Der Fluch der D-Mark

Michael Sauga, DER SPIEGEL, 27. Juni 2020, S. 70.

Die Währungsunion vor 30 Jahren hat den Deutschen die Einheit beschert - und zugleich eine ökonomische Katastrophe. Hätte es besser laufen können?

Die Mauer ist gerade erst gefallen, als sich Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl in Ost-Berlin mit seinem DDR-Kollegen Horst Kaminsky trifft. Die Behördenchefs sprechen über die schwierige Versorgungslage östlich der Elbe, die schwindenden Exporte und die sich leerende Staatskasse. Der Arbeiterstaat braucht mal wieder Geld, so nimmt es Pöhl als Botschaft mit. D-Mark, versteht sich. Mindestens zehn Milliarden.

Kein Thema sind dagegen Gedankenspiele für eine Währungsunion, die einige Politiker in der fernen Bundeshauptstadt Bonn anstellen. Und so bügelt Pöhl auf der Treppe der Staatsbank Journalisten ab, die ihn danach fragen. Für so etwas, sagt er, sei es »zu früh«.

Dummerweise hat Bundeskanzler Helmut Kohl fast zur selben Stunde der DDR-Führung genau dieses Angebot gemacht - aber versäumt, den Behördenchef zu informieren. Pöhl weiß von nichts und findet das, wie er später sagt, »ungewöhnlich und auch ärgerlich«. Erst einmal müsse »die Wirtschaft umstrukturiert werden«, stellt er kurz darauf im Zentralbankrat fest. »Erst dann fließt das notwendige Realkapital in die DDR.«

Vor 30 Jahren kam die Westmark nach Ostdeutschland, nach nur wenigen Wochen Vorbereitung. Es war eine logistische Meisterleistung, der entscheidende Schritt zur deutschen Einheit und jenes Hoffnungssignal, auf das die Ostdeutschen gewartet hatten. Waren zuvor täglich Tausende DDR-Bürger in den Westen abgewandert, vertrauten sie nun dem Bonner Versprechen, mit der Westwährung auch Westwohlstand zu erhalten.

Dem politischen Husarenstück aber folgte bald eine wirtschaftliche »Katastrophe«, wie nicht nur Pöhl befand. Über Nacht mussten die ostdeutschen Betriebe in einer Währung zahlen, die ihre Waren um den Faktor vier verteuerte. Sie verloren ihre angestammten Märkte in Osteuropa und waren auf Kredite der neugegründeten Treuhand angewiesen. Eine künstliche Wirtschaft entstand, die mehr Güter verbrauchte, als sie schuf, Millionen Jobs vernichtete und soziale Verheerungen auslöste, die bis heute nachwirken.

Der ökonomische Absturz, tiefer als zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, überforderte die Politik. Die Regierung fand kein Rezept gegen die Massenarbeitslosigkeit. Und die Bundesbank musste im Kampf gegen die finanziellen Folgen der Vereinigung die Zinsen massiv in die Höhe schrauben, was sie zur bestgehassten Institution in vielen Ländern Europas machte.

So wurde die deutsche Währungsunion zum Katalysator der europäischen Währungsunion, der es nach herrschender Auffassung an einer politischen Union mangelt. Die Bundesrepublik verfügte zwar über bewährte staatliche und gesellschaftliche Institutionen, und doch wurden sie von den Umstellungsproblemen überrollt.

Wenn in diesen Tagen erneut die Bilder vom ersten D-Mark-Tag östlich der Elbe über die Bildschirme flimmern, machen sie vor allem eines klar: Eine Geldreform hat derart weitreichende wirtschaftliche, soziale und psychologische Konsequenzen, dass sie von allen Akteuren neues Denken verlangt. Im Westen des sich vergrößernden Deutschlands dagegen folgten die Eliten der Parole »Weiter so«, vor allem in der Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik. Falsche Hoffnungen wurden geweckt, die fast zwangsläufig enttäuscht werden mussten.

Dabei schienen den Planern des damaligen Finanzministers Theo Waigel (CSU), die zur Jahreswende 1990 nach einem Mittel gegen die sich zuspitzende Krise in der DDR suchten, die Risiken beherrschbar. Produktivität und Durchschnittsverdienst, so belegten ihre Statistiken, lagen gleichauf, bei etwa einem Drittel des Westniveaus. Löhne und Preise im Verhältnis eins zu eins umzustellen schien ihnen durchaus machbar. Auch Kohl brachte die monetäre Einheitsformel im Frühjahr ins Gespräch.

Doch die Zahlen, so zeigte sich bald, stimmten nicht. Zum einen war die Produktivität in Wahrheit niedriger, als in den westlichen Analysen ausgewiesen. Zum anderen waren die Löhne bereits rasant gestiegen, allein in den ersten Monaten um bis zu zehn Prozent.

Die Voraussetzungen für eine großzügige Währungsumstellung waren nicht gegeben - und die Verantwortlichen wussten das, wie aus Sitzungsprotokollen hervorgeht, die nun erstmals zugänglich sind.

Anfang März etwa führte Bundesbankvize Helmut Schlesinger dem Zentralbankrat die Risiken vor Augen. In der DDR-Auslandsbilanz, so führte er aus, würde ein Verrechnungssatz »von 4,4 Mark zu einer D-Mark verwendet«. Bedenklich sei zudem, dass »das Außenhandelsdefizit der DDR ständig steige, die Devisenreserven sänken und die Auslandsschulden recht kurzfristig« seien.

Was daraus folgt, fasste das Gremium später in einem Beschluss zusammen. Die laufenden Zahlungen, so hieß es, dürften allenfalls zwei zu eins umgestellt werden, Sparkonten bis zur Höhe von 2000 Mark eins zu eins. Was darüber hinausgehe, sollte in Anteile am DDR-Betriebskapital umgewandelt werden.

Zuvor war der Finanzminister in die Frankfurter Bundesbankzentrale geeilt, um sich in der strittigen Umtauschfrage auf die Seite der Währungshüter zu stellen. »Gegenüber ersten Schätzungen« sei »die Produktivität der DDRWirtschaft inzwischen »wesentlich niedriger anzusetzen«, räumte er ein. Deshalb komme »in der Währungsfrage ein allgemeiner Satz von eins zu eins schon wegen der dann unvermeidlichen Friktionen in den Betrieben nicht infrage«. Auch beim Kurs für Löhne und Gehälter sei zwei zu eins »akzeptabel«, schließlich sollten die Löhne wegen gestiegener Preise und Sozialbeiträge ohnehin aufgestockt werden.

So wollten es Waigel und die Banker, aber so kam es nicht. Kaum waren die Zahlen auf dem Markt, brach im Osten ein Proteststurm los. Wie in den Wendemonaten 1989 zogen Zehntausende durch die Straßen Leipzigs und Ost-Berlins (»Ohne eins zu eins werden wir nicht eins«). Kohl wurde als Wahlbetrüger beschimpft. Und die neue DDR-Regierung unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière machte es sich zur Aufgabe, in den anstehenden Verhandlungen den verhassten Umtauschsatz zu ändern.

Am Ende stand ein komplizierter Kompromiss. Laufende Zahlungen wurden eins zu eins umgestellt, genauso wie Spargelder, nach Alter gestaffelt, zwischen 2000 und 6000 Mark. Für größere Guthaben dagegen galt zwei zu eins.

Bonn hatte eingelenkt; doch in der Geldzentrale versuchten sie, die Niederlage als Erfolg zu verkaufen. Der Wechselvorschlag der Bundesbank, berichtete Pöhl Ende Mai, sei »von den Vertragspartnern weitgehend akzeptiert« worden.

Der wahre Sieger saß im Bonner Kanzleramt. Nach der Vereinbarung war der »Zug zur Einheit« (Kohl) nicht mehr aufzuhalten. Bei der Bundestagswahl im Dezember fuhr der CDU-Chef, der seinen neuen Wählern »blühende Landschaften« versprach, einen triumphalen Erfolg ein.

Mit den Problemen der Geldumstellung hatten fortan andere zu kämpfen, beispielsweise Johannes Ludewig. In den Wendemonaten hatte Kohls Wirtschaftsberater zur raschen Währungsunion gedrängt. Nun machte ihn der Kanzler zum »Ostbeauftragten«, der von der zusammenbrechenden Industrie der neuen Länder retten sollte, was zu retten war.

Viel ließ sich nicht erhalten, weil ein Großteil der siechen DDR-Betriebe mit ihren hohen D-Mark-Kosten nicht länger wettbewerbsfähig war. Der Elektronikhersteller Robotron genauso wenig wie die meisten Stahlhütten oder das Magdeburger Maschinenbaukombinat Sket. Die ersehnte Währung traf sie wie ein Fluch. »Die Währungsunion war in der damaligen Situation ohne Alternative - und wurde von der ostdeutschen Regierung mit allem Nachdruck eingefordert«, sagt Ludewig. Aber er räumt auch Fehler ein. »Alte Wirtschaftsstrukturen brachen schneller weg, als neue entstehen konnten«, sagt er. Zu spät schaltete die Treuhand zum Beispiel auf sein Konzept um, industrielle Kerne zu erhalten. Und zu sehr hatte Kohls Wohlstandsversprechen die Menschen euphorisiert. »Das hat Erwartungen geweckt, die sich kurzfristig nicht erfüllen ließen.«

Die Folgen der Währungsunion belasteten nicht nur die Ostindustrie, sondern auch die Finanz- und Kreditmärkte des größer gewordenen Deutschlands - und damit die Bundesbank.

Nach dem Beschluss, die D-Mark in den Osten zu transferieren, stiegen staatliche Ausgaben und Schulden in der neuen Einheitsrepublik steil an. Der bisherige Exportweltmeister kaufte nun mehr Güter und Leistungen ein, als er ausführte. Ausländisches Kapitel strömte ins Land und blähte die heimische  Geldmenge auf. Für die Währungshüter ein sicheres Zeichen für drohende Inflation.

»Die Stabilität der D-Mark stand auf dem Spiel«, sagt Otmar Issing, langjähriger Chefvolkswirt von Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB). Im Frühjahr 1990 hatte der Ökonom als Mitglied der Wirtschaftsweisen noch vor einer schnellen Währungsunion gewarnt. Nun, im Oktober, musste Issing im Direktorium der Notenbank die Folgen ausbaden.

Gleich in der ersten Woche lag eine brisante Vorlage auf seinem Schreibtisch. Die Frage lautete, ob die Bundesbank an ihrem Geldmengenziel festhalten sollte, obwohl absehbar war, dass es sich angesichts der horrenden Kosten der Währungsumstellung nicht würde halten lassen.

Issing plädierte für Kontinuität, um den Finanzinvestoren aller Welt zu signalisieren, dass die Bundesbank die Inflation unter Kontrolle behalte. Im Gegenzug aber musste die Behörde den Leitzins nach und nach auf die atemberaubende Höhe von fast neun Prozent schrauben.

Das stürzte nicht nur die deutsche Wirtschaft in die Rezession, es untergrub die Finanzarchitektur Europas. Um zu verhindern, dass immer mehr Kapital nach Deutschland floss, standen die Regierungen in Rom, Paris oder London vor einer unangenehmen Wahl: entweder ebenfalls die Zinsen erhöhen - oder abwerten. Oft entschieden sie sich für Letzteres.

Die Turbulenzen vergifteten das politische Klima in Europa und erhöhten den Druck auf Bonn, zur Vermeidung künftiger Zins- und Abwertungskriege einer europäischen Geldunion zuzustimmen. »Der Euro war nicht der Preis für die Einheit«, sagt Issing. »Aber er hat durch sie zusätzlichen Schub bekommen.«
Im Osten Deutschlands dagegen wich der Einheitsrausch bald dem Gefühl, zum Bürger zweiter Klasse geworden zu sein.

Es ging schon mit den Umtauschkursen los, wie sich Petra Köpping erinnert, damals Bürgermeisterin im sächsischen Großpösna und heute sächsische Sozialministerin. Vor dem Stichtag hatten viele noch rasch Geld getauscht, um ihre Wechselkontingente aufzufüllen. Kollegen bildeten Tauschgemeinschaften, Großväter gaben Spargroschen an die Enkel weiter. Und doch hatten viele das Gefühl, durch den Umtauschkurs betrogen worden zu sein. Schließlich, sagt Köpping, »hatten vor allem Selbstständige oft mehr als 4000 Mark auf dem Konto«.

Für viele sollte es nicht die einzige Enttäuschung bleiben. Millionen Ostdeutsche verloren mit ihrem Arbeitsplatz auch das gewohnte soziale Netzwerk: den Sportklub, den Betriebschor, die Kulturgruppe. Das nährte bei vielen das Gefühl, für den Untergang des Sozialismus in Anspruch genommen zu werden. »Die Niederlage des Staates wurde in eine persönliche Niederlage umgewandelt«, sagt Köpping.

Die SPD-Politikerin, die vor einem Jahr für den Parteivorsitz kandidierte, ist überzeugt: »Die Verletzungen in den Jahren nach der Währungsunion sind mitverantwortlich für die Fruststimmung im Osten, von den Erfolgen der AfD bis zur falschen Glorifizierung der DDR.« Zugleich wuchs im Westen das Unverständnis über die Neubürger, die das D-Mark-Geschenk nicht mit Dankbarkeit beantworteten, sondern mit Zorn.

Die Währungsunion hat das Land geeint - und zugleich neu gespalten. Bis in die technischen Details des Deals. Noch immer glauben viele Westdeutsche, der Umtauschkurs habe bei eins zu eins gelegen. Im Osten dagegen spricht man von eins zu zwei.

Und so lautet die Frage bis heute: Hätte es besser laufen können? Hätte aus dem politischen nicht auch ein ökonomischer Erfolg werden können?

Hans-Werner Sinn ist davon überzeugt. Als sich Regierende und Bürgerrechtler in der DDR an runde Tische setzten, war der Münchner Wirtschaftsprofessor auf Forschungsreise in den USA unterwegs, zu Vorträgen und Diskussionen in Stanford, Princeton oder Washington. Dort diskutierte er eines Abends auch mit den Mitgliedern des amerikanischen Sachverständigenrates. Am Ende nahm ihn Paul Samuelson zur Seite, der berühmte US-Ökonom. Ob er wisse, wie der Anschluss Puerto Ricos an die USA im Jahr 1899 verlaufen sei, fragte der Nobelpreisträger - und gab gleich selbst die Antwort. Die Hälfte der Erwerbstätigen habe den Job verloren, weil Mindestlöhne und Sozialleistungen in kürzester Zeit auf US-Niveau gehoben wurden. »Die Deutschen müssen aufpassen«, mahnte er, »dass ihnen nicht dasselbe passiert.«

Sinn betrachtete den Hinweis als Forschungsauftrag. In den Monaten danach schrieb er ein Buch unter dem Titel »Kaltstart«, das Samuelsons Warnung bestätigte. Den ökonomischen GAU im Osten hatte vor allem die Lohnpolitik verursacht.

Verantwortlich seien die westdeutschen Tarifparteien gewesen, sagt Sinn, die nach der Wende über die Verdienste im Osten verhandelten. Die Gewerkschaften wollten neue Mitglieder rekrutieren und drängten auf hohe Zuwächse, das war nachvollziehbar. Weniger verständlich dagegen war, dass auf der Gegenseite vielfach keine Ostunternehmer oder Treuhandabgesandte saßen, sondern Arbeitgebervertreter aus dem Westen.

Die Funktionäre aus der alten Bundesrepublik aber hatten kein Interesse daran, eine Niedriglohnzone für konkurrierende Investoren aus dem Ausland zu schaffen. Und so gaben sie den Forderungen der Arbeitnehmervertreter allzu bereitwillig nach - was die Lohnstückkosten in der Ex-DDR explodieren ließ. Nicht gerade ein Anreiz, um dort Jobs zu schaffen.

»Die Währungsunion war ein Schock, den die Ostindustrie aber mithilfe von Investoren aus aller Welt hätte überleben können«, ist Sinn überzeugt. »Der wirkliche Schuldige war das westdeutsche Tarifkartell.« Oder, anders gesagt: Bei der deutschen Vereinigung lief es tatsächlich wie 1899 in Amerika.

Die DDR war das deutsche Puerto Rico.

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