Warum seine einstigen Gegner Olaf Scholz nun zum Kanzlerkandidaten machen wollen
An dem Mann, den sie besiegt haben, werden sie nicht vorbeikommen. Nicht, weil sie es nicht können, sondern weil sie es nicht mehr wollen. Nach den Sommerferien, spätestens Mitte September, will die SPD verkünden, wer für sie als Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr antreten wird. Das Vorschlagsrecht liegt bei dem Vorsitzenden-Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Nach Informationen der ZEIT, die auf Gesprächen mit führenden Sozialdemokraten basieren, läuft alles auf eine Kandidatur von Finanzminister Olaf Scholz hinaus. Die beiden Parteichefs werden ihn nominieren – das gilt intern als sicher. Der Parteivorstand müsste Scholz dann noch bestätigen. Formsache.
Es wäre die vorerst letzte Volte in einer bemerkenswerten Beziehung. Schließlich haben sich Esken und Walter-Borjans im Herbst 2019 allein deshalb für den SPD-Vorsitz beworben, um Scholz als Parteichef zu verhindern. Der Vize-Kanzler, davon waren sie überzeugt, sei der Protagonist des Weiter-so. Sie aber wollten einen Aufbruch, Erneuerung, ein Ende der Groko. Nun jedoch dürften ausgerechnet jene beiden, denen Scholz seine bitterste Niederlage verdankt, seinen innigsten Wunsch erfüllen – die Kanzlerkandidatur.
Warum tun sie das? Und was heißt das für die nächste Bundestagswahl, die erste seit 16 Jahren, bei der Angela Merkel nicht antreten wird?
Die Antworten auf diese Fragen haben viel mit der Corona-Krise zu tun: Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass die beiden Lager eine Art Burgfrieden schließen können, ohne Zugeständnisse machen zu müssen. Aber das Ganze ist auch das Ergebnis einer Verwandlung, der der beiden Vorsitzenden. Und der von Olaf Scholz.
Man muss sich so eine Kandidatenauswahl ein wenig wie ein Speed-Dating vorstellen. Die beiden Vorsitzenden sprechen in diesen Tagen unter sechs Augen mit Ministerpräsidenten, Landesvorsitzenden und führenden Fraktionsmitgliedern, um die Stimmung in der Partei zu ergründen. In diesen Gesprächen, so kann man es hören, ist fast immer vom Wunschkandidaten Scholz die Rede. Kein Wunder: Er ist laut Umfragen nicht nur der beliebteste sozialdemokratische Politiker des Landes, sondern auch derjenige, dem die Deutschen die höchste Kompetenz zuschreiben. Bemerkenswert jedoch ist, dass auch die Parteilinke bis hin zum mächtigen Juso-Chef Kevin Kühnert in internen Runden eine Präferenz für Scholz erkennen lässt – demselben Kühnert, der im Kampf um den Parteivorsitz einer der hartnäckigsten Widersacher des Vizekanzlers war.
Ein Grund für diese Hinwendung zum Stabilitätspolitiker Scholz liegt in der Labilität des Gesamtgefüges: Absturz und Aufstieg der Union, Höhenflug und Dämpfer bei den Grünen. Auch bei den Linken in der SPD ist man überzeugt davon, dass sich das Feld grundlegend neu sortieren wird, wenn im Wahljahr den Menschen klar wird, dass sich eine Ära dem Ende zuneigt. Die „Merkel-Wähler“, so sehen es die Genossen, werden sich dann auf die Suche nach jemandem begeben, der sachkompetent, unideologisch und überstürzungsfrei durch die immer schnellere Abfolge von Krisen führen kann. Nach jemandem, den sie kennen und dem sie vertrauen. Also nach jemandem wie Olaf Scholz.
Hinzu kommt: In den beiden vergangenen Bundestagswahlkämpfen hat die SPD auf Kanzlerkandidaten gesetzt, die entweder aus dem politischen Geschäft bereits ausgestiegen waren (Peer Steinbrück) oder es vor allem in Brüssel betrieben hatten (Martin Schulz). In beiden Fällen haben sich die Medien auf die Kandidaten gestürzt, um sie in allen Einzelheiten auszuleuchten und sie auf ihre Kanzlertauglichkeit hin neu zu vermessen. Bei dem einen kamen erstaunliche Vertragshonorare zum Vorschein und ein Widerwille gegen Weine auf einem Preisniveau, das sich SPD-Wähler leisten können. Beim anderen traten eine notorische Hibbeligkeit und der Verlust der politischen Orientierung zutage.
Scholz dagegen ist medial ausgeleuchtet und auserzählt. Wenn er antritt, so die Erwartung der SPD-Spitze, werden sich die Medien auf den CDU-Kandidaten stürzen, ihn von allen Seiten beleuchten und auf seine Kanzlertauglichkeit hin neu vermessen. An dieser Vorstellung gefällt den Genossen besonders, dass der eine mögliche Kandidat, Friedrich Merz, steinbrückgleich aus dem politischen Geschäft ausgestiegen war und erstaunlich wohlhabend geworden ist. Und die anderen, Armin Laschet und Markus Söder, schulzhaft Politik fernab von Berlin betrieben haben. Ärger scheint da programmiert.
Scholz seinerseits wird mit Attacken des politischen Gegners rechnen müssen, Motto: Warum sollen die Deutschen jemanden zum Kanzler wählen, den seine eigene Partei nicht als Vorsitzenden haben wollte. Ihm bleibt ja noch Zeit, sich eine Antwort zu überlegen.
In Abstimmungsgesprächen zwischen Parteispitze, Fraktionsführung und den Ministern war man sich rasch einig: Gerade weil die SPD in den Umfragen im 15-Prozent-Turm eingemauert ist, will sie als erste Partei ihren Spitzenkandidaten nominieren. Um Führungsanspruch im Mitte-links-Lager zu dokumentieren. Und einen Führungsanspruch erhebt man am glaubwürdigsten, wenn man jemanden mit Führungserfahrung aufstellt, der zudem als oberster Corona-Krisenmanager täglich in allen Medien auftaucht.
Wer soll es auch sonst machen? Die beiden Parteivorsitzenden haben von Anfang an klargestellt, nicht selbst antreten zu wollen. Unter den Ministerpräsidenten hat sich Stephan Weil aus Niedersachsen durch seine Unentschlossenheit in den Vorsitzendenfrage selbst aus dem Rennen genommen, Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz hegt keine Ambitionen, und Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern ist gerade erst von einer schweren Erkrankung genesen.
In der Ministerriege wiederum hat Franziska Giffey in der Corona-Krise nicht immer eine glückliche Figur abgegeben und Heiko Maas nur sehr selten in seiner gesamten bisherigen Amtszeit, Hubertus Heil hat abgewinkt. Und der hoch gehandelte Rolf Mützenich hat Meldungen, er sei der kommende Kanzlerkandidat, nur deshalb nicht dementiert, weil er ein kluger Mann ist. Er hätte sich als Fraktionsvorsitzender selbst verzwergt – und abtreten können.
Und dennoch: Eine Kandidatur ihres einstigen Widersachers könnte für die Parteivorsitzenden wie ein abermaliger Bruch ihrer Wahlversprechen wirken. Zuerst stellten sie ein Ende der großen Koalition in Aussicht – und machten dann recht geräuschlos weiter. Nun wollen sie just jenen Mann zum Hoffnungsträger der SPD erheben, in dem sie noch vor einem Dreivierteljahr den Wegbereiter des Niedergangs sahen. Kaum hatte das neue Spitzenduo im vergangenen Dezember sein Amt angetreten, sprudelten fast täglich neue Vorschläge aus ihm heraus, die dem Finanzminister Scholz nicht immer gefielen: höhere Rentenbeiträge für Gutverdienende, ein höherer Spitzensteuersatz, das Streichen aller steuerlichen Ausnahmen für Firmenerben, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Vergesellschaftung von Eigentum – und, natürlich, das Ende der schwarzen Null.
Gemeinsam war all diesen Vorschlägen, dass sie rückstandsfrei verpufften – und dass man sich im Umfeld von Scholz nicht anmerken ließ, was er davon hielt. Auch nicht in Hintergrundgesprächen, in denen das Lästern bei den Genossen oft zum guten Ton gehört. Scholz, der dafür bekannt ist, gern recht zu haben, hat sich das öffentliche Rechthaben verboten und das Schweigen vorgezogen. Auch das hat zur Entkrampfung des Verhältnisses beigetragen.
Vor allem aber hat sich Scholz in der Krise in einem Maße als flexibel erwiesen, das ihm nur wenige in der SPD zugetraut hätten – und Esken, Walter-Borjans und Kühnert wohl am wenigsten. Angetreten war er einst mit dem Leitsatz, ein deutscher Finanzminister sei ein deutscher Finanzminister. Er meinte damit: Wer die Zuständigkeit für die Staatskasse übernimmt, hat darauf zu achten, dass diese immer gut gefüllt ist, egal, ob er nun der CDU, der CSU oder der SPD angehört. Entsprechend ließ Scholz Forderungen aus der eigenen Partei nach einer Aufweichung der Schuldenbremse im Grundgesetz oder nach zusätzlichen Finanzhilfen für die anderen Länder Europas hartnäckig an sich abprallen.
In dieser Woche nun stellt Scholz die Weichen für die größte staatliche Kreditaufnahme in der Geschichte der Republik. Insgesamt 218,5 Milliarden Euro an neuen Schulden will der Bund aufnehmen. Mit dem Geld sollen unter anderem Stützungsmaßnahmen für Familien und Unternehmen und die Mehrwertsteuersenkung finanziert werden. Zum Vergleich: Selbst auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise vor zehn Jahren belief sich die Neuverschuldung nur auf 44 Milliarden Euro. Die schwarze Null – sie ist Geschichte. Erst einmal.
Ein Olaf Scholz, den die SPD entweder nie kannte oder aber nie sehen wollte, trat dann auch auf die europäische Bühne. Als Angela Merkel und Emmanuel Macron jüngst einen 500 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds für die von der Krise besonders betroffenen Euro-Länder präsentierten, hatten Scholz und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire ihn zuvor ausverhandelt. Scholz, der vermeintliche Hyperpragmatiker, lieferte sogar, ganz unscholzig, den theoretischen Überbau für die Maßnahme: Er verwies auf Alexander Hamilton – den ersten amerikanischen Finanzminister, der im 18. Jahrhundert mit der Übernahme der Schulden der Bundestaaten die Voraussetzung für eine eigenständige Staatlichkeit der USA schuf. Die Botschaft war offensichtlich: Etwas Ähnliches kann man sich auch für Europa vorstellen.
Im Ausland, wo deutsche Finanzminister sich seit Jahren den Vorwurf der Knausrigkeit anhören müssen, kommt die neue Linie gut an. Die Financial Times aus London schreibt von einer „neuen Mentalität im Finanzministerium“, und der Economist sieht gar eine „dramatische Veränderung“ in der deutschen Politik. Auch Esken, Walter-Borjans und Kühnert registrieren sie. Und verweisen darauf, dass Scholz zuletzt eine Reihe jüngerer progressiver Ökonomen wie Jakob von Weizsäcker, einen ehemaligen Europaabgeordneten, in seinem Umfeld platziert hat.
Überhaupt, die Ökonomen. Von Weizsäcker gehört zu einem Netzwerk von Wirtschaftswissenschaftlern, mit denen sich Scholz seit Ausbruch der Krise eng abstimmt. Jeden Donnerstag um 17 Uhr schalten sie sich über Zoom zusammen, um die Lage zu besprechen. Anders als früher ist es ideologisch eine vergleichsweise bunte Runde. Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung ist ebenso dabei wie Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Fast alles, was die Regierung an Hilfsmaßnahmen gegen die Krise beschlossen hat, ist in diesen Videokonferenzen besprochen worden. Die Zeit, in der konservative Ökonomen wie Hans-Werner Sinn das Denken und Handeln selbst sozialdemokratischer Politik bestimmt haben, ist vorbei.
Doch ist die neue Politik von Olaf Scholz auch Teil eines Umdenkens der politischen Mitte in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Sogar in der Union hat die schwarze Null kaum noch Anhänger, und nach einer neuen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sind 75 Prozent der Deutschen dafür, dass sich der Staat verschuldet, um die Wirtschaft zu stützen. In außergewöhnlichen Zeiten verlieren außergewöhnliche Politikansätze ihren Schrecken – und ein deutscher Finanzminister bekommt Applaus, wenn er Schulden macht. Weil sie von den Menschen nicht als Be-, sondern als Entlastung wahrgenommen werden.
Für Esken, Walter-Borjans und Kühnert ist dieser Kurswechsel die Gelegenheit, die neue Scholzsche Finanzpolitik zumindest teilweise für sich zu reklamieren. Nach ihrer Lesart ist das Umdenken nur deshalb so entschieden ausgefallen, weil es zuvor einen Linksschwenk an der Parteispitze gab. Scholz sieht das naturgemäß anders. Demnach musste er zunächst einmal deutlich machen, dass an dem alten Vorwurf, wonach Sozialdemokraten nicht mit Geld umgehen können, nichts dran sei – um danach die Spielräume auszunutzen, die das Amt ihm bietet.
Das Besondere jedoch ist: Scholz will die beiden Parteichefs nicht von seiner Logik überzeugen – und sie ihn nicht von ihrer. So können die beiden Erzählungen nebeneinander herlaufen, und keine Seite verliert ihr Gesicht.
Die Einigkeit könnte allerdings so schnell verschwinden, wie sie gekommen ist, etwa wenn sich die Lage entspannt und die wirtschaftspolitischen Alternativen auch innerhalb der SPD wieder deutlicher hervortreten. Esken und Walter-Borjans wollen den gegenwärtigen Kurswechsel schließlich gern noch ein bisschen weitertreiben. In das Wahlprogramm würden sie gern einen deutlich höheren Mindestlohn, eine Vermögensabgabe und mehr Investitionen für den Klimaschutz schreiben. Und beide wünschen sich ein klares Bekenntnis zu Rot-Rot-Grün.
Scholz findet nicht alles davon vollkommen abwegig, doch er hält die Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung für weniger ausgeprägt als die Parteichefs. Und in diesem Punkt ist der neue Scholz dann doch ganz der alte geblieben.
Nachzulesen auf www.zeit.de.