Zum Schluss noch mal ausverkauftes Haus: Ifo-Chef Hans-Werner Sinn hält seine Abschiedsvorlesung in München und per Livestream in der ganzen Welt. In knapp 90 Minuten von der Studentenrevolution bis zur Euro-Krise.
Gäbe es heute noch eine Professur für Weltweisheit, so wäre Hans-Werner Sinn wohl der Kandidat schlechthin: Egal ob Klimaschutz, Deutsche Einheit, Lohnpolitik,- Flüchtlings-, Energie- und Geldpolitik oder die Frage nach der Notwendigkeit einer europäischen Armee – der umtriebige Ökonomieprofessor weiß auf alle Fragen des Weltgeschehens eine Antwort. Und so ist es kein Wunder, dass der frisch gekürte Hochschullehrer des Jahres am Mittwochabend große Mühe hatte, in seiner Abschiedsvorlesung an der Uni München seinen „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert“ auf knapp 90 Minuten zu begrenzen.
Genau 82 Semester lang hat der heute 67-Jährige Studenten die Volkswirtschaftslehre erklärt. In den letzten Jahren während der Euro-Krise lief er noch einmal zur Höchstform auf. Kaum ein Tag verging, ohne dass Sinn nicht nur den Hörsaal, sondern per Pressemeldung oder Interview die ganze Welt um Gehör bat. Ende März geht er nun in den Ruhestand. Seinen Platz an der Uni und im Ifo-Institut wird der Finanzwissenschaftler Clemens Fuest einnehmen.
Manch Politiker wird erleichtert sein. Vor allem mit seinem knallharten Griechenland-Kurs machte er sich in der Regierung keineswegs nur Freunde. So schimpfte Finanzminister Wolfgang Schäuble in Richtung Ifo: „Ich finde, Milchmädchen dürfen Milchmädchenrechnungen vorlegen.“ Bei Professoren sehe das anders aus. „Mit der Autorität von akademischen Titeln und von wissenschaftlichen Instituten, die mit viel Geld vom deutschen Steuerzahler subventioniert werden“, sei hingegen „eine besondere Verantwortung verbunden“.
„Ich bin nicht gegen die Euro-Rettung“, verteidigte Sinn seine scharfe Kritik. „Ich glaube nur nicht, dass das, was gemacht wurde, den Euro rettet.“
Sinn war keineswegs immer rechts. Als der damals 20-Jährige 1967 sein Studium begann, startete der Keynesianismus seinen Siegeszug rund um den Globus. „Wir glaubten an die Feinsteuerung der Wirtschaft“, gab Sinn zu, „die Allmacht des staatlichen Handelns“.
„Wir müssen dem Volk dienen, nicht der Politik“
Heute weiß er, dass schon bald darauf der Startschuss für den rasanten Anstieg der Staatsverschuldung gelegt wurde. Der Sozialstaat wurde ausgebaut und die Löhne stiegen – ohne dass dies solide finanziert war. Allein in der Ära Helmut Schmidt verdoppelte sich daher die Schuldenquote von 20 auf 40 Prozent. Als schließlich der Maastricht-Vertrag in Kraft trat, lag die Quote auch in Deutschland über dem eigentlich zulässigen Schwellenwert von 60 Prozent – und öffnete damit den Südländern die Tür in die Euro-Zone. Letztlich wurde in den 1970er Jahren damit der Grundstock für die heutige Euro-Krise gelegt – sagt Sinn zwar nicht explizit, doch legen seine Ausführungen diese Schlussfolgerung nahe.
„Man kann eine Volkswirtschaft durch Transfers nicht produktiv machen“, sagt er. Heute wiederholt sich in Südeuropa das, was nach der Einheit in Ostdeutschland passiert ist. „Deshalb bin ich heute so pessimistisch für Südeuropa.“ Südeuropa habe heute kein keynesianisches Konjunkturproblem, dass noch mehr Schulden erfordere, sondern eine neoklassisches Problem falscher relativer Preise. Die niedrigen Zinsen und die hohen Löhne hätten den einstigen Club-Med-Ländern schlicht Wettbewerbsfähigkeit gekostet.
Seine wichtigsten Lehren aus einem halben Jahrhundert?
Die großen Parteien versuchten die Themen ihres Gegners abzuräumen. Angela Merkel mache „linke Reformen“, Gerhard Schröder machte rechte. Die beiden Volksparteien verlören daher ihre Identität und schafften so Platz für neue Parteien an den Rändern.
Investive und konsumtive Phasen der Wirtschaftspolitik wechselten einander ab. Gegenwärtig sei die Politik „extrem konsumtiv“, sagt Sinn und meint damit wohl: extrem schlecht. Mindestlohn, Energiewende, Finanzierung der Euro-Krise, Millionen von Flüchtlingen – all das hat die deutsche Politik mit zu verantworten.
„Schaffen wir das?“, fragt Sinn. „In der Summe wohl nicht“, fürchtet er. Denn es gäbe „kein Primat der Politik über ökonomische Gesetze“. Allerdings dauere es meist eine Weile, bis man das merke. Unter Umständen hätte einen die eigene Partei, wie einst Gerhard Schröder, bis dahin längst abgestraft.
Volkswirte dürften nicht müde werden, auf ökonomische (Fehl-)Entwicklungen hinzuweisen. „Wir müssen dem Volk dienen, nicht der Politik“, mahnt Sinn. „Wir müssen uns am öffentlichen Diskurs beteiligen“ – und das hat er getan, wie kaum ein anderer. Auch wenn man nicht alle seine Positionen teilen muss, die mahnende Stimme von Hans-Werner Sinn wird ganz sicher Deutschland fehlen.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.com