Der deutsche Finanzminister glaubt, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU-Länder für den Wiederaufbaufonds zum EU-Finanzierungsmodell wird – und verlangt gemeinsame EU-Einnahmen.
Die gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa mit dem jüngst beschlossenen Corona-Wiederaufbaufonds ist nach Einschätzung des deutschen Finanzministers Olaf Scholz keine krisenbedingte Eintagsfliege. „Der Wiederaufbaufonds ist ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat am Wochenende in einem Zeitungsinterview.
Die EU nehme erstmals gemeinsame Schulden auf, setze diese gezielt gegen die Krise ein und verpflichte sich zugleich, bald mit der Rückzahlung zu beginnen. All das seien tiefgreifende Veränderungen, „vielleicht die größten Veränderungen seit Einführung des Euro“, sagte Scholz. Nun werde zwangsläufig auch über gemeinsame Einnahmen der EU zu sprechen sein, was die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union verbessern könnte.
Wenn der Rettungsfonds zurückgezahlt werden muss, sollte das nicht zu Lasten des normalen EU-Haushalts gehen. Deshalb seien eigene EU-Einnahmen sinnvoll, etwa durch den Emissionshandel im Schiffs- und Luftverkehr, bei der Besteuerung von Finanztransaktionen oder digitalen Plattformen.
Um bei künftigen Krisen und Herausforderungen schneller handlungsfähig zu sein, forderte Scholz eine Reform der Abstimmungsregeln in den EU-Räten. Die EU brauche die Möglichkeit, gemeinsam zu handeln. Dafür benötige es aber qualifizierte Mehrheitsentscheidungen bei der Außen-, Fiskal- oder Steuerpolitik statt dem Zwang zur Einstimmigkeit in den EU-Räten.
Vor einigen Wochen hatten sich die EU-Staaten bei einem Gipfeltreffen wie berichtet darauf geeinigt, für den EU-Wiederaufbaufonds nach der Pandemie insgesamt 750 Mrd. Euro bereitzustellen – 390 Milliarden als direkte Zuschüsse und 360 Milliarden als Kredite. Außerdem wird die EU-Kommission erstmals europäische Schulden direkt an den Finanzmärkten aufnehmen, die beginnend 2028 bis 2058 zurückgezahlt werden sollen.
Deutschland hatte sich jahrelang gegen eine gemeinsame Schuldenaufnahme und Finanzspritzen an überschuldete und von den Folgen der Pandemie besonders getroffene Südländer wie Italien und Spanien gestemmt. Die Pandemie vor Augen vollzogen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Scholz dann einen historischen Kurswechsel. Beim Corona-Wiederaufbaufonds trägt Deutschland einen Anteil der Lasten von rund 27 Prozent, erhält aber auch selbst europäische Fördergelder.
Kritik an der Schuldenunion
Der deutsche Schwenk hin zu einer Art EU-Schuldenunion ist im Land freilich nicht unumstritten. Erst vor wenigen Tagen hat der prominente deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn – früher Chef des Münchener ifo Instituts für Wirtschaftsforschung – in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ vor den Folgen einer solchen Entwicklung gewarnt. Mit dem Corona-Wiederaufbaufonds habe die Gemeinschaft bereits eine solche Transferunion eingerichtet, sagte Sinn. Dieses werde sich wohl verselbstständigen, sodass sich einzelne Länder gar nicht mehr dagegen wehren könnten.
Zudem sei die Etikette „Wiederaufbaufonds“ nicht mehr ganz richtig: Das relativ meiste Geld aus dem Fonds bekämen Griechenland und Bulgarien, also Länder, die nicht zu den Hauptbetroffenen der Pandemie in Europa gehören.
Sinn glaubt, dass eine solche Transferunion der Bevölkerung nicht „verkauft“ werden könne. Das Problem sei, dass bereits 40 Prozent der Eurozonenbevölkerung in „wirtschaftlich nicht mehr funktionierenden Staaten“ leben. Rechne man zu diesen wirtschaftlich disfunktionalen Staaten auch noch Frankreich, dann käme man zum Schluss, dass mit einer Transferunion 40 Prozent der Eurozonenbevölkerung die restlichen 60 Prozent mitfinanzieren müssten.
Bedenken äußert Sinn auch in Sachen Notenbankpolitik. Die Geldflut werde früher oder später zu kräftiger Inflation führen, meinte der Ökonom. Der „Geldüberhang“ betrage bereits vier Billionen Euro.
Derzeit werde das Geld noch „gehortet statt ausgegeben“, wenn die Wirtschaft wieder in Schwung komme, werde aber sehr schnell eine Lohn–Preis–Spirale in Gang gesetzt werden. Eine Reduzierung der Geldmenge werde der EZB immer schwerer fallen, weil dann die hochverschuldeten Euroländer schnell „ins Taumeln“ kämen, meinte Sinn. (Reuters/Red)
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