierung der Leistungsbilanzdefizite die notwendigen Anpassungen der GIPS-Länder, solange das Geld reicht. Und dann? Dann bricht das Euro-System entweder auseinander, oder man wird die Transferunion begründen müssen. Auf jeden Fall wird es schwerfallen, die GIPS-Länder später mit einem Schlag davon zu überzeugen, dass sie über ihre Verhältnisse leben und der Ressourcenstrom, der unter dem Euro zustande kam, wieder versiegen muss. Je länger die Droge des billigen Geldes gewährt wird, desto schwieriger wird später die Entwöhnung.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts in München."Je länger die Droge des billigen Geldes gewährt wird, desto schwieriger wird später die Entwöhnung."
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