DIE ZEIT, 4. Juni 2020, S. 22, Nr. 24.
Herr Sinn, Herr Bofinger: Die Staaten in Europa geben Billionen aus, um die Wirtschaft zu stützen. Kommt jetzt die Inflation?
Hans-Werner Sinn: Nein, noch nicht. Aber das Geld der Staaten kommt vor allem aus den Druckerpressen der Notenbanken. Damit werden die Staatspapiere gekauft. Das kann irgendwann zur Gefahr werden.
Die EZB hat für diese Käufe vorerst 750 Milliarden Euro bereitgestellt. Herr Bofinger, wie groß ist die Inflationsgefahr?
Peter Bofinger: Im Moment liegt die Teuerungsrate in der Euro-Zone bei gerade einmal 0,1 Prozent. Und die Arbeitslosigkeit wird in den nächsten Jahren deutlich steigen. Das drückt die Löhne und den Preisauftrieb. Die Gefahr einer Deflation, also fallender Preise, scheint mir erheblich größer als die Gefahr einer Inflation.
Sinn: Ich sagte: irgendwann. In der Krise horten die Leute das Geld, statt es auszugeben. Wenn die Wirtschaft eines Tages wieder boomt, aus welchen Gründen auch immer, müsste man das Geld wieder einsammeln, um eine Inflation zu verhindern. Doch fehlt der EZB leider der Rückwärtsgang.
Bofinger: Das stimmt nicht. Sie könnte den Preisauftrieb doch problemlos unter Kontrolle bringen. Sie muss dazu lediglich den Banken einen entsprechend hohen Zins auf ihre bei der Zentralbank unterhaltenen Guthaben bieten.
Das müssen Sie erklären.
Bofinger: Genauso wie Privatleute Konten bei der Bank haben, haben die Banken Konten bei der EZB. Wenn die Zentralbank den Banken höhere Zinsen bietet, dann verlangen die Banken ihrerseits von ihren Kunden höhere Zinsen. Auf diese Weise könnte die EZB die Kreditzinsen jederzeit anheben – und die Inflation eindämmen.
Sinn: Um den Geldüberschuss wirklich zu beseitigen, müsste die EZB auch einen erheblichen Teil der von ihr erworbenen Anleihen wieder verkaufen. Das Eigenkapital der Banken besteht aber zu einem großen Teil aus Anleihen, deren Kurse durch die Käufe der Notenbank künstlich aufgebläht wurden. Durch den Rückverkauf würde diese Blase platzen, was viele Banken in den Konkurs triebe und auch manch einen Euro-Staat in die Bredouille brächte. Eine Inflation könnte man deshalb nicht stoppen.
Bofinger: Das Argument kaufe ich nicht. Inflation entsteht, wenn das Angebot an Waren und Dienstleistungen nicht mit der Nachfrage Schritt halten kann, dann steigen die Löhne und die Preise. Wir brauchten also erst einmal einen Anstieg der Nachfrage, also ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum. Wenn aber die Wirtschaft kräftig wächst, dann steigen auch die Steuereinnahmen, und die Staatsfinanzen sind in einem besseren Zustand. Dann ist für die Banken und die Regierungen auch ein gestiegenes Zinsniveau nicht mehr so schlimm. Anders gesagt: Wenn höhere Zinsen nötig werden, dann können wir uns höhere Zinsen auch leisten.
Sinn: Ich teile deinen Optimismus nicht. Europa ist gespalten. Im Süden sind die Preise in den ersten Jahren nach der Einführung des Euro viel schneller gestiegen als im Norden. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit der Industrien dort lädiert. Wenn ein inflationärer Aufschwung kommt, nähme der Süden daran kaum teil. Er würde daher die Rückabwicklung der Käufe blockieren. Deswegen wird man den riesigen Geldüberhang nicht wegkriegen. Darf ich ein paar Zahlen nennen?
Bitte.
Sinn: Die Menge des von der Zentralbank in Umlauf gebrachten Geldes betrug vor Ausbruch der Euro-Krise 1,2 Billionen Euro. Am Ende des vergangenen Jahres lag sie bereits bei 3,7 Billionen Euro, und nach den schon beschlossenen Maßnahmen wird sie Ende des Jahres voraussichtlich 4,8 Billionen Euro erreichen. Die Firmen hören auf zu produzieren, die Leute arbeiten nicht mehr, und wir geben ihnen allen als Ersatz frisch gedruckte Geldscheine, so als wären sie noch tätig. Die These, dass das nicht gefährlich ist, halte ich vor dem Hintergrund der deutschen Hyperinflation bis 1923 für gewagt.
Bofinger: So kann man nicht argumentieren. Deine Zahlen beziehen sich auf die genannte Zentralbankgeldmenge, die aus dem Bargeldumlauf und den Guthaben der Banken bei der Zentralbank besteht. Für Konsum- und Investitionsausgaben ist jedoch die sogenannte Geldmenge M3 relevant, die neben dem Bargeld vor allem die Bankguthaben von Unternehmen und privaten Haushalten umfasst. Diese Geldmenge ist von 2008 bis 2019 mit einer Jahresrate von nur 3,1 Prozent gestiegen. Wo ist das Problem?
Sinn: Ja, natürlich rede ich von der Geldbasis, also der Zentralbankgeldmenge. Die anderen Geldmengenaggregate sind abgeleitete Größen, die jederzeit in die Höhe schießen können. In den USA tun sie das schon.
Bofinger: Das liegt aber nur daran, dass die Unternehmen wegen der Krise mehr Kredite in Anspruch nehmen, um Einnahmeausfälle auszugleichen. Mir ist unklar, wie das zu mehr Inflation führen soll.
Halten Sie es denn für richtig, dass die EZB die Anleihen kauft?
Bofinger: Ich kann das absolut nachvollziehen. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die zeigen, dass durch die niedrigeren Zinsen das Wirtschaftswachstum gesteigert wird und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Wenn Unternehmen leichter an Kredite kommen, können sie zum Beispiel mehr investieren.
Sinn: Durch den Kauf der Staatsanleihen wurde das Euro-System – also die EZB und die nationalen Notenbanken in den Mitgliedsländern der Währungsunion – zum größten Gläubiger der Staaten. Dadurch fand eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden durch die Hintertür statt, obwohl sie rechtlich nicht vorgesehen ist. Ein erheblicher Teil des durch die Anleihekäufe in Südeuropa entstandenen überschüssigen Geldes floss nach Deutschland und wurde hier für Vermögensobjekte aller Art ausgegeben. Die Forderungen (Target), die die Bundesbank im Ausgleich erhielt, stehen im Risiko.
Bofinger: Wenn man diesem Argument folgt, dann betreiben die meisten der großen Notenbanken weltweit Staatsfinanzierung. Die kaufen nämlich fast alle Staatsanleihen. Die Bank von Japan hat im Vergleich zur Europäischen Zentralbank fast das Vierfache an Staatspapieren erworben. Der Ankauf von Anleihen ist ein klassisches Instrument der Geldpolitik, auch die Bundesbank hat in den Siebzigerjahren davon Gebrauch gemacht, um die langfristigen Zinsen zu senken. Da hat nach meiner Erinnerung niemand gesagt, das sei versteckte Staatsfinanzierung.
Sinn: In den Vereinigten Staaten hat die Notenbank Federal Reserve aber überhaupt keine Staatspapiere der Einzelstaaten gekauft, nur Papiere des Bundesstaates. Wie Japan sind die USA ein Staat, die EuroZone aber nicht. Für die Aufgabe der D-Mark setzte Deutschland zwei zentrale Bedingungen, die fest im Maastrichter Vertrag verankert zu sein schienen: Es findet in der Währungsunion keine Finanzierung von Staatsschulden mit der Notenpresse statt, und Deutschland wird nicht die Schulden anderer Länder übernehmen. Leider kam es ganz anders.
Bofinger: Wenn wir hier schon juristisch argumentieren: Die Verträge verbieten der EZB den »unmittelbaren« Erwerb von Schuldtiteln der Euro-Staaten. Das macht sie auch nicht. Sie kauft die Papiere den Banken ab.
Sinn: Und die Banken haben die Papiere zehn Tage zuvor von den Staaten gekauft. Das ist ein Umgehungstatbestand.
Bofinger: So lautet aber die Formulierung im entsprechenden Vertragsartikel. Ich war nicht dabei, aber ich vermute, dass bei der Aushandlung allen Beteiligten klar war, dass es ökonomischer Irrsinn wäre, wenn man der EZB dieses Instrument nicht an die Hand gäbe. Sie wäre nur eingeschränkt handlungsfähig, wenn man es ihr nähme, und könnte zum Beispiel in Krisensituationen, wie wir sie jetzt durchmachen, nicht angemessen reagieren. Willst du das wirklich, Hans-Werner?
Sinn: Die Staatsverschuldung zur Bekämpfung der Krise ist richtig, die anschließende Monetisierung dieser Schulden mit der Notenpresse nicht. Neben der Inflationsgefahr ist sie problematisch, weil sie die automatische Schuldenbremse der Märkte blockiert. Wenn ein Mitgliedsstaat zu viel Kredit aufnimmt, kriegen die Gläubiger normalerweise kalte Füße und verlangen höhere Zinsen. Dann vergeht den Schuldnern der Appetit. Die Politik der Europäischen Zentralbank war deshalb mitverantwortlich für die Schuldenexzesse einiger Euro-Staaten, die den von Deutschland mühsam ausgehandelten Schuldenpakten Hohn sprechen.
Bofinger: Das sehe ich anders. Italien muss immer noch höhere Zinsen bezahlen als Deutschland. Die Unterschiede sind höher als in den Anfangsjahren der Währungsunion. Die Europäische Zentralbank kauft ja auch nicht nur italienische Anleihen, sondern auch deutsche, und zwar nach einem festen Schlüssel. Sie verschiebt das gesamte Zinsgefüge nach unten, die Anreizwirkungen bleiben bestehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die EZB nun sogar explizit aufgefordert, die Verhältnismäßigkeit ihrer Politik zu dokumentieren – insbesondere mit Blick auf mögliche negative Wirkungen auf die Sparerträge. Wie sehen Sie das?
Bofinger: Mir ist schleierhaft, was sich die Richter dabei gedacht haben. Mit diesem Urteil wird ein geldpolitisches Grundprinzip ausgehebelt, das wir gerade in Deutschland immer verteidigt haben: Die primäre Verpflichtung der Notenbank auf das Ziel der Preisstabilität. Was ist, wenn die EZB irgendwann die Zinsen wieder anheben will und dann kommt das spanische Verfassungsgericht und sagt: Das geht so nicht, das macht bei uns den Tourismus kaputt? Nach welchen Kriterien soll man das alles überhaupt seriös gegeneinander abwägen? Ist eine um einen halben Prozentpunkt zu geringe Inflationsrate höher zu gewichten als ein um einen Prozentpunkt höherer Sparzins? Und wie soll die EZB dabei die Verteilungseffekte zwischen Immobilienbesitzern, Mietern und Versicherungssparern gewichten? Wenn man mir das als Aufgabe stellen würde, wüsste ich nicht, wie ich sie lösen sollte. Ich finde, die EZB sollte dem Gericht mitteilen, dass es objektiv unmöglich ist, diese Gewichtungen vorzunehmen.
Sinn: Das Problem ist die Definition des Ziels der Preisstabilität, dem in der Euro-Zone rechtlich alles unterzuordnen ist. Mathematisch verlangt Preisstabilität eine Inflation von null Prozent, doch die EZB versteht darunter eine Inflation von knapp zwei Prozent.
Bofinger: So wie praktisch alle großen Notenbanken weltweit – und mit guten Gründen. Ein Sicherheitsabstand zur Nulllinie ist wichtig, damit nicht gleich eine Deflation droht, wenn die Inflationsrate zurückgeht. Auch zu Zeiten der Bundesbank gab es praktisch nie Nullinflation. Und das Verfassungsgericht hat das so auch akzeptiert.
Sinn: Die EZB sagt, sie kaufe die vielen Staatspapiere, weil es ihr Mandat sei, die Inflationsrate auf knapp unter zwei Prozent zu erhöhen. Sie kann aber die Inflationsrate in der Krise nicht auf diesen Wert erhöhen, weil die Leute das Geld horten, und sie darf es eigentlich auch nicht, weil sie ja die Preise stabil halten muss und Staatspapiere nur in engen Grenzen kaufen darf. Die Umdefinition der Preisstabilität erwies sich als ein wundervoller semantischer Trick, der es möglich machte, den Staaten in der Krise beliebig viel billiges Geld aus der Druckerpresse zu geben.
Bofinger: Diese Definition wurde im Jahr 2003 beschlossen, unter Mitwirkung des damaligen deutschen Chefvolkswirts Otmar Issing.
Sinn: Issing sieht das anders. Er betont, dass es sich bei den zwei Prozent zu seiner Zeit nur um eine gerade noch tolerierbare Obergrenze handelte. Zum Ziel wurden die zwei Prozent später umgedeutet.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt vor, dass sich die EU 750 Milliarden Euro leiht, um die von der Krise besonders betroffenen Länder zu stützen. Ist das sinnvoll?
Sinn: Und EZB-Präsidentin Christine Lagarde will für 750 Milliarden Euro Staatspapiere kaufen. Welch ein Zufall! Aber ja, man muss Italien und Spanien großzügig helfen. Der Meinung bin ich auch. Doch nicht so, wie es jetzt geplant ist. Die EU darf sich nicht verschulden, dazu wäre eine Vertragsänderung nötig. Es steht den Staaten völlig frei, selbst Schulden zu machen und damit höhere Beiträge an den europäischen Haushalt abzuführen, die dann nach Italien und Spanien weitergeleitet werden. Das wäre transparent. Jetzt entsteht ein gigantischer Schattenhaushalt, der zum Einfallstor für immer mehr Gemeinschaftsschulden wird.
Bofinger: Die EU hat auch in der Vergangenheit Anleihen ausgegeben, ohne dass eine Vertragsänderung nötig gewesen wäre. Es handelt sich zudem vorerst um eine einmalige Kreditaufnahme, das Geld wird wieder zurückbezahlt. Aber vielleicht ist das tatsächlich der Einstieg in eine bundesstaatliche Ordnung. Ich würde das begrüßen.
Sinn: Ich auch. Aber eine politische Union bekommen wir nicht, indem wir eine Gemeinschaftskasse schaffen. Das ist der große Denkfehler vieler gut meinender Bürger. Es müsste vielmehr ein Machtzentrum etabliert werden, das im Zweifel auch die Möglichkeit hat, in die Politik der Mitgliedsstaaten einzugreifen. Der zentrale Schritt zur politischen Union besteht in der Vergemeinschaftung der Armeen inklusive derfranzösischen Atomstreitmacht. Erst danach darf das Geld fließen. Aber das wollen die Franzosen partout nicht einsehen.
Das Interview führte Mark Schieritz.
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