Hans-Werner Sinn hat seine Abschiedsvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehalten - und überraschte mit privaten Anekdoten. Dass er sich künftig nicht mehr zu aktuellen Themen äußern will, ist danach schwer zu glauben. Hier die wichtigsten Zitate.
Die Aula in der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ist am Montagabend bis auf den letzten Platz gefüllt. Wer nicht auf der Gästeliste steht, wird abgewiesen. Oben auf den Rängen sitzen Studenten und andere, die es geschafft haben, noch einen Platz zu ergattern. Unten im Saal sitzt das Who-is-Who der Münchener Wirtschaft: HypoVereinsbank-Chef Theodor Weimer und sein Vor-Vorgänger Albrecht Schmidt, der die beiden bayerischen Großbanken einst fusioniert hatte. Der Bankier Uto Baader, Unternehmensberater Roland Berger, der die Laudatio hielt, oder Otto Wiesheu, einst Wirtschaftsminister in Bayern, dann Bahn-Vorstand. Dazu Professoren, Volkswirte, Manager, Politiker. Insgesamt rund 800 Gäste.
Nächstes mal im Stadion
Die Vorlesung wird in einen zweiten Hörsaal übertragen, damit noch mehr Menschen sie verfolgen konnten. „Wenn Sie in 20 Jahren wiederkommen, müssen Sie vielleicht doch in die Allianz-Arena umziehen“, scherzt Berger.
Ganz vorne sitzt Sinn im Kreise seiner Familie, neben sich seine Frau Gerlinde, die ebenfalls an der LMU lehrt. Mit ihr schrieb Hans-Werner Sinn 1991 das Buch „Kaltstart“, eine Analyse der volkswirtschaftlichen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung. Den blauen Trabi auf dem Cover habe er nach dem Foto gekauft, erzählt Sinn. Und auch sonst bietet sein Vortrag über 50 Jahre Wirtschaftsgeschichte erstaunlich viel Platz für private Anekdoten aus dem Leben des Mannes, der in den Medien omnipräsent scheint und über den die Öffentlichkeit dennoch so wenig weiß.
Sinn als Dutschke-Fan und Marxist
„Ich möchte Ihnen heute einen Rückblick geben, denn nach vorne ist ziemlich viel Nebel“, sagte Sinn zu Beginn seines knapp 90-minütigen Vortrags. Fast wie in dem Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ von Jonas Jonasson reiht er Episode an Episode – und es wird klar, dass der Professor bei erstaunlich vielen weltgeschichtlichen Ereignissen selbst anwesend war.
Sinn zeigt ein Bild vom 13. August 1961. Vor dem Brandenburger Tor stehen DDR-Soldaten, Stacheldraht ist ausgerollt. An diesem Tag wird die Berliner Mauer gebaut – und das Foto hat der 13-Jährige Hans-Werner mit seiner Kodak-Pocket-Kamera gemacht. Erstmals ahnt das Auditorium, warum ihn die deutsche Wiedervereinigung und deren wirtschaftliche Folgen so umtreibt.
Doch zwischen dem Mauerbau und dem Mauerfall gab es einen ganz anderen Sinn. Einen, der so gar nicht zu dem Mahner von heute zu passen scheint, dem Marktliberalen, der Sozialdemokraten, Grüne und auch Teile der CDU mit seine Thesen geradezu quält. Dieser Sinn nahm als Student an Ostermärschen teil, pilgerte 1967 zu Reden von Rudi Dutschke und: „1968 beim Prager Frühling war ich dabei.“ Da demonstrierte er gegen die Russen. „Als Linker war ich im sozialdemokratischen Studentenbund“, bekennt Sinn. Sinn? Ein Linker? Es hätte sogar noch schlimmer kommen können: Auf der Leinwand erscheint das Buch „Der dritte Weg “ von Ota Sik. Eine der Bibeln des damaligen marxistisch-leninistischen Studentenbunds. „Damit haben wir uns befasst“, erzählt Sinn. Er kannte Sik.
Bekehrung zur Marktwirtschaft
Dann fuhren sie nach Jugoslawien, um sich den dritten Weg anzusehen. Und Sinn merkte, dass Planwirtschaft – auch als Genossenschaft - nicht funktioniert. „Die Planwirtschaft muss pekuniäre Anreize durch einen Kommissar ersetzen“, erklärt jetzt der VWL-Professor Sinn. „Das führt immer zu einer Machtherrschaft. Wenn das einmal verstanden ist, dann rückt man nie mehr von der Marktwirtschaft ab.“
Fortan blitzt ab und an die Eitelkeit auf, die seine Gegner so hassen und für die ihn seine Fans lieben. Sinn hat es immer gewusst – nur hat ihm keiner zugehört. Und manchmal hat sich die Politik einfach nicht an seinen Plan gehalten. Hier ein paar Beispiele:
Sinn über…
… die Wiedervereinigung
(er saß im Beratergremium der Bundesregierung)
„Die 1:1 Umstellung 1:1 (von Ostmark in D-Mark) war nicht das Problem. Ich habe zusammen mit Otmar Issing (damals Bundesbank) für den 1:1 Umtausch gekämpft.“ Das Problem waren die Löhne, die durch westliche Arbeitgeber und Gewerkschaften viel zu schnell in die Höhe getrieben wurden. Im Grunde habe die deutsche Industrie Angst vor einer japanischen Niedriglohnkonkurrenz im Osten gehabt, erzählt Sinn. „Nach außen hat man für die Bevölkerung dann das Gerechtigkeitsargument ins Feld geführt.“ Alles ein Märchen.
… die Idee vom schuldenfinanzierten Wachstum
„Es gibt kein Nettowachstum durch Verschuldung, denn Schulden müssen getilgt werden.“
… die deutsche Wirtschaft vor der Agenda 2010
„Es gab kein Land bis zum Ural, das so langsam wuchs wie Deutschland.“
… die Bankenrettung in der Euro-Krise
„Das Ifo-Institut hat damals vorgeschlagen, Griechenland abzuwickeln. Das wollten die französischen Banken nicht.“ Yanis Varoufakis habe ihm neulich zugestimmt, dass das die richtige Idee gewesen sei. Stattdessen hätten die Staaten die Schulden von den Banken übernommen. „Damit ist Frau Merkel zum Gläubiger Griechenlands geworden. Und das Verhältnis eines Gläubigers zum Schuldner ist nun mal ein anderes. Das war keine Friedenspolitik. Die früheren Gläubiger sitzen irgendwo im Trockenen.“
… den Beinahe-Euro-Austritt Italiens
„2011/2012 begannen Verhandlungen (mit Berlusconi) über einen Austritt Italiens. Das kann man bei (dem Ex-Notenbanker) Bini Smaghi nachlesen. Da wollte dann auch Papandreou mit den Griechen raus. Beide mussten in derselben Woche zurücktreten.“
… den Mindestlohn
„Deutschland hatte immer schon einen Mindestlohn. Lohnersatzleistungen wie die Sozialhilfe sind implizite Mindestlöhne.“ Denn die Arbeitgeber müssten mehr bieten, um Menschen zum Arbeiten zu bewegen. „Der Sozialstaat als Konkurrent.“
„Mit der Agenda 2010 ist der implizite Mindestlohn gefallen. Es gab nicht mehr so viel Geld für wegbleiben und mehr Geld fürs Mitmachen.“
Wer das Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeflüstert hat? Na raten Sie mal.
… die Rente mit 63
"2035 wird Deutschland 12 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte brauchen: Zusätzliche Kinder oder Zuwanderer. Es ist eine verantwortungslose Politik, so etwas wie die Rente mit 63 zu propagieren, weil die Konsequenzen nicht bedacht werden."
… den wachsenden Dienstleistungssektor
"Restaurantbesuche sind heute recht günstig. Ich war 50 bis ich das erste Mal wirklich essen gegangen bin."
… die Energiewende
„Wenn der Anteil der Erneuerbaren auf 33 Prozent des Stromverbrauchs steigt, ist die Pufferung des Stroms durch konventionellen Strom nicht mehr möglich, weil ein großer Teil der Stromspitzen über dem Verbrauch liegt. Wollte man den gesamten Wind- und Sonnenstrom glätten, bräuchte man schon heute 3500 Speicherkraftwerke. Wir haben aber 30.“
„Bei der Umwandlung des Stroms in speicherbares Methan und der Rückumwandlung des Methans in Strom geht drei Viertel der Energie verloren. Das heißt, der Strom käme selbst dann viermal so teuer aus der Anlage heraus, wie er reingekommen ist - selbst wenn die Anlage selbst nichts kosten würde.“
... die Flüchtlingswelle
„Studien zeigen: 65 Prozent der Bevölkerung in Syrien können die Grundrechenarten nicht. Lassen Sie es mich so sagen: Mit den Chefärzten aus Aleppo ist das so eine Sache.“
Sinn wird im März 2016 pensioniert, Sein Nachfolger ist Clemens Fuest, derzeit Chef des ZEW in Mannheim. Sinn will sich dann nicht mehr zu aktuellen Themen äußern – das ist nach dem Auftritt am Montagabend nur schwer zu glauben.
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