Der Osten hängt noch immer am Tropf des Westens

Hans-Werner Sinn

Münchner Merkur, 12./13. Oktober 2019, S. 3.

Hans-Werner Sinn, 71, hat schon zu Wendezeiten gewarnt: Bei der Transformation der einstigen DDR von einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft werden entscheidende Weichen falsch gestellt. Der wohl renommierteste deutsche Ökonom sah Fehlentwicklungen vor allem bei der Privatisierung der Ostbetriebe und in der Tarifpolitik. 30 Jahre später trafen wir den ehemaligen Chef des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, um mit ihm Bilanz zu ziehen – und einen Blick in die wirtschaftliche Zukunft zu werfen.

Was verbinden Sie persönlich mit der deutschen Wiedervereinigung?

Ich war 13 Jahre alt, als die Mauer gebaut wurde. Am 12. August 1961 war ich mit meinen Eltern in den Osten gefahren, um eine Tante zu besuchen. Als wir am Nachmittag zurückfahren wollten, war schon alles mit Stacheldraht abgesperrt. Das hat mich sehr beeindruckt.

Seit dem Mauerfall sind jetzt 30 Jahre vergangen. Noch immer bestehen erhebliche Ungleichheiten zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Warum ist das so?

Zunächst einmal zu den Zahlen. Fangen wir mit dem Positiven an: Die Rente liegt im Osten mittlerweile bei 123 Prozent des westdeutschen Niveaus, und das, obwohl die Preise dort niedriger sind.

Wie kommt das?

Man hat bei der Umstellung der Renten bei der Wiedervereinigung sehr großzügig gerechnet. Das betrifft die Alt-renten, die heute ausbezahlt werden. Die zu erwartenden Neurenten, um die sich die aktuelle Diskussion dreht, sind natürlich nicht so hoch, weil ja im Osten auch die Löhne niedriger sind. Die Stundenlohnkosten liegen im Osten im Schnitt bei nur 81 Prozent des Westniveaus.

Das sind dann die weniger positiven Zahlen...

Ja. Die verfügbaren Einkommen im Osten inklusive der staatlichen Transfers liegen zwar bei 85 Prozent des Westniveaus, doch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf nur bei 75 Prozent. Und auch das ist zu einem großen Teil durch die Verringerung der Zahl der Köpfe im Osten, also durch eine Massenabwanderung gen Westen, auf dieses Niveau gehoben worden. Das BIP-Wachstum selbst war nämlich seit 1995 nicht höher als im Westen. Rechnet man den Staatssektor heraus und betrachtet man nur die private Wertschöpfung, kommt man beim BIP auf gerade mal 62 Prozent des Westniveaus. Der Staatssektor ersetzt im Osten die fehlende Exportindustrie. Es gibt heute nur noch 850.000 Industriearbeitsplätze in Ostdeutschland. Ursprünglich waren es vier bis fünf Mal so viele.

Ernüchternd!

Man muss feststellen: Ein industrieller Wiederaufbau hat nur ansatzweise stattgefunden, es ist ein lediglich binnenwirtschaftlich orientierter Landesteil entstanden, der am Tropf des Westens hängt.

Wie ist es dazu gekommen?

Dafür gibt es viele Gründe, die wichtigsten sind die Privatisierungspolitik und die Tarifpolitik. Die Löhne wurden von Westgewerkschaften und Westarbeitgebern ausgehandelt, die im Osten ihre Niederlassungen gründeten, weil es die entsprechenden Tarifparteien im Osten noch gar nicht gab. Die Treuhandanstalt als Besitzerin der Ostunternehmen hat sich da lieber ganz herausgehalten. Die West-Arbeitgeber und West-Gewerkschaften hatten kein Interesse daran, dass sich Konkurrenten aus der ganzen Welt mit ihren Produkten und Marktkenntnissen der Treuhandfirmen bemächtigen und mit ihrer Hilfe als Billiglohnanbieter auftreten würden. Den vom Westen gesteuerten Tarifpartnern konnten die Löhne für die potenziellen Konkurrenten im Osten gar nicht hoch genug sein.

Aber mussten die Löhne nicht so hoch sein, weil es sonst zu Massenabwanderungen gekommen wäre?

Man kann Löhne in der Marktwirtschaft nur durch die Nachfrage der Investoren nach Arbeitskräften hochziehen lassen, aber man kann sie nicht erfolgreich hochdrücken. Versucht man das, kommen die Investoren nicht. Mit einem Seil kann man ziehen, aber nicht schieben. Die Konsequenz der vorauseilenden Lohnerhöhungen war der dramatische Verlust an Arbeitsplätzen, den ich erwähnt habe. Dadurch kam die befürchtete Abwanderung erst recht in Gang. Ich bin überzeugt, dass eine andere Tarifpolitik zu mehr Wachstum, viel mehr Arbeitsplätzen und letztlich deutlich höheren Löhnen geführt hätte.

Gibt es nicht die Chance, das Versäumte nachzuholen?

Kaum. Der Zug ist abgefahren. Mit der Lohnpolitik hat man die Chancen verspielt, die Ostdeutschland dadurch hatte, dass es 15 Jahre früher als die meisten anderen Ex-Comecon-Länder in den großen Markt der EU integriert wurde. Man hätte den Vorsprung nutzen können, um sich Lieferbeziehungen und Marktpositionen im Westen aufzubauen. Heute kommt man gegen die Niedriglohnanbieter aus Polen, Tschechien und Ungarn kaum noch an.

Und was ist bei der Privatisierung schiefgelaufen?

Die Privatisierung durch die Treuhandanstalt war im Grunde eine Ramschaktion, bei der die gesamte ostdeutsche Wirtschaft auf einmal auf den Tisch kam. Das hätte ganz anders laufen müssen. Die Treuhandanstalt hätte Joint-Venture-Partner suchen können, ähnlich wie Skoda es mit Volkswagen tat. Die Japaner und viele andere scharrten ja schon mit den Hufen und wären bereit gewesen, sich zu engagieren. Es hätte dann die Möglichkeit gegeben, der ostdeutschen Bevölkerung Anteilsscheine im Umfang des Wertes der Minderheitsbeteiligungen der Treuhand zu übereignen, ähnlich wie der Einigungsvertrag es ja verlangte. Im Übrigen hätte man der ostdeutsche Bevölkerung die Wohnungen geben können, die zu DDR-Zeiten gebaut wurden. Stattdessen wurden die Wohnungsbestände zu Spottpreisen an westdeutsche Wohnungsunternehmen verkauft, die sie dann oft mit hohem Gewinn an internationale Immobilienfirmen weitergereicht haben, die heute in die Vollen gehen und Mieten verlangen, die den Ruf nach Enteignung laut werden lassen.

Kurz gesagt: Die Politiker wollten damals nicht auf den Rat der Ökonomen hören. Und haben als Quittung dafür die AfD bekommen?

Die Mischung aus Arbeitslosigkeit, fehlender wirtschaftlicher Dynamik und fehlendem Eigentum führte sicherlich zu der Frustration, die mithalf, die AfD stark zu machen.

Was kann man jetzt noch tun?

Wenn eine Industrie erst einmal zerstört ist, wird es schwer, Strukturen wieder in Gang zu setzen. Was man jetzt tun kann und muss, ist, innovative Projekte gezielt im Osten anzusiedeln. Ich halte es auch für wichtig, über einen Vermögensfonds nach norwegischem Vorbild nachzudenken, durch den die Gesamtbevölkerung, nicht nur jene im Osten, zu Vermögen kommen kann. Der ifo-Präsident Clemens Fuest hat dazu Vorschläge unterbreitet.

Kommen wir zur ökonomischen Gegenwart. Rutschen wir in eine Rezession?

Die guten Jahre seit 2010 sind vorbei. Die Industrie ist schon seit einem Jahr in der Rezession, sie schrumpft. Andere Sektoren wie etwa der Bau laufen noch sehr gut, aber in zwei, drei Jahren könnte die Krise auch auf den Immobiliensektor übergreifen.

Die EZB plädiert für Konjunkturprogramme...

Die würden nur der Binnenkonjunktur helfen – aber gerade die läuft ja noch. Gegen den Ausfall auf unseren Exportmärkten und auch gegen den Strukturwandel, den wir teils politisch erzwungen haben, helfen solche Programme leider nicht.

Sie meinen die Autobranche?

Ja. Die Beschlüsse zur CO2-Reduktion, die die deutsche Umweltministerin in Brüssel mit abgenickt hat, sind verheerend für die deutsche Industrie.

Was meinen Sie?

Die politische Fixierung auf das Elektroauto bringt fürs Klima erst mal gar nichts, wenn man den CO2-intensiven Herstellungsprozess der Batterien berücksichtigt und den Umstand, dass der Strom ja keineswegs nur aus erneuerbaren Quellen stammt. Beim heutigen deutschen Strommix wird der Auspuff überwiegend nur ins Kraftwerk verlagert. Nützen tut diese Politik anderen, zum Beispiel den französischen Autobauern, die ohnehin viele kleine Autos herstellen, die heute schon viele E-Fahrzeuge im Angebot haben und deren Kunden auf billigen Atomstrom zurückgreifen können. Unsere Grünen verstehen nicht, dass E-Autos nicht grün sind. Leider hat sich ihre Naivität mit den französischen Industrieinteressen zu einer unheilvollen Allianz verbündet.

Ist das deutsche Blauäugigkeit?

Ich gehe noch weiter. Ich halte es für demokratietheoretisch nicht in Ordnung, wenn eine Ministerin in Brüssel ohne Beteiligung des deutschen Parlaments die mögliche Dezimierung unserer Autoindustrie mit beschließen darf. Man kann das politisch wollen. Aber dann muss sich der Bundestag damit beschäftigen. Das war nicht der Fall. Der Bundestag darf nur noch exekutieren und überwachen, was in Brüssel beschlossen wurde.

Wie wäre denn dem Klima besser geholfen?

Wirksame Klimapolitik braucht ein weltweit koordiniertes Vorgehen möglichst aller Länder, und dafür gibt es nur ein Mittel: den globalen Emissionshandel. Es allein zu versuchen, ist sinnlos, weil dann andere Länder bei fallenden Weltmarktpreisen jene Mengen an Brennstoffen verbrauchen, die wir freigeben. Wenn einige Länder vorangehen wollen, brauchen Sie einen weltumspannenden und von Anfang an recht großen und wirtschaftlich starken Klub der Gutwilligen, der im Inneren Freihandel gewährt und sich nach außen durch Zölle absichert, während er seine Emissionen durch einen gemeinsamen Emissionshandel koordiniert und begrenzt. Die Zölle müssen so gewählt sein, dass es attraktiv wird, diesem Klub beizutreten. Wir sollten nicht der Illusion erliegen, dass wir das Klima retten, indem wir mit gutem Beispiel vorangehen und unsere Industrie dabei lädieren.

Das Interview führten Corinna Maier und Georg Anastasiadis.

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