Wirtschaftswoche, 16. Mai 2011, Nr. 20, S. 48.
Die jüngst veröffentlichten neuen Zahlen zu den Schuldenständen in der Euro-Zone dürften so manchen Beobachter verwundert haben. Für Deutschland ermittelte die EU-Behörde Eurostat eine Schuldenquote von 83,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Ende 2010, weit mehr als die 60 Prozent, die nach dem Maastrichter Vertrag erlaubt sind. Noch vor Kurzem hatte die EU-Kommission nur einen Wert von 75,7 Prozent prognostiziert, und Ende 2009 hatte die Schuldenquote erst bei 73,5 Prozent gelegen.
Wie lässt sich der plötzliche Anstieg erklären? Der Blick auf das Budgetdefizit des Staates, von dem man ja gemeinhin vermutet, dass es den Zuwachs des Schuldenbestandes misst, führt nicht weiter. Es lag im Jahr 2010 bei 3,3 Prozent des BIPs - viel zu wenig, um den Anstieg der Schuldenquote um immerhin 9,7 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr zu erklären. Woher also kam dieser Anstieg?
Er kam im Wesentlichen von den deutschen Bad Banks, insbesondere der FMS Wertmanagement (HRE) und der Ersten Abwicklungsbank (WestLB). Auf diese neuen Institute konnten die Geschäftsbanken ihre toxischen Finanzprodukte amerikanischer Provenienz im Austausch gegen vom Staat besicherte Schuldverschreibungen der Bad Banks übertragen. Da die Bad Banks zum Staat gehören, werden ihre Schulden gegenüber Privatbanken in der amtlichen Schuldenstatistik erfasst. Die beiden Bad Banks haben 2010 einen Schuldenzuwachs von 232 Milliarden Euro oder 9,3 Prozent vom BIP verursacht. Es gab zudem noch eine Reihe anderer Maßnahmen zur Rettung der deutschen Banken, die die Staatsschuld erhöhten. Insgesamt beträgt der staatliche Schuldenzuwachs aufgrund der Bankenkrise seit 2008 etwa 335 Milliarden Euro, das entspricht 13,4 Prozent vom BIP des Jahres 2010.
Auch die europäischen Rettungspakete für Krisenstaaten hinterlassen erste Spuren in der deutschen Schuldenbilanz, weil die Gemeinschaftskredite der EU-Länder der Bundesrepublik gemäß ihrem Kapitalanteil an der Europäischen Zentralbank (27 Prozent) zugerechnet werden. Für 2010 standen hier sechs Milliarden Euro zu Buche. Das war zwar nur ein Viertelprozentpunkt des BIPs, doch dürfte sich die Zahl in den kommenden Jahren deutlich erhöhen. Schließlich hatte Griechenland 2010 von seiner Kredittranche in Höhe von 80 Milliarden Euro erst 21 Milliarden verbraucht und kündigt jetzt an, dass es noch viel mehr Geld benötigt.
Es ist und bleibt indes irritierend, dass die Schuldenzuwächse nicht in den Budgetdefiziten auftauchen, sondern nur in der Statistik der Schuldenbestände. Offenkundig verschleiert die Methode, nach der in Europa die Budgetdefizite berechnet werden, einen Teil der Ursachen für steigende Schuldenstände.
Bad Banks wachsen Definiert man das Budgetdefizit, wie es im Lehrbuch steht und der ökonomischen Grundlogik staatlicher Rechnungslegung entspricht, als Schuldenzuwachs vom Jahresanfang bis zum Jahresende, dann lag 2010 die Defizitquote Deutschlands nicht bei 3,3 Prozent, sondern bei 12,8 Prozent. Wer das jahrelange deutsche Bemühen noch im Kopf hat, mit der Defizitquote unter der Drei-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu bleiben, kann bei einer solchen Zahl nur noch erschrecken.
Befürworter dieser Asymmetrien der Rechnungslegung werden darauf verweisen, dass hier ein Einmaleffekt vorlag, den man nicht dem Defizit zurechnen sollte. Aber kann man wirklich so sicher sein, dass sich das Thema nicht wiederholt? Zum einen verfügen die Banken noch über erhebliche Bestände an Wertpapieren, die zu weit überhöhten Werten in ihren Anlagebüchern schlummern. Die Bad Banks könnten deshalb weiter wachsen. Zum anderen ist absehbar, dass auf Deutschland immer mehr Schulden des Luxemburger Rettungsfonds (ESM) zukommen. Auch diese Schulden tauchen dann nur in der Schuldenbestandsstatistik, nicht jedoch in der Defizitrechnung des Staates auf. Vom Gesamtvolumen der vorgesehenen Kreditfazilität des ESMs in Höhe von 700 Milliarden Euro entfallen 190 Milliarden Euro auf Deutschland, und ein entsprechender Anteil der Kredite wird Deutschland zugeschrieben, wenn sie fließen. Dafür sind etwa 7,5 Prozent des BIPs des Jahres 2010 zu veranschlagen. Der Finanzminister dürfte sich trotzdem auf die Brust schlagen und seinen Haushalt rühmen - weil er diese 7,5 Prozent bei seiner Defizitrechnung nicht berücksichtigen wird.
Und was ist mit der Schuldenbremse, die die Politik in das Grundgesetz aufnahm? Auch sie wird beim Versuch versagen, den Schuldenzuwachs zu bremsen, weil sie sich nur auf das Budgetdefizit nach amtlicher Definition bezieht. Was immer der Luxemburger Fonds noch im Namen Deutschlands an Schulden aufhäuft, bleibt unberücksichtigt. So lässt sich die Schuldengrenze formal einhalten, während der europäische Schulden-Tsunami weiter wütet und sein zerstörerisches Werk entfaltet.