Hat Hans-Werner Sinn nur Irrtümer produziert? Quatsch! Sinn war und ist der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei bis drei Jahrzehnte in Deutschland.
"Der falsche Prophet" titelte die Zeitung "Handelsblatt" vor kurzem und attackierte auf zwölf Seiten "Die fünf Irrtümer des Ökonomen Hans-Werner Sinn" - eine print-mediale Aufmerksamkeit, die bislang keinem deutschen Wirtschaftswissenschaftler zuteil wurde. Neben einem redaktionellen Beitrag, den alles in allem zwar eine negative Konnotation kennzeichnet, der aber durchaus die Verdienste von Sinn würdigt, mühen sich "fünf der renommiertesten Ökonomen Deutschlands" um den Nachweis der fünf "fundamentalen Irrtümer" des falschen Propheten Sinn. Derart renommierte deutsche Ökonomen (von denen allerdings vier in den Handelsblatt-Rankings der deutschen Top-Ökonomen nicht einmal auftauchen) müssen sich natürlich auf die "größten Fehlanalysen" Sinns bei den zentralen Themen Target-Salden, Basar-Ökonomie, Klimapolitik, Kinderrente und Zuwanderung beschränken.
Es kommt da schon einiges zusammen: "Der Volkswirt aus München" - der seinerzeitige "Professor aus Heidelberg" lässt grüßen - argumentiere nicht nur ähnlich wie "ein bayerischer Milchbauer", behauptete die Energieökonomin Claudia Kemfert vom DIW Berlin, die Sinns Buch über das "grüne Paradoxon" angriff (siehe Beitrag unten). Sinn verwende überdies stark vereinfachte Modelle, operiere mit fehlerhaften Zahlen, vergesse einmal die Künstlersozialversicherung (so monierte der DIW-Kuratoriumsvorsitzende Bert Rürup, der Sinns Vorschläge zum Umbau des Rentensystems angriff), das andere Mal, dass Kohle zu den klimaschädlichen Energiequellen gehöre, und übersehe, dass in anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion eindeutig überhöhte Lohnsteigerungen vereinbart wurden (so Peter Bofinger in seinem Beitrag zur "Basar-Ökonomie"). Der unvoreingenommene Beobachter dürfte sich deshalb fragen, wie es sein kann, dass Sinn trotz seiner vermeintlich offensichtlichen Fehlanalysen in den Handelsblatt-Rankings durchgängig Spitzenplätze belegt und im F.A.Z.-Ökonomenranking 2014 sogar Platz 1 einnimmt.
Es ist ja richtig: Hans-Werner Sinn provoziert und polarisiert, er überzieht auch gelegentlich. Aber gerade wenn man von und in der Politik wahrgenommen werden will, kann es durchaus ratsam sein, gelegentlich auch mal zuzuspitzen oder zu vereinfachen. Man muss Sinns Analysen und Vorschlägen nicht zustimmen, man kann Fakten unterschiedlich interpretieren und zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Denn in der Ökonomie gibt es keine einfachen und eindeutigen Wahrheiten. Die Ergebnisse theoretischer Modelle hängen wesentlich von den unterstellten Annahmen ab. Wichtig ist nur, dass hinreichend deutlich dargelegt wird, auf welchen Prämissen und gegebenenfalls Werturteilen die Argumentation beruht. Des Weiteren können empirische Analysen je nach verwendeten Datensätzen, eingesetzten ökonometrisch-statistischen Methoden und Interpretation der quantitativen Ergebnisse zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Erst recht ist nicht mit einem Konsens unter Ökonomen zu rechnen, wenn Wissenschaftler den vielgeschmähten Elfenbeinturm verlassen und sich in die wirtschaftspolitische Debatte einbringen. Zum Glück ist das so, denn was bliebe für die anderen deutschen renommierten - und allemal die vielen weniger renommierten - Ökonomen überhaupt noch übrig, wenn der omnipräsente Hans-Werner Sinn auch noch mit allem und immer recht hätte?
Insofern zeugt der Vorwurf von "fundamentalen Irrtümern" des "falschen Propheten" Hans-Werner Sinn von einem merkwürdigen Verständnis von Ökonomie. Erst recht erstaunt, wenn "renommierte" Ökonomen Sinn kritisieren und fehlerhafte Analysen vorwerfen, bloß weil man aufgrund veränderter Annahmen oder mit anderen Daten zu anderen Schlussfolgerungen kommen kann.
Bedeutung und Einfluss von Ökonomen lässt sich vor allem daran festmachen, wie stark jemand die ökonomische Forschung und die wirtschaftspolitische Debatte beeinflusst. Während unserer jeweiligen Mitgliedschaft im Sachverständigenrat haben wir uns mit so gut wie jedem der zentralen Vorschläge Sinns beschäftigt. Manches ist in die Jahresgutachten oder Expertisen des Rats eingeflossen, etwa das Konzept der "aktivierenden Sozialhilfe", Überlegungen zur dualen Einkommensteuer und ausführliche Berechnungen zur Basar-Ökonomie. Andere Vorschläge oder Schlussfolgerungen Sinns hingegen, etwa seine Einschätzung und Interpretation der Target-Salden, hat der Sachverständigenrat nach intensiven Beratungen nicht vollständig übernommen. Unabhängig davon erachtete der Rat die Thesen von Hans-Werner Sinn durchweg als originell, anregend und theoretisch fundiert; ansonsten hätte er sich kaum damit beschäftigt.
Ein Musterbeispiel für eine geglückte Symbiose von ökonomischer Theorie, Analyse und wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen ist das von Gerlinde und Hans-Werner Sinn verfasste Werk "Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung" (1991). Kenntnisreich und messerscharf werden die Ursachen des ökonomischen Zusammenbruchs der DDR dargelegt, die zentralen Handlungsfelder beim Übergang in marktwirtschaftliche Strukturen - Währungsumstellung, Privatisierung der Staatsbetriebe und Lohnangleichung - diskutiert und ökonomisch begründete Reformvorschläge in Form eines "Sozialpakts für den Aufschwung" entwickelt.
Aber "Kaltstart" war nur der Anfang. Seitdem sind in regelmäßigen Abständen umfangreiche und tiefschürfende Bücher zu aktuellen und drängenden wirtschaftspolitischen Fragen erschienen. Zu Anfang des Jahrtausends - Deutschland galt damals noch als kranker Mann Europas - erschien sein Buch mit dem provozierenden, aber gleichwohl treffenden Titel "Ist Deutschland noch zu retten?", dann die Auseinandersetzung mit der Klimapolitik in "Das grüne Paradoxon", danach eine Analyse der Finanz- und Wirtschaftskrise im "Kasino-Kapitalismus". Die Zeitung, die Sinn nun schmäht, hat dieses Buch im Übrigen zu den 50 wichtigsten Wirtschaftsbüchern aller Zeiten gerechnet. Weiter ging es mit dem Buch "Die Target-Falle" (siehe Beitrag rechts; die Target-Problematik war zuvor den weitaus meisten Ökonomen, von der Politik ganz zu schweigen, weit-gehend unbekannt). Und schließlich beschäftigte sich Sinn in "Gefangen im Euro" mit der Währungsunion, den diversen Euro-Rettungsschirmen und der EZB-Geldpolitik. Die "Financial Times" hat die englische Übersetzung "The Euro Trap" als eines der wichtigsten Wirtschaftsbücher des Jahres 2014 prämiert.
Nicht unerwähnt bleiben sollten überdies Sinns Beiträge zur Kapitaleinkommensbesteuerung, zur demographischen Entwicklung, zum Sozialstaat, zu den Risiken im Bankensystem und vielen anderen Bereichen. Berücksichtigt man dann noch, dass Sinn das Ifo-Institut aus seinem Dornröschenschlaf erweckt hat und außerdem eine ganze Armada von jüngeren, exzellenten VWL-Lehrstuhlinhabern hervorgebracht hat, muss man neidlos und zugleich bewundernd anerkennen: Hans-Werner Sinn war und ist sicherlich der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei oder drei Jahrzehnte in Deutschland.
Dessen ungeachtet mag man einige inhaltliche Positionen Sinns, seine gelegentlich zu scharfe Diktion sowie seine alarmistischen Szenarien in der öffentlichen Diskussion kritisieren. Und selbstverständlich lässt sich über einige seiner Schlussfolgerungen trefflich streiten. Aber seine Beiträge zur wirtschaftspolitischen Debatte unter der Überschrift "Der falsche Prophet" zusammenzufassen erscheint einseitig und abwegig. Genauso wenig angebracht mutet die gelegentlich etwas kleinliche Kritik der fünf Ökonomen an fünf vermeintlich fundamentalen Irrtümern des Ökonomen Hans-Werner Sinn an.