Handelsblatt, 20. Oktober 2015, S. 15.
Bert Rürup war Vorsitzender des Sachverständigenrats. Er hat das nach ihm benannte Rentenmodell entwickelt. Er ist der mächtige Vorsitzende des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er leitet das Handelsblatt Research Institute. Ich schätze ihn als praxisorientierten Ökonomen mit guten Politikerkontakten.
Gleichwohl unterläuft auch ihm einmal ein Fehler, wenn er vom Drang zu polemisieren getrieben wird. So geschah es in den Spalten dieser Zeitung, als Rürup mich kritisierte, weil er irrtümlicherweise glaubte, ich wolle für die Flüchtlinge den Mindestlohn aufheben, ihnen also die Möglichkeit geben, geringqualifizierte einheimische Arbeitnehmer zu unterbieten. Da hat er sich leider vertan. Ich schlage vielmehr vor, den Mindestlohn ganz aufzuheben oder zu senken, wegen der Flüchtlinge, nicht für die Flüchtlinge.
Es gibt kurzfristig nur drei Möglichkeiten, die Flüchtlinge in die Arbeitswelt zu integrieren: Man nimmt nur die Flüchtlinge vom Mindestlohn aus - das lehne ich ab. Man zahlt den Unternehmen Lohnzuschüsse. Das ist keine zielgenaue Sozialpolitik. Oder man senkt den Mindestlohn flächendeckend und gewährt persönliche Lohnzuschüsse. Ich würde die letzte Variante wählen. In Form der "aktivierenden Sozialhilfe" fordern wir das am Ifo-Institut schon lange, beim Arbeitslosengeld II wurden unsere Vorschläge schon teilweise realisiert, auch unter Beteiligung von Bert Rürup. Die Devise sollte sein: "Wer arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben."
Leider waren nicht alle Flüchtlinge Chefärzte in Aleppo oder Schreinermeister in Damaskus. Sie werden gerade nicht mit einem Punktesystem à la Kanada ausgesucht. Die genaue Bildungsstruktur der Flüchtlinge ist noch unbekannt. Doch sagt das IAB, dass 22 Prozent der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten keinen Hauptschulabschluss haben. Viele dürften Analphabeten sein, und wenn sie lesen und schreiben können, dann wohl eher nicht die lateinische Schrift.
Die meisten Flüchtlinge kommen daher am Anfang nur für gering qualifizierte Beschäftigungen infrage. Damit entfaltet der Mindestlohn seine Bindungskraft. Wie auf jedem Markt, so ist es auch auf dem Markt der Geringqualifizierten. Wenn das Angebot steigt, braucht es eine Preissenkung, damit es von der Nachfrage aufgenommen wird. Mehr Geschäftsmodelle für Geringqualifizierte werden erst dann rentabel, wenn der Lohn für einfache Arbeit fällt.
Wollen wir Menschen in der Arbeit bezuschussen oder ohne Arbeit vollständig alimentieren? Mindestlöhne bedeuten Letzteres. Die Agenda 2010 hat den impliziten Mindestlohn im deutschen Sozialsystem gesenkt und einen Niedriglohnsektor geschaffen. Wegen der Lohnzuschüsse konnte eine Ausspreizung der Nettoeinkommen vermieden werden. Wir brauchen jetzt das Ganze noch einmal verstärkt als Agenda 2020.
Wer aber am Mindestlohn festhält, erzeugt eine Parallelgesellschaft von arbeitslosen Immigranten, mit der sich wachsende Spannungen ergeben werden. Wir sorgen uns also um die gleichen Dinge, Bert Rürup und ich, auch wenn wir unterschiedliche Wege gehen wollen. Seine Polemik beim Mindestlohn aber läuft ins Leere. Gelegentlich lohnt sich das genaue Lesen, Herr Kollege.