Die Gazette, 1. September 2011, Nr. 31, S. 15.
Dass sich Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (die sogenannten GIPS-Länder) durch Staatsanleihen über ihr Bruttoinlandsprodukt hinaus verschuldet haben, wusste man. Der Öffentlichkeit bis vor Kurzem unbekannt waren die unausgeglichenen Salden der nationalen Zentralbanken der Eurozone, allen voran der Deutschen Bundesbank. Diese sogenannten Target-2-Salden sind das Ergebnis eines Abgleichs von Forderungen und Verbindlichkeiten der Eurozonen-Zentralbanken untereinander. Normalerweise, durch ein Gleichgewicht zwischen Im- und Exporten, wird erwartet, dass die Salden gering bleiben und in überschaubarer Zeit gegen null tendieren. Im Fall der GIPS-Länder jedoch ist allein bei der Deutschen Bundesbank in wenigen Jahren der Target-2-Saldo auf 340 Milliarden Euro gestiegen. Man kann diese Summe als eine Art zinslosen Überziehungskredit sehen, den die Deutsche Bundesbank den GIPS-Ländern eingeräumt hat, und zwar über die bekannten Kredite gegen Staatspapiere hinaus. Die Schulden der GIPS-Länder bei Deutschland, aber auch Frankreich, den Niederlanden und Finnland, sind also etwa doppelt so hoch wie bisher offiziell bekanntgegeben. Diese bisher unbekannte und unangenehme Wahrheit ans Licht gebracht hat der Autor, der (in einem Vortrag am 21. Juli 2011) ein paar weiteren Fehlinformationen zu Leibe rückt.
Zinssätze für zehnjährige Staatsanleihen: Dreieinhalb Jahre lang haben sich die Kapitalmärkte diesen Ländern verweigert, und dreieinhalb Jahre lang ist über die EZB [die Europäische Zentralbank] öffentliches Kapital in diese Länder geflossen. Insofern ist es auch nicht richtig, von einer spekulativen Attacke zu reden; das kann man mal ein Jahr lang unterstellen oder behaupten. Aber wenn das Problem dreieinhalb Jahre lang besteht, dann ist es eine Insolvenzkrise dieser Länder.
Von 1994 bis jetzt, also von der Vor-Euro-Zeit bis jetzt: Sie sehen, dass diese Zinssätze damals sehr stark aufgespreizt waren und heute wieder. Damals waren sie stark aufgespreizt, weil man das Wechselkursrisiko hatte: Wer also sein Geld in die Staatspapiere der südlichen Länder investiert hatte, der musste immer damit rechnen, dass die Länder abwerten, und wollte entsprechende Zinsaufschläge erhalten, um das Abwertungsrisiko zu kompensieren. Das Risiko verschwand aber mit der Annäherung an den Euro. Diese Annäherung gab es schon recht früh, denn bereits im Mai 1998 wurden ja die Wechselkurse unwiderruflich festgelegt, und dieses Datum war ja schon lange vorher bekannt. Mit der Annäherung an dieses Datum verschwand das Wechselkursrisiko, und innerhalb von zwei Jahren gab es eine vollkommene Zinskonvergenz im Euro-Raum. Griechenland kam etwas später hinzu (...), und dann war auch hier das Wechselkursrisiko verschwunden, und die Zinsen konvergierten. Dann kam die Phase, in der alles in Ordnung schien, bis die amerikanische Finanzkrise die Märkte in Unruhe versetzte und man Angst hatte um das in den südlichen Ländern investierte Geld. Und jetzt spreizen sich die Zinsen wieder auseinander, nicht weil man Wechselkursrisiken sieht, sondern weil man befürchtet, dass es einen Staatskonkurs gibt.
In dieser Zeit wurde Deutschland – nach China – zum zweitgrößten Kapitalexporteur der ganzen Welt. Das deutsche Finanz-, aber auch das Realkapital wanderte in andere Länder: Wir haben über unsere Banken und Versicherungen unser Geld in griechische, portugiesische, englische, irische Staatspapiere investiert; sehr viel Geld floss auch in die USA, in strukturierte Wertpapiere, aber auch nach Osteuropa. (...) Die Herstellung des gemeinsamen Kapitalmarktes hat sofort die Zinskonvergenz verursacht, hat den Boom induziert, hat da - durch die Leistungsbilanzdefizite induziert, und mit den Leistungsbilanzdefiziten wurden praktisch die Schleusen aufgemacht, und das Kapital floss.
2005: Deutschland entwickelte aus der Flaute heraus einen Exportüberschuss. Wir reden hier über das Fundamentalgesetz des Kapitalismus: Wenn das Kapital in einem Währungsraum von A nach B fließt, boomt B und A geht in die Flaute. Das Boom-Gebiet bekommt dann ein Leistungsbilanzdefizit, und das Flautegebiet bekommt einen Leistungsbilanzüberschuss. Insofern ist die gängige Interpretation der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, dass Leistungsbilanzüberschüsse per se für Gewinne eines Landes sind, absurd. Sie ist nicht nur falsch, sondern ökonomisch absurd.
Zu behaupten, dass Deutschland der Hauptgewinner des Euro sei, wie man das immer wieder hört, ist absurd. Ich weiß nicht, wie um alles in der Welt man zu dieser These kommen kann. Bloß weil man Exportüberschüsse hat? So kann nur jemand argumentieren, der von ökonomischen Zusammenhängen überhaupt keine Ahnung hat. Exportüberschüsse sind ein Maß für das Kapital, das man anderen Ländern leiht. Die Arbeitsplätze entstehen mit dem deutschen Geld anderswo statt zuhause, und dem Geld muss man dann hinterherlaufen. Vieles kommt nie mehr zurück.
Kapitalexport aus Deutschland:
Deutschland hatte vom Beginn des Euro an [2002 bis 2010] eine gesamtwirtschaftliche Ersparnis von 1626 Milliarden Euro: So viel Geld hatten die Haushalte, der Staat und die Unternehmen auf die hohe Kante gelegt, und so viel Geld war zur Verfügung, um hier real zu investieren, nicht nur in Finanzprodukte, sondern in Wackersteine und Eisen, Straßen, Brücken, Schulen, Fabriken, Maschinen. Und wie viel wurde investiert? Gerade mal 554 Milliarden. Der Löwenanteil der deutschen Ersparnis, 1071 Milliarden, floss ins Ausland.
Im Vergleich: Griechenland und Deutschland unter Brüning:
Was wir von Griechenland jetzt erwarten, eine reale Abwertung um mehr als 20 Prozent, um wettbewerbsfähig zu werden, hat Deutschland in diesen letzten 15 Jahren getan. Aber es hatte eben auch fünfzehn Jahre Zeit. Es war eine reale Abwertung (handelsgewichtet) von 21 Prozent. Zur Erinnerung: Bei den Brüning’schen Reformen haben wir von 1929 bis 1933 die Preise um 23 Prozent gesenkt, in vier Jahren. Das hat Deutschland an den Rand des Bürgerkriegs getrieben. Man würde Griechenland ebenfalls an den Rand des Bürgerkriegs treiben, wollte man ihnen das zumuten.
Gründe für den Boom in Deutschland:
Aber jetzt wächst Deutschland wieder. Mit 3,6 Prozent waren wir praktisch das am stärksten wachsende Land in Europa. Warum war das so? Weil das Kapital sich nicht mehr raus - traut aus Deutschland. Da kann ruhig jemand mit einer etwas höheren Rendite kommen und ein Triple-A-Rating draufdrücken – das glaubt keiner mehr. Die Zeit ist ein für alle Mal vorbei.
(...)
Die Rettungspakete, die jetzt auf europäischer Ebene geschnürt werden, bedeuten, dass deutsche Bonität an andere Länder verschenkt wird. Und wenn wir das ins Extrem denken und schaffen Euro-Bonds, wo alle die gleichen Zinsen haben, dann haben wir keine Zins-Spreizung mehr, und der deutsche Boom ist zu Ende.
Target-2-Saldo:
Deutschland hatte einen akkumulierten Zahlungsbilanzüberschuss Ende 2010 von 326 Milliarden Euro, und die GIPS-Länder hatten ein akkumuliertes Zahlungsbilanzdefizit von 340 Milliarden Euro. Diese Defizite wurden finanziert, indem die Zentralbanken dieser südlichen Länder mehr Geld gedruckt haben. Das heißt also: Man importiert Waren aus dem Ausland, mehr als man exportiert – wo nimmt man das Geld her? Normalerweise kann man sich das im Ausland ausleihen. Wenn aber der Kapitalmarkt nicht mehr will, wenn ausländische Anleger ihr Geld nicht mehr da hintragen wollen, dann gibt es ein Problem. Man löst das Problem, indem man Geld druckt. Das haben diese Länder getan. Dieses Geld floss dann im Wesentlichen immer noch nach Deutschland für den Kauf deutscher Waren, aber es wurde von der EZB verliehen, faktisch von der Bundesbank statt von privaten Kreditgebern.
Dieser Kapitalexport auf dem Weg der deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse ist vor allem in den letzten drei Jahren, den Jahren der Finanzkrise, entstanden und blieb, bis das Ifo-Institut ihn bekannt gemacht hat, vollständig unbekannt. Das wird dann manchmal mit irgendwelchen albernen Argumenten heruntergespielt wie: Die Salden heben sich ja gegenseitig auf. Das beruhigt vielleicht den Schuldner, aber nicht den Gläubiger. Dieser Nettokapitalexport der Bundesrepublik Deutschland über das europäische Zentralbanksystem in die GIPS-Länder ist durch die Gemeinschaft der Teilnehmer der EZB abgesichert. Wenn dort also etwas schiefgeht, dann haften alle mit ihren jeweiligen Anteilen am Kapital der EZB.
Frage: Wie konnten sich die deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse unbeobachtet zu dieser Höhe akkumulieren?
Antwort: Also Sie werden sich wundern: Ich habe mit vielen Menschen geredet, und kaum einer wusste, was da geschehen war. Inzwischen wissen alle, was Target-Salden sind. Ich will niemandem zu nahe treten und niemanden kritisieren. Alle wussten, dass die Zahlen in den Bilanzen standen, aber keiner wusste, was sie bedeuten. Man hätte da sicher irgendwelche Schranken einbauen müssen, hat es aber nicht getan. Dass diese Schranke nicht eingebaut wurde, ist der zentrale Konstruktionsfehler des europäischen Systems.
Kreditschöpfung und Wirtschaftsleistung:
Nur 30 Prozent der Kreditschöpfung des gesamten Euro-Raums sind in den Nicht-GIPS-Ländern entstanden, und 70 Prozent der Kreditschöpfung entstanden in den GIPS-Ländern, obwohl sie nur 18 Prozent der Wirtschaftsleistung dieses Raums erbringen.
EFSF (European Financial Stability Facility) und ESM (Europäischer Stabilitäts mechanismus):
Im Mai 2010 kamen die EFSF und der ESM. Dann war erst einmal Ruhe, die Zinsen gingen wieder runter bis Anfang Juni. Und jeder dachte, jetzt sind wir durch, es war ja nur eine Einmal-Aktion. Die Märkte waren aber nur kurzfristig beruhigt. Ein Jahr später war das System geradezu dabei zu explodieren. Dann hat die Politik im Juli 2011 neue Rettungspakete geschnürt. Jetzt ist wiederum erst einmal Ruhe, bis sich herausstellt, dass die Rettungssummen nicht reichen. Dann werden die Märkte wieder nervös, und dann müssen wir noch mehr Steuergelder einsetzen, was wieder eine Ruhephase einleitet. So wird das weitergehen. Am Ende sind die Staatsschulden vergemeinschaftet. Man hat diese Entwicklungen überhaupt nicht mehr im Griff. Es kann alles passieren im Euro-Raum.
Vergemeinschaftung der Staatsschulden:
Wenn jetzt alle für die Schulden einstehen, dann gehen die Zinsen natürlich runter, dann freuen sich die Kapitalmärkte, sie applaudieren, aber ich weiß nicht, ob auch der deutsche Steuerzahler applaudiert. Aus der Sicht des Steuerzahlers ist die Unruhe auf den Kapitalmärkten nicht beunruhigend; es sollte ihn eher aufregen, wenn die Kapitalmärkte jetzt wieder zufrieden sind mit der deutschen Politik. Es gibt hier einen harten Interessenkonflikt zwischen dem deutschen Steuerzahler und Rentner auf der einen Seite und den Kapitalanlegern auf der anderen. Man darf hier keine Extremlösung anstreben, die die eine Seite gern hätte. Wir können nicht, ohne die Zukunft unserer Kinder zu gefährden, die Schulden in Europa sozialisieren.
Disziplin durch die Zinsunterschiede (Zins-Spreizung, Zins-Spreads):
Im Fall Italiens half nur Angst vor den Zins-Spreads auf den Märkten. Der Maastricht-Vertrag? Nur Papier. Stabilitäts- und Wachstumspakt? Muss man doch nicht ernst nehmen. So wird das immer sein in Europa. Das heißt: Sie können als Schuldengrenzen aufschreiben, was Sie wollen, das hat überhaupt keine Wirkung. Das Einzige, was Disziplin erzeugt, sind Zins-Spreads, und die gibt es nur, wenn eine nationale Verantwortung für die nationalen Kurse bleibt, und nicht, wenn wir einen Einheitsbrei daraus machen.
Die Maßnahmen, die jetzt die Märkte wollen, dass wir also den Einheitsbrei machen und mit deutscher Bonität das alles garantieren, werden ein Maximum an Anreiz bedeuten für alle europäischen Länder, sich zu verschulden. Es kommt ja nicht darauf an, wie viel Schulden man macht, sondern nur darauf, wie viele Schulden alle zusammen machen. Man wird nicht bestraft durch höhere Zinsen. Selbst Deutschland wird dann keine Schuldendisziplin mehr haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier Europa einen guten Weg geht. Wir haben jetzt schon diese ausufernden Staatsschulden. Die 60-Prozent-Grenze wird doch gar nicht mehr ernstgenommen. Diese strikte Grenze ist aber nach wie vor gültig. Wo soll denn das enden, wenn wir ein System der gemeinschaftlichen Verantwortung schaffen?
Wunschdenken:
Man kann sich im Fall Griechenland nur gesundschrumpfen, das ist die bittere Wahrheit. Außerhalb des Euro-Raums nähme dies nur eine kurze Phase ein, etwa ein halbes Jahr Gewitter, dann scheint wieder die Sonne. Griechenland ist deshalb nicht gut beraten, im Euro-Raum zu bleiben. Das Geld, das sie hier von der Staatengemeinschaft noch erhoffen können, gleicht das nicht aus. Das müssen die Griechen selbst entscheiden. Aber wir sind jetzt in einer Phase angekommen, wo das bloße Wunschdenken auch nicht mehr weiterhilft.
Insolvenzordnung für Länder:
So wie ein Land eine Insolvenzordnung für Firmen braucht, braucht auch eine Währungsunion ein Regelsystem für die Insolvenz von Staaten.
Künstliches Wachstum der GIPS-Länder:
Die GIPS-Länder sind zu schnell gewachsen. Sie hatten ein durch Kapitalimporte finanziertes künstliches Wachstum. Dieses künstliche Wachstum hat den enormen Anstieg des Lebensstandards und auch der Importe verursacht und hat diese Länder zugleich zu teuer gemacht und damit die Wettbewerbsfähigkeit vermindert. Wir reden heute immer nur über die Staatsschulden, weil die Kapitalmärkte das Sagen haben. Aber das größere Problem ist die Wettbewerbsfähigkeit, also das Leistungsbilanzdefizit.
Von der Beteiligung der Steuerzahler ist selten die Rede:
Wir reden immer von der Frage: Sollen sich die Banken beteiligen? Ich weiß nicht, wer die Frage so aufgebracht hat, aber allein die Semantik der Frage suggeriert eine Lösung. Die Frage ist aber nicht, ob die Banken sich beteiligen, sondern ob und wie der Steuerzahler sich beteiligt. Die Banken haben eine Forderung gegen den Staat, der Staat erfüllt den Kontrakt nicht. Sie hängen voll drin. Aber jetzt soll der Steuerzahler dafür geradestehen. Aber zu welchem Prozentsatz? Man kann doch nicht dauernd unterstellen, dass er den Löwenanteil der Lasten trägt. Wenn er sich überhaupt beteiligt, sollen die Banken froh sein.