Wirtschaftsdienst - Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 13. August 2020, 08/2020, S. 572-576.
Das Buch von Carl Christian von Weizsäcker und Hagen Krämer (2019) beschäftigt sich mit grundsätzlichen theoretischen Fragen zur Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Autoren meinen, dass die Marktwirtschaft unter einer Überakkumulation von Kapital leidet, weil die Grenzproduktivität des Kapitals dauerhaft unter der Wachstumsrate dieser Wirtschaft liegt, ja sogar negativ ist, und deshalb einen Aderlass in Form eines Konsumschubs braucht, der durch die Staatsverschuldung herbeigeführt werden kann. Die Gesellschaft kann ihren Konsum nicht nur einmal, sondern dauerhaft erhöhen, indem sie den überflüssigen Teil des Kapitalstocks konsumiert.
Der Münchhausen-Effekt
Die Möglichkeit der späteren Konsumsteigerung durch heutigen Konsum klingt zunächst absurd, sie ist es aber nicht. Das weiß jeder Forstwirt. Im Urwald wächst so viel neuer Bestand an Holz nach, wie abstirbt, ohne dass der Mensch etwas davon hat. Einen Urwald zu halten, ist wirtschaftlich ineffizient. Lichtet man den Wald, kann man nicht nur einmal in Form eines Ersteinschlags in den Bestand Holz gewinnen, sondern kann danach dauerhaft jedes Jahr eine gewisse Menge Holz schlagen, ohne den Bestand weiter zu verringern. Bei einem bestimmten Baumbestand ist der laufende jährliche Holzeinschlag, der ohne eine weitere Bestandsverminderung möglich ist, maximal. Dort ist die Grenzproduktivität des Baumbestands im Hinblick auf den jährlichen Holzeinschlag null, während sie bei einer Verwilderung des Forstes negativ wird.
Was in der Forstwirtschaft der Holzbestand ist, ist in der gesamten Volkswirtschaft der Kapitalbestand. Es macht keinen Sinn, so viel Kapital anzusparen, dass die Grenzproduktivität des Kapitals, r, negativ wird, denn wenn man das tut, kann man einen Teil des Kapitals aufessen und danach auch dauerhaft mehr konsumieren. Sprich: Man kann erstens Ersatzinvestitionen zur Kompensation für die Abschreibungen unterlassen und mit den dabei eingesparten Produktionsfaktoren lieber Konsumgüter produzieren und zweitens auch im Anschluss für alle Ewigkeit mehr Konsumgüter produzieren. Eine Situation, in der das der Fall ist, nenne ich statisch ineffizient.
Fast wichtiger noch als die statische Ineffizienz ist die dynamische Ineffizienz, deren Bedingungen Phelps (1961) und von Weizsäcker (1962) bereits vor 60 Jahren analysiert haben. Dynamische Ineffizienz liegt vor, wenn r dauerhaft kleiner ist als g, wobei g eine feste, langfristig mögliche Wachstumsrate des Sozialprodukts und des Kapitalstocks ist, wie sie sich aufgrund der Bevölkerungsvermehrung und aufgrund technischen Fortschritts ergibt. Die Autoren zeigen, dass es unter dieser Bedingung möglich ist, den Konsum einer Volkswirtschaft durch Verbrauch des überschüssigen Kapitalstocks nicht nur anfangs, sondern dauerhaft über das Niveau hinaus zu erhöhen, das andernfalls erreicht worden wäre. Dieser Münchhausen-Trick funktioniert also in der wachsenden Wirtschaft noch besser als in der stationären, weil er sogar bei einer positiven Grenzproduktivität des Kapitals möglich ist.
Erst, wenn so viel Kapital durch Konsum vernichtet wird, dass die Grenzproduktivität die Wachstumsrate übersteigt, versagt der modifizierte Münchhausen-Trick. Dann ist die Wirtschaft dynamisch effizient, weil jegliche Konsumerhöhung heute eine Konsumverminderung in der Zukunft impliziert.
Wenn die Bedingungen für ein dynamisch ineffizientes Wachstum vorliegen, dann kann man den volkswirtschaftlichen Konsum durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung dauerhaft steigern, weil man damit zwischen den Generationen eine Art Kettenbrief erzeugen kann. Der Unterschied ist nur, dass statt der Zahlungsaufforderung der frühen an die späteren Mitspieler Staatspapiere verkauft werden. Jede Rentnergeneration verkauft über den Staat Wertpapiere an die nachfolgende Arbeitsgeneration und erhält von ihr Geld für den eigenen Alterskonsum. Wenn jede Rentnergeneration mehr Papiere verkauft, als sie selbst im Arbeitsleben gekauft hat und als sie an marktüblichen Zinsen erwirtschaften würde, wenn sie das Geld am Kapitalmarkt anlegen würde, macht sie einen Gewinn. Der Bestand an ausstehenden Staatsschulden wächst bei dieser Strategie freilich mit einer Rate, die über dem Zins liegt, sagen wir gS, mit gS > r wobei r den Marktzins misst. Die Strategie kann auf die Dauer nur funktionieren, wenn gS ≤ g, denn andernfalls würde die jeweils junge Generation irgendwann mehr als das Sozialprodukt benötigen, um die neu emittierten Staatspapiere zu erwerben. Es ist also insgesamt erforderlich, dass g ≥ gS > r. Wenn wir den Zins mit der Grenzproduktivität des Kapitals gleichsetzen, was mit einigen Einschränkungen in der Marktwirtschaft möglich ist, ist dies eine Methode zur Anwendung des Münchhausen-Tricks. Die erste Rentnergeneration, die neue Staatspapiere ausgibt, hat in ihrem Umfang einen besonders großen Gewinn, doch alle anderen profitieren ebenfalls.
Piketty oder von Weizsäcker?
So korrekt die Beweisführung als solche ist, die entscheidende Frage ist, ob die Wirtschaft ohne Staatsverschuldung tatsächlich dynamisch ineffizient im Sinne r < g ist. Christian von Weizsäcker und Hagen Krämer (2019) behaupten das in ihrem neuen Buch mit dem Titel „Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert“, der an Piketty’s (2018) Bestseller „Kapital im 21. Jahrhundert“ erinnert. Doch interessanterweise widerspricht diese Behauptung der Grundannahme von Piketty diametral. Piketty braucht nämlich die Konstellation r > g, um zeigen zu können, dass wegen der Reinvestition der Zinseinkommen der Kapitalstock und damit das Gewinneinkommen laufend schneller wächst als das Volkseinkommen, dass also die Verteilung immer ungleicher wird.
Die Linken lieben das Buch von Piketty, weil er ihnen eine Begründung für die wachsende Ungleichheit der Vermögen liefert. Die Linken lieben aber auch die Theorie von Carl-Christian von Weizsäcker, weil ihnen das eine Begründung für mehr Staatsverschuldung und mehr Staatsausgaben gibt. Leider müssen sie sich entscheiden, wem sie letztlich glauben wollen, denn maximal einer kann Recht haben. Piketty hat sicherlich nicht Recht, denn selbst wenn man ihm folgt und annimmt, dass r > g, stimmt sein Beweisgang nicht. Das Wachstum der Gewinne und des Kapitalbestandes ist nämlich nicht r, sondern nur s · r, wobei s die auf den Gewinn bezogene Sparquote der Kapitalisten ist, und im Steady State gilt nun einmal,3 dass s · r = g. Die Gewinne wachsen also trotz r > g nicht schneller als das Sozialprodukt, und weil das so ist, wird auch die Verteilung nicht ungleicher, jedenfalls nicht aufgrund des Mechanismus, den Piketty behauptet. Das will ich hier aber nicht weiter ausführen, sondern verweise auf Sinn (2017b). Daraus folgt freilich nicht, dass Carl Christian von Weizsäcker und Hagen Krämer mit ihrer Vermutung Recht haben, dass die Wirtschaftsentwicklung dynamisch und statisch ineffizient ist, dass also r < g und sogar r < 0.
Kann der Zins negativ sein?
Ein Übermaß an Kapitalakkumulation in dem Sinne, dass die Grenzproduktivität des Kapitals negativ ist, kann es in einer Marktwirtschaft schwerlich geben, wenn man Güter lagern kann. Solange man die Möglichkeit hat, Wackersteine oder auch Holzstämme zu lagern, ist die Rendite null, aber nicht negativ. Allerdings gibt es Abschreibungen und Lagerkosten. Aber wenn man die Wackersteine geschickt aufeinander schichtet, kann man den entstehenden Wohnraum vermieten und hat Erträge, die das, was dadurch verloren geht, sehr deutlich übersteigen. Das gilt nicht grundsätzlich und immer, aber zumindest heute in praktisch allen Volkswirtschaften der Welt und auf jeden Fall in Deutschland. In Deutschland
rechnet man mit einer Mietrendite der Immobilien von 3% bis 4%, die Wertsteigerungen der Immobilien noch nicht gerechnet.
Profitquote und Sparquote
Es spricht nicht einmal viel für die Möglichkeit einer dynamischen Ineffizienz in dem Sinne, dass die Grenzproduktivität dauerhaft kleiner als die Wachstumsrate der Volkswirtschaft ist. Wenn das der Fall ist, dann muss die volkswirtschaftliche Investitionsquote größer als die Profitquote sein, denn im Steady State ist erstere g · K/Y und letztere r · K/Y, wobei K der Kapitalstock und Y das Sozialprodukt ist. Tatsächlich sind aber zumindest heute überall auf der Welt die Investitionen kleiner als die Profite, und das impliziert, sollte heute schon ein Steady State vorliegen, dass r > g, und nicht umgekehrt.
Nun kann man entgegenhalten, die Profitquote könne man nicht heranziehen, weil die Profite auch durch Risikoprämien erklärt werden. Das sind in Wahrheit ja gar keine Kapitalerträge, weil ein weiterer Produktionsfaktor im Hintergrund werkelt, nämlich die Bereitschaft, Risiko zu tragen. Wenn man die Risikoprämie von der Profitquote abzieht, ist die so bereinigte Profitquote vielleicht doch kleiner als die Investitionsquote.
Ob das Gegenargument sticht, hängt davon ab, ob das Risiko proportional zum Kapital oder separat manipulierbar ist. Wenn es proportional ist, weil etwa die Bereitschaft Risiken einzugehen an das Vorhandensein von Eigenkapital geknüpft ist, kann man den Trick mit der Herausrechnung der Risikoprämien nicht machen, um r rechnerisch unter g zu drücken. Dann ist das für die Wohlfahrtsbetrachtung relevante r die Grenzproduktivität des Kapitals einschließlich des mit dem Kapitaleinsatz verbundenen Risikos. Das ist aber zugegeben nur eine der Möglichkeiten (Sinn, 1986).
Das Niehans-Homburg-Argument
Wichtiger scheint mir ein Argument zu sein, das Jürg Niehans (1967) ins Feld geführt hat. Danach würde der Barwert der Bodenpacht, die mit dem allgemeinen Wirtschaftswachstum anzusteigen pflegt, unendlich groß, wenn der Zins und damit die Grenzproduktivität r des Kapitals dauerhaft kleiner wäre als die Wachstumsrate g. Und da der Barwert der Bodenpacht in der Marktwirtschaft dem Bodenpreis entspricht, wäre dann auch dieser Preis unendlich. Homburg (1992) hat dieses Argument später in ein explizites Wachstumsmodell mit einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion eingebaut, bei der der Boden ein Produktionsfaktor ist und unter Konkurrenzbedingungen eine Pacht in Höhe eines festen Anteils des Sozialprodukts absorbiert.
Das Niehans-Homburg-Argument ist insofern wichtig, als es ein dauerhaft ineffizientes Wirtschaftswachstum ausschließt, denn bei der Konstellation r < g oder auch nur r = g wären die Bodenbesitzer unendlich reich und würden unendlich viel konsumieren. Die Kapitalakkumulation würde gestoppt oder rückgängig gemacht, bis die Grenzproduktivität des Kapitals über g hinausgestiegen ist. Eine Überakkumulation von Kapital könnte es insofern in der Marktwirtschaft nicht geben, und es bedürfte nicht der Staatsverschuldung, um sie zu vermeiden.
Enteignungswahrscheinlichkeit und Transaktionskosten
Carl Christian von Weizsäcker und Hagen Krämer kontern mit dem Argument, dass ein unbegrenzter Anstieg des Immobilienvermögens nicht notwendigerweise aus r < g folge, weil die Eigentumsrechte an Grund und Boden nicht sicher seien. Ist die jährliche Enteignungswahrscheinlichkeit des Bodens αB, so muss man die Bodenrente nicht mit r, sondern mit r + αB diskontieren. Es folgt, dass der Barwert der erwarteten Bodenrente und damit der Marktpreis des Bodens endlich wird, sofern r + αB > g, was auch dann möglich ist, wenn r < g.
Dieses Gegenargument ist aber nicht überzeugend, denn es könnte auch das Produktivkapital enteignet werden. Statt mit der Grenzproduktivität dieses Produktivkapitals r, mit der der Markt die Bodenerträge normalerweise diskontiert, müsste man folglich mit r + αB - αK diskontieren, wobei αK die jährliche Enteignungswahrscheinlichkeit des Realkapitals ist. Sind die beiden Enteignungswahrscheinlichkeiten gleich, heben sich die Effekte auf.
Die Linken wollen aber traditionell vor allem das Produktivkapital enteignen, während sie zumindest das selbstgenutzte Immobilienvermögen verschonen wollen. In diesem Fall muss man sogar von αK > αB ausgehen, sodass der Schuss nach hinten losgeht. Die Bodenerträge würden also mit einer kleineren Rate als r diskontiert, und die Explosion der Bodenpreise würde noch früher einsetzen und die Kapitalakkumulation auf dem Wege eines Konsumschubs begrenzen. Die Grenzproduktivität des Produktivkapitals würde nun nach dem Niehans-Homburg-Argument auf die Dauer um mindestens αK - αB über der langfristig stabilen Wachstumsrate g liegen. Die dynamische Ineffizienz, die mehr Staatsverschuldung legitimiert, könnte es also a fortiori nicht geben.
Ähnliches ist zu dem Argument zu sagen, dass es bei der Verwaltung von Boden Transaktionskosten gibt. Sofern es sich um laufende Transaktionskosten handelt, würden sie formal wie αB wirken und die Diskontrate für die Berechnung des Bodenpreises vergrößern. Indes gibt es ja auch Transaktionskosten bei der Verwaltung des Realkapitals. Sie würden analytisch wie αK in den obigen Formeln erscheinen und würden zu dem gleichen qualitativen Ergebnis führen, zumal sicherlich αK > αB angenommen werden muss, weil die Verwaltung einer Firma um ein Vielfaches komplizierter ist als die Verwaltung eines gleich teuren
Bodenbestands. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass sich das Niehans-Homburg-Argument mit dem Hinweis auf Enteignungswahrscheinlichkeiten oder Transaktionskosten entkräften ließe. Das Gegenteil ist der Fall.
Das alles zeigt, dass das Immobilienvermögen ein zentraler Regulator in der Volkswirtschaft ist, der das, was die Staatsschuld potenziell erreichen könnte, schon längst erreicht hat. Das ist keine Trivialität, denn in Deutschland sind etwa fünf Sechstel des gesamten realen Kapitalstocks Immobilien. Ein Sechstel besteht nur aus Ausrüstungen, wie sie die Volkswirte normalerweise in ihre Produktionsfunktion stecken. Etwaige Kapitalüberschüsse werden vom Immobilienvermögen aufgesogen, bevor es die Gefahr von Renditen gibt, die kleiner als die langfristig mögliche Wachstumsrate der Ökonomie sind, geschweige denn solche, die kleiner sind als null. Die Kapitalvernichtung auf dem Wege der Staatsverschuldung braucht man nicht, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen.
Sinnlose Empirie, denn r < g muss nicht heute, sondern ewig gelten!
Aber spricht nicht der Umstand, dass wir heute Null- und Negativzinsen haben, während wir ja doch ein gewisses positives Wachstum erwarten können, für die Vermutung, dass eine Kettenbriefaktion, wie sie von Weizsäcker vorschlägt, wohlfahrtserhöhend wäre? Was sollen diese grundlegenden theoretischen Erwägungen einer im Moment so offenkundigen Empirie?
Diese Position erscheint mir aber als viel zu oberflächlich, denn man kann wohl davon ausgehen, dass die niedrigen Zinsen das Ergebnis monetärer Gegenmaßnahmen gegen eine Finanzkrise sind, die sich seit einigen Jahren in der Welt ausgebreitet hat, und keine Dauererscheinungen. Die niedrigen Zinsen sollen Portfolios und Banken retten, indem sie Bewertungsgewinne bei den Anlagen erzeugen. Sie sind auch das Ergebnis eines weltweiten Abwertungswettbewerbs, den die Zentralbanken durch die niedrigen Zinsen betrieben haben, mit dem Ziel die Absatzchancen der eigenen Exportindustrien zu verbessern. Das alles sind künstliche Effekte, die politökonomische Erklärungen haben und Bewertungsblasen aufrecht erhalten, damit die Schumpeter-Marxsche Reinigungskrise nicht stattfinden muss. Das Ergebnis dieser Blasen sind Renditen künstlich von der Geldpolitik am Leben gehaltener Zombies, die mit einer unzureichenden natürlichen Grenzproduktivität des Kapitals in der Marktwirtschaft wenig zu tun haben (Sinn, 2017a).
Vor allem handelt es sich nur um temporäre historische Effekte, die wenig darüber aussagen, ob die Bedingung r < g dauerhaft vorliegt, denn darauf kommt es für die dynamische Ineffizienz schließlich an. Carl Christian von Weizsäckers Argument für die Staatsverschuldung ist nicht, dass die Grenzproduktivität des Kapitals temporär kleiner als die Wachstumsrate ist. Vielmehr muss sie im Steady State, also auf alle Ewigkeit kleiner als die Wachstumsrate sein, damit die Kettenbriefaktion funktioniert und tatsächlich alle Generationen durch eine Kapitalvernichtung qua Staatsverschuldung bessergestellt werden können.
Temporär kann ruhig mal für ein paar Jahrzehnte die Grenzproduktivität kleiner sein als die Wachstumsrate. Das heißt noch lange nicht, dass die Wirtschaft einer Kapitalvernichtung durch Staatsinterventionen, konkret also durch die Staatsverschuldung bedarf, denn sie kann sich ja aufgrund von Marktprozessen von ganz allein an einen Steady State mit r > g heranbewegen. Solche Anpassungsprozesse sind, wie die Wachstumsliteratur vielfach gezeigt hat, extrem langsam. Es kann ein halbes Jahrhundert dauern, bis der größte Teil des Weges zum Steady State zurückgelegt ist. Einschlägige Modelle des intertemporalen allgemeinen Gleichgewichts mit Akteuren, die bei ihren Konsumplanungen das Wohl ihrer Nachkommen berücksichtigen, wie ich sie auch selbst in den 1970er und 1980er Jahren formuliert habe (Sinn, 1980, 1981, 1982), können für viele Jahrzehnte durch eine scheinbare Verletzung der Bedingungen eines effizienten Wachstumsprozesses gekennzeichnet sein, sind aber in Wahrheit dynamisch effizient, weil sie asymptotisch einen Steady State ansteuern, der durch r > g gekennzeichnet ist. Der Steady State, den die Marktwirtschaft in diesen Modellen selbständig erreicht, ist das, was die frühere Zentralplanungsliteratur als Modified Golden Rule bezeichnet hat. Allein diese Modified Golden Rule kann bekanntlich für sich in Anspruch nehmen, das Endergebnis eines intertemporal optimalen Wachstumspfades zu sein. Der einfachen Goldenen Regel fehlt demgegenüber jegliche normative Kraft. Sie ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine nützliche analytische Grenze zwischen effizienten Steady States und den ineffizienten Steady States, von denen heraus sich Münchhausen-Experimente à la von Weizsäcker gedanklich durchführen lassen.
Konkret heißt das, dass man aus einer momentanen Beobachtung einer niedrigen Grenzproduktivität des Kapitals nichts schließen kann, was die Staatsverschuldung rechtfertigt. Auch wenn der Zins die natürliche Grenzproduktivität darstellen würde und nicht aufgrund politökonomischer Effekte durch die Geldpolitik verzerrt wäre, ließe sich die Ausdehnung der Staatsverschuldung mit den Argumenten von Weizsäckers nicht rechtfertigen, wenn zu erwarten ist, dass die Zinsen später einmal steigen und das Wachstum sich abschwächen wird.
Tatsächlich gibt es Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Entwicklung in Deutschland erwartet werden kann. Zum einen werden nämlich die Baby-Boomer schon wegen des Umlageverfahrens in der Rentenversicherung in Kürze bereits sehr viel Kapital verbrauchen. Zum anderen wird das Wachstum der deutschen Wirtschaft aus denselben demografischen Gründen auf absehbare Zeit nur sehr mager ausfallen können. Nach meiner Einschätzung wäre es deshalb verfehlt, ja sogar gefährlich, wenn man heute über die Corona-Krise hinaus der dauerhaften Staatsverschuldung das Wort reden würde. Es gibt gute Gründe für eine temporäre Ausweitung der Staatsverschuldung in Krisenzeiten, so insbesondere das Inter-Generation-Equity-Prinzip von Musgrave, das eine gleichmäßige Belastung aller Generationen fordert. Die vermeintliche Besserstellung aller Generationen durch die Staatsverschuldung im Sinne des Münchhausen-Arguments hat jedoch keine vergleichbare Basis. Sie ist leider zu schön, um wahr zu sein.
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