Handelsblatt, 24. Juli 2020, S. 54.
Herr Professor Sinn, mit dem Ergebnis des jüngsten EU-Gipfels und der Einigung auf einen Wiederaufbaufonds waren fast alle Teilnehmer und Beobachter zufrieden. Sie auch?
Ja, schon. Die von der Epidemie besonders gebeutelten Länder wie Italien verdienen die Solidarität der anderen. Und letztendlich haben die Teilnehmer des EU-Gipfels sich einstimmig für den Wiederaufbaufonds entschieden. Das ist gut, denn wenn es um solche Transfers geht, sollte niemand überstimmt werden. Mir hätte es aber noch besser gefallen, wenn jedes Land für sich hätte entscheiden können, wie viel es notleidenden EU-Staaten wie Italien spenden möchte.
Werden Sie etwa altersmilde? In Ihrem Buch wettern Sie noch dagegen, dass die Coronahilfen das Vehikel für den Einstieg in eine Transferunion seien, in der die Länder des Nordens für die Schulden der Mittelmeerstaaten haften.
Die Hilfe an sich finde ich sinnvoll und richtig. Mich stören dabei eher verschiedene Begleitaspekte, die nicht nötig waren, wie die Aufnahme gemeinsamer Schulden und die Finanzierung dieser Schulden durch die Druckerpresse der Europäischen Zentralbank (EZB). Eine Schuldenunion fuhrt unweigerlich dazu, dass die Teilnehmer sich stärker verschulden als sonst, weil sie sich darauf verlassen, dass diese Schulden von der Gemeinschaft getragen werden.
Aber steht hinter den kollektiven Schulden nicht ein sinnvoller Gedanke? Dank gemeinsamer Haftung können alle EU-Staaten zu sehr niedrigen Zinsen Kredite aufnehmen, um damit Investitionen zu finanzieren, die zu höherem Wachstum führen. Mit dem zusätzlich erwirtschafteten Wohlstand lassen sich die Schulden dann leicht zurückzahlen.
Bitte, Sie wissen doch selbst, dass das nur ein frommer Wunsch ist. Das mit dem Wachstum ist eine schöne Story, die man der Öffentlichkeit vorlegt, aber mehr auch nicht. Durch die Regionalhilfen der EU lassen sich zwar die Unterschiede im Lebensstandard etwas verringern. Doch einschlägige Studien haben gezeigt, dass sich damit die Standortqualität nicht verbessert. Die Transfers führen auf jeden Fall dazu, dass in den Empfängerländern Löhne gestützt wurden, die höher waren als das, was die Firmen des verarbeitenden
Gewerbes verkraften konnten.
Wie sollen die Corona-bedingten Schulden beglichen werden?
Auf keinen Fall durch die Druckerpresse der EZB. Die Geldbasis, also die Zentralbankgeldmenge, ist bereits seit der Finanzkrise dramatisch gestiegen. Momentan befinden wir uns in einer Liquiditätsfalle mit Nullzinsen. Das Geld wird gehortet und nicht ausgegeben oder weiterverliehen. Das ist der Grund, weswegen es in der Euro-Krise während der letzten zehn Jahre nicht zur Inflation kam und auch vorläufig nicht kommen wird. Das kann sich eines Tages aber ändern.
Inwiefern?
Wenn die Epidemie vorbei ist und sich wieder Optimismus verbreitet, kann es zu einem weltweiten Konjunkturaufschwung kommen, der die Preise ansteigen lässt. Auch kann der Ölpreis wieder anziehen und eine Lohn-Preisspirale in Gang setzen. Was immer der Grund für einen Preisanstieg ist: Wenn der kommt, wird es der EZB schwerfallen, die Zügel wieder anzuziehen. Am Ende dieses Jahres werden wir eine Geldbasis von mehr als fünf Billionen Euro haben. Davon sind vier überflüssig, denn zur Zeit der Lehman-Krise, als die Wirtschaft auch nicht kleiner war als heute, hatte schon eine knappe Billion gereicht. Wie wollen Sie die wieder einsammeln? Das wird faktisch nicht passieren, denn entweder bringen Sie die Banken in Schwierigkeiten, weil deren Luftbuchungen bei den Staatspapieren platzen, oder die Staaten kriegen Finanzprobleme.
Nicht nur die EZB, sondern auch die amerikanische Fed oder die japanische Notenbank drucken Geld in vergleichbarer Weise. In keinem der Wirtschaftsräume ist es zur Inflation gekommen.
Noch mal: Geldpolitik ist in der Liquiditätsfalle nicht inflationär. Das kommt erst außerhalb der Liquiditätsfalle.
Ihrer Meinung nach befinden sich also alle Länder, in denen die Notenbanken ein ähnliches Prinzip verfolgen wie in der Euro-Zone, den USA und Japan, in der Liquiditätsfalle?
Ja, genau.
Aber die USA haben bis zum Coronaschock doch den größten Aufschwung seit Jahrzehnten erlebt - trotzdem gab es dort keine bedenkliche Inflation.
Die USA waren dabei, sich aus der Liquiditätsfalle zu befreien. Die Inflationsrate stieg in den Monaten vor der Coronakrise schon wieder an. Deshalb hat die Fed zuletzt ja auch versucht, die Geldmenge zu verringern. Mit Corona rutschten die USA nun aber zurück in die Liquiditätsfalle.
Zur Liquiditätsfalle gehört normalerweise, dass Geld gehortet wird. Wie passt dazu, dass die Börsenkurse in den USA sich schon wieder neuen Rekordständen nähern?
Das ist auch ein Ergebnis der Liquiditätsschwemme. In der Liquiditätsfalle sind die Zinsen und die Dividendenrenditen niedrig und die Kurse hoch.
Gab es an den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise eigentlich irgendetwas, was Sie als Ökonom überrascht hat?
Ja, wir können momentan einen neuen Typus von Krise erkennen. Normalerweise unterscheidet man zwischen Angebots- und Nachfrageschocks. Die Coronakrise ist weder das eine noch das andere.
Sondern?
Wir haben es mit einem Transaktionsverbot zu tun, das gab es noch nie. Das Wesen dieser Krise liegt darin, dass der Staat zu Recht dem Rat der Epidemiologen gefolgt ist und die Leute aus den Geschäften und Restaurants verbannt hat. Außerdem hat er die Grenzen geschlossen. Die Menschen wollten konsumieren und die Unternehmen wollten die Läden beliefern, aber durch die Kontaktverbote fanden Angebot und Nachfrage nicht zueinander. Da machte es keinen Sinn, stimulierende Maßnahmen zu ergreifen und ein Konjunkturprogramm in die Wege zu leiten. Jetzt ist der Lockdown zu Ende, und die Konjunktur läuft von ganz allein wieder an. Aber in Deutschland ist leider eine Whatever-it-takes-Mentalität entstanden, in der jeder Politiker versucht, sein kostspieliges Lieblingsprojekt im Corona-Windschatten doch noch durchzusetzen.
Die Rettungspakete für Firmen sehen Sie in Ihrem Buch dagegen überraschend positiv.
Es ist richtig, Firmen zu retten, die über funktionsfähige Geschäftsmodelle verfügen und nur wegen der Epidemie in Schwierigkeiten kommen.
Und diese Unterscheidung trauen Sie dem Staat zu?
Nein, das kann der Staat nicht und muss deshalb akzeptieren, dass er auch Firmen rettet, die es nicht verdienen. Inzwischen hat der Staat des Guten zu viel getan. Das viele Geld veranlasst viele Unternehmen und Firmen, sich erst einmal auszuruhen, anstatt um die Kunden zu kämpfen. Joseph Schumpeters „Reinigungskrise“ findet nicht statt.
Sie meinen, die Hilfe für Firmen verzögert einen Strukturwandel, der in Deutschland eigentlich notwendig wäre?
Auch das. Aber es ist nun einmal schwierig, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen ,wir retten jeden“ und ,wir retten niemanden“.
Herr Sinn, vielen Dank für das Interview.
Das Interview führten Christian Rickens und Hannah Steinharter.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.de.