Beitrag von Hans-Werner Sinn, 7. Oktober 2019; erschienen als "Der Fehler der Einheit", Die Zeit, 10. Oktober 2019, Nr. 42, S. 32-33.
Ohne Eigentum funktioniert der Kapitalismus nicht. Im Sozialismus gehört allen alles und nichts zugleich. In der Marktwirtschaft ist das meiste verteilt und gehört den Einzelnen. Ohne ein gewisses Vermögen, das man eigenverantwortlich aufbaut und pflegt, kann man dort gar nicht vernünftig agieren. Wenn viele kein Vermögen haben, ist das System instabil. Aber man kann das fehlende Eigentum nicht einfach anderen wegnehmen, die welches haben, weil die es dann gar nicht erst bilden oder das Land verlassen. Dieses Dilemma ist eines der Grundprobleme der Marktwirtschaft.
In der Stunde null des Beitritts der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland, beim Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus, gab es die einmalige Chance, das Dilemma zu überwinden. Denn es war ja grundsätzlich offen, wem man das ehemals volkseigene Vermögen zuschreiben würde. Das wussten die Autoren des Einigungsvertrages, und deshalb legten sie in Artikel 25 fest, dass »Möglichkeiten vorzusehen« seien, den Sparern der Ex-DDR zu einem späteren Zeitpunkt verbriefte Eigentumsrechte am ehemals volkseigenen Vermögen zuzuweisen.
Daran hat sich die deutsche Politik nicht gehalten. Man hat den Artikel so interpretiert, dass die Treuhandanstalt, die das Volkseigentum verwaltete, ihre Betriebe meistbietend verkaufen müsse. Das Geld, das nach Abzug der Vereinigungskosten noch übrig war, sollte verteilt werden. Es war aber nichts mehr übrig, weil man den Kapitalstock einer Volkswirtschaft nicht auf einmal verkaufen kann, ohne dass der Preis in den Keller fällt. Man kann ihn nur verscherbeln.
Sicher, die Treuhandfirmen waren keine Juwelen, sondern veraltete Betriebe, die zum Teil noch mit Vorkriegsmaschinen arbeiteten. So, wie sie waren, konnte man in der neuen Welt der Marktwirtschaft nichts mit ihnen anfangen.
Jedoch besteht der Wert einer Firma nicht in erster Linie in ihren Maschinen, sondern in den Immobilien und den dort versammelten Menschen. Es kommt auf die Ausbildung, den Zusammenhalt, die Einsatzbereitschaft und den Teamgeist an. Und damit war es nicht schlecht bestellt. Die Mitarbeiter der DDR-Betriebe waren in der Regel sehr gut ausgebildet, und viele hatten zwei Berufsabschlüsse statt nur einen, wie es im Westen üblich ist. Auch die universitäre Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften hätte man nutzbar machen können. Der Kommunismus ist nicht an defekten Schulen zugrunde gegangen.
Das Potenzial, das die Treuhandbetriebe hatten, blieb durch die Strategie des Barverkaufs und durch den enormen Zeitdruck, unter den sich die Treuhandgesellschaft gesetzt sah, ungenutzt. Die Zahl der Beschäftigten in Industriebetrieben sank binnen Kurzem auf ein Viertel und hat sich bis zum heutigen Tage kaum erholt. Nur etwa 850.000 Menschen arbeiteten zuletzt in der ostdeutschen Industrie. Ursprünglich waren hier über vier Millionen Beschäftigte gezählt worden; heute geht die offizielle Statistik von 3,4 Millionen zur Wendezeit aus.
Statt des Massenverkaufs gegen bar hätte man auch eine Strategie der Joint Ventures versuchen können, bei der kapitalkräftige Firmen aus der westlichen Welt mit gut eingeführten Produkten und moderner Produktionstechnologie hereingeholt worden wären, um mit der Treuhand Gemeinschaftsunternehmen zu gründen. Die Treuhand hätte kein Geld bekommen, sondern Minderheitsbeteiligungen an den neuen Unternehmen, die den relativen Wert der Altbetriebe im Vergleich zu dem neuen Kapital der Investoren wiedergespiegelt hätten. Diese Anteilsrechte hätte die Treuhandanstalt in einen Fonds einbringen und als Anteilsscheine an die ostdeutsche Bevölkerung verteilen können, ohne dass sich die Frage der Werthaltigkeit überhaupt gestellt hätte. Der Auftrag des Einigungsvertrages hätte sich auf diese Weise erfüllen lassen. Das Joint Venture zwischen dem tschechischen Autobauer Škoda und VW ist ein gutes Beispiel für das Alternativmodell, das auch damals schon bekannt war und propagiert wurde, von dem man aber in der Politik nichts wissen wollte.
Ergänzend wären Modelle des Management-Buy-out möglich gewesen: Manche Leiter der Betriebe hätten selbst Eigner werden können, wenn die Treuhand ihnen Starthilfe geleistet hätte. Aber dazu hätte man das alte Führungspersonal nicht vollständig abblocken dürfen. Es waren ja nicht alle Entscheidungsträger kommunistische Apparatschiks. Vielmehr gab es viele tatkräftige Unternehmensleiter, denen es gelungen war, ihre Betriebe selbst unter den schwierigen Verhältnissen der DDR aufrechtzuerhalten. Die Sinnhaftigkeit des Versuchs, den wirtschaftlichen Neuanfang der neuen Länder mit unverdächtigen Pfarrern und Poeten zu gestalten, ist diskutierbar.
Die alternativen Privatisierungsmodelle hätten die Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft vermieden, und sie hätten vermutlich zu viel mehr Wohlstand und Wachstum bei weniger Finanzhilfe aus dem Westen geführt. Vor allem hätte das Eigentum dazu geführt, dass die Bevölkerung der neuen Länder sich stärker mit dem neuen System identifiziert hätte, als es heute der Fall ist. Man kann keinen Kapitalismus ohne Eigentum schaffen – Eigentum, das auch unter der ansässigen Bevölkerung verteilt ist und die Chance auf ein bodenständiges Unternehmertum eröffnet.
Große Fehler wurden zudem bei der Privatisierung der Wohnungsbestände gemacht. Die DDR hatte gut zwei Millionen in ihrer Zeit neu geschaffene Wohnungen hinterlassen. Zumeist waren es Block- und Plattenbauten, weiß Gott keine architektonischen Schmuckstücke und weit entfernt von den westdeutschen DIN-Normen. Aber diese Wohnungen stehen großenteils noch heute, sie wurden längst saniert und bieten annehmbare Wohnverhältnisse, wie sie auch im Westen in großen Mietshäusern bestehen. Man hätte diese Wohnungen den Mietern schenken oder billig verkaufen können mit der Auflage, sich an gemeinsamen Renovierungsprogrammen zu beteiligen. So hatte es 1994 eine vom Bundeswohnungsministerium unter meiner Leitung eingesetzte Kommission empfohlen.
Aber dazu kam es nicht, denn die westdeutschen Wohnungsgesellschaften wollten das Geschäft selbst machen. Sie erwarben die Wohnungen, renovierten sie und vermieteten sie dann wieder. Als Deutschland in den ersten Euro-Jahren in die Krise geriet, boten viele der Eigentümer ihre Immobilien zu günstigen Preisen an. Internationale Investoren kauften sich in die ostdeutschen Wohnungsbestände ein. Heute wollen diese Investoren angesichts der neuen Wohnungsknappheit in den Ballungszentren bei den Mieten herausholen, was nur geht. Die Konsequenz aus allem sind Demonstrationen mit dem Ziel der Vergemeinschaftung der Wohnungsbestände. Das ist verständlich, aber falsch. So zerstört man die Marktwirtschaft.
Dass es so weit kommen konnte, liegt großenteils an der Einflussnahme westdeutscher Unternehmen auf die Politik der Bundesregierung. Man wollte nicht nur an die Wohnungsbestände heran und dabei sein Geschäft machen, sondern natürlich auch an die Landflächen und Industriefirmen – mindestens um zu verhindern, dass sie in die Hände von Wettbewerbern gerieten.
Nach der Wende besaß die Treuhand circa 40 Prozent der gesamten Landfläche der Ex-DDR, nach der Übertragung von Land an die Kommunen noch circa 25 Prozent. Das war die Hälfte aller privaten und privatisierbaren Flächen. Sie besaß praktisch alle Industriefirmen mitsamt der Immobilien und Feriengebiete für die Mitarbeiter. Es boten sich Gelegenheiten für diejenigen, die ein bisschen Geld hatten, um im Osten irgendwie mit einzusteigen, aber nicht für die Ostdeutschen, denn die hatten keines. Sie konnten sich noch nicht einmal welches leihen, weil sie den Banken kein Wohneigentum als Sicherheit anbieten konnten.
Westdeutsche Interessen spielten auch eine Rolle bei der ausufernden Lohnpolitik, die der Industrie nach der Wende den Todesstoß gab. An dieser Lohnpolitik waren Ostdeutsche am wenigsten beteiligt, denn sie wussten ja gar nicht, wie die Gewerkschaften funktionierten, und private ostdeutsche Unternehmen gab es noch gar nicht, als die ersten Tariflohnverträge geschlossen wurden. Die Verhandlungen wurden stattdessen von den neuen Branchengewerkschaften und Unternehmerverbänden geführt, die faktisch westdeutsche Gründungen waren. Die Einigungen sahen die volle Lohnangleichung an das Westniveau in nur wenigen Jahren vor.
Die Verhandlungsführer aus dem Westen waren sich einig, dass es galt, den Aufkauf der Treuhandfirmen durch internationale Wettbewerber zu verhindern, die ihnen in Ostdeutschland zu niedrigeren Löhnen Konkurrenz machen würden. Das Kalkül: Wenn die Japaner kommen wollten, dann sollten sie gefälligst die gleichen Löhne zahlen müssen wie sie selbst im Westen. Politik und Medien spielten dazu die übliche Begleitmusik von der Angleichung der Lebensumstände und redeten von Brüdern und Schwestern.
Die Strategie war privatwirtschaftlich sehr erfolgreich, wie die zitierten Zahlen zum Beschäftigungsschwund der Treuhandfirmen zeigen. Volkswirtschaftlich war sie ein Desaster, denn Löhne kann man zwar durch Invesitionen hochziehen, aber man kann sie nicht per Dekret hochschieben. Wer das doch versucht, schreckt die Investoren ab und verhinert letztlich die Angleichung, weil es an Unternehmen fehlt, die die Löhne zahlen.
Als sich nach einigen Jahren dennoch ein bescheidenes ostdeutsches Unternehmertum entwickelt hatte und die neuen Unternehmer über ihre eigenen betrieblichen Löhne statt über die Löhne potenzieller Konkurrenten verhandelten, kehrte wieder Vernunft ein. Man fand dann doch Wege, sich der zerstörerischen Tarifverträge zu entledigen. Aber dann war es vielfach schon zu spät, zumal die osteuropäischen Länder da bereits auf dem Sprung in die EU waren. Der wertvolle Vorsprung, den die neuen Länder gegenüber Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn beim Eintritt in den EU-Markt hatten, wurde verspielt. Als klar wurde, dass die Landschaften des Ostens nicht blühen würden, begannen die jungen Leute abzuwandern, und die zurück gebliebenen wandten sich der AfD zu.
Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Vereinigungsgewinne wurden verteilt, die Glücksritter der ersten Stunden haben sich aus dem Staube gemacht, und der Sozialstaat sorfte für den Ausgleich. Die Steuerzahler des Westens finanzieren heute einen gut ausgebauten Sozialstaat, dessen Leistungen weit über dem liegen, was die ostdeutsche Wirtschaft selbst ermöglichen könnte.
Noch mehr Sozialtransfers zu gewähren wäre kontraproduktiv, weil sich der Staat damit auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrent der Privatwirtschaft aufstellt und der Wirtschaft das Leben erschwert. Richtiger und wichtiger wäre es, die Innovationsprogramme, die einzelne Bundesländer recht erfolgreich entwickelt haben, fortzuführen und auszubauen.
An erster Stelle sollten aber Bemühungen stehen, die Eigentumssituation zu verbessern. Dazu kann es gehören, einen staatlich beaufsichtigten Vermögensfonds zu bilden, wie ihn der Präsident des ifo-Instituts Clemens Fuest vor einiger Zeit für ganz Deutschland vorschlug. Den Bürgern der neuen Länder könnte man zu diesem Fonds einen privilegierten Zugang verschaffen. Vor allem sollte speziell für die neuen Länder ein Programm zur Förderung des Wohneigentums aufgelegt werden, um die Versäumnisse bei der Privatisierung der Wohnungsbestände wenigstens teilweise zu kompensieren.