Europas gewaltige Schulden spalten den Kontinent

Tobias Kaiser, Karsten Seibel, Welt online, 23. November 2020.

Für den Wiederaufbaufonds nimmt die EU 750 Milliarden Euro Schulden auf. Jetzt mehren sich die Stimmen, die Krisenmaßnahme zur Dauereinrichtung zu machen. In Italien wird sogar bereits über einen Schuldenschnitt debattiert.

Es war ein Interview, das für Wirbel sorgen sollte. „Europa muss die Covid-Schulden annullieren“, so titelte die italienische Tageszeitung „La Repubblica“, eine Partner-Zeitung von WELT, über einem Interview mit David Sassoli, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments.

In dem Gespräch mit dem italienischen Politiker, das in der vergangenen Woche gedruckt wurde, ging es auch um die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre für einen Schuldenschnitt für Italien.

In dem Interview selbst, das auch bei WELT erschien, wiederholt Sassoli diese Forderung zwar nicht, erklärt jedoch, dass ein Schuldenschnitt grundsätzlich überlegenswert wäre. „Das ist eine interessante Arbeitshypothese“, formuliert er vorsichtig.

Ob die weitaus deutlichere Überschrift mit ihm abgestimmt war, ist nicht sicher, auf jeden Fall hat das Interview in Italien die Diskussion über einen Schuldenerlass für das Land befeuert.

Italienische Ökonomen diskutieren bereits seit Längerem einen Schuldenerlass für ihr Land, denn die staatlich finanzierten Hilfsprogramme in der Corona-Krise lassen die ohnehin hohe Staatsschuld auf ein bisher nicht für möglich gehaltenes Niveau steigen.

Die Europäische Kommission erwartet, dass die Staatsverschuldung des Landes in diesem Jahr 160 Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen wird. Angesichts dieser Entwicklung forderten auch deutsche Ökonomen bereits im Frühjahr in der WELT AM SONNTAG einen teilweisen Schuldenerlass für das Land.

Aus dem Europäischen Parlament kommt allerdings Kritik an dieser Idee und an Sassolis Einlassungen. „Überlegungen zu einem Schuldenschnitt für Italien sind billigster Populismus und zudem überaus gefährlich“, warnt der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold. „Durch solche Äußerungen wird Europa auseinandergetrieben, und Sassoli sollte sich als Präsident des Europäischen Parlaments an solchen destruktiven Debatten nicht beteiligen.“

Die Diskussion sei ohnehin inhaltlich nicht gerechtfertigt, sagte der Finanzpolitiker. Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die ultraniedrigen Zinsen in absehbarer Zeit wieder steigen könnten, und durch die geringe Zinsbelastung sei Italiens Staatsschuld weiterhin tragfähig.

Der CSU-Europa-Abgeordnete Markus Ferber sagte, dass ein Schuldenschnitt sogar nach hinten losgehen könnte. „Wenn Sassoli fordert, Schulden zu streichen, redet er einem italienischen Zahlungsausfall das Wort“, sagt der Finanzpolitiker.

Sollte Italien das machen, wünsche er viel Spaß dabei, jemals wieder eine Anleihe an den Finanzmärkten zu platzieren. „Was wir dann erleben werden, würde die griechische Staatsschuldenkrise von vor einigen Jahren verblassen lassen“, sagt Ferber.

Hans-Werner Sinn, der streitbare ehemalige Präsident des Münchner Ifo-Instituts, reagiert ebenfalls scharf auf Sassolis Vorschlag: „David Sassoli hat einen dummdreisten Vorschlag gemacht, der den Maastrichter Vertrag mit den Füßen tritt“, sagt Sinn.

Das viele Geld sei in Umlauf, weil die Notenbank die italienischen Staatspapiere gekauft habe. Werden diese Papiere nun entwertet, könne man den Kauf nie wieder rückgängig machen. „Das Geld bleibt auch dann im Umlauf, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Die Folge ist dann irgendwann eine große Inflation“, so Sinn.

Ein Schuldenschnitt bedeutet aus seiner Sicht, dass die Geldhalter, also alle Bürger in Europa, die Streichung der italienischen Staatsschuld bezahlen müssen.

Aufgeschreckt von Sassolis Äußerungen ist man auch im Wirtschaftsrat der CDU. „Anders als Sassoli suggeriert, helfen Europa und Italien keine Wunderlösungen. Vielmehr müssen solche Forderungen eine Warnung sein, die bisherige Rettungspolitik grundlegend zu hinterfragen“, sagt Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates.

Seit Jahren habe sich abgezeichnet, dass sich die katastrophale Haushaltssituation in Italien im Falle einer neuen Krise schnell zu einer existenziellen Bedrohung für die Euro-Zone entwickeln könne. „Wer auf Hilfen in der Not vertrauen kann, verliert den Anreiz, eine drohende finanzielle Notlage aus eigener Kraft abzuwenden“, sagt Steiger.

In dem „La Repubblica“-Interview befeuert Sassoli auch die Debatte über eine europäische Schuldenunion. Anlass ist der Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Marathongipfel im Juli, der vorsieht, dass die EU-Kommission für die EU-Corona-Hilfen 750 Milliarden Euro an Schulden aufnehmen soll. Es ist ein Novum, dass die EU gemeinsame Schulden in solch einer Größenordnung macht.

Direkt nach der Einigung versicherten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und andere Regierungschefs wie der Niederländer Mark Rutte ihren Wählern zu Hause zwar, dass die Schuldenaufnahme ein einmaliges Ereignis bleiben solle und keinesfalls der Einstieg in eine dauerhafte Schuldenunion sei. Aber bereits in den darauffolgenden Wochen meldeten sich europäische Politiker zu Wort, die das gemeinsame Schuldenmachen als festen Bestandteil der EU etablieren wollen.

Vor einem Monat forderte beispielsweise Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, den Corona-Wiederaufbaufonds zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Und erst im September hatte der französische Finanzminister Bruno Le Maire in der WELT AM SONNTAG dafür geworben, die Arbeit des Wiederaufbaufonds zu bewerten, um dann zu entscheiden, ob man das Instrument beibehalte.

Frankreich wünscht sich gemeinsame europäische Schulden seit Längerem und hat den Ausbruch der Corona-Pandemie und die durch die Distanzmaßnahmen ausgelöste Wirtschaftskrise genutzt, um die Idee von Euro-Bonds, gemeinsam von den EU-Staaten begebene Anleihen, voranzutreiben. Durchsetzen konnte sich Paris damit aber bisher nicht.

Parlamentspräsident Sassoli wiederholte jetzt die Forderung von Lagarde. Die gemeinsame Schuldenaufnahme solle dauerhaft festgeschrieben werden, sagte er in dem Interview in der vergangenen Woche. Ganz überraschend kam seine Ansage also nicht, trotzdem folgten die Reaktionen prompt.

„Sassoli zeigt mit dieser Forderung ganz unverhohlen, dass er den Aufbaufonds als ersten Schritt in die Transferunion sieht“, sagt etwa Markus Ferber, der Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Wirtschafts- und Währungsausschuss des EU-Parlaments. „Das war schon immer ein italienisches Interesse, und nun glaubt mancher in Rom, die Tür sei durch die Corona-Pandemie ein Stück weit geöffnet worden.“

Der Streit über eine Schuldenunion spaltet Europa. Führende europäische Politiker haben die Idee in den vergangenen Wochen auch kategorisch abgelehnt, etwa Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Paschal Donohoe, der Präsident der Euro-Gruppe, der zwischen den Euro-Finanzministern vermitteln muss, wollte sich jüngst in einem Gespräch mit WELT nicht auf eine Position festlegen. „Wir könnten in Europa darüber diskutieren, dieses Instrument beizubehalten“, sagte der irische Politiker Anfang des Monats. „Aber im Moment ist der Wiederaufbauplan die Antwort auf eine so nie da gewesene Krise, und alles andere wird die Zukunft weisen.“

Auch innerhalb der Bundesregierung gibt es Stimmen, die sich zumindest mittelfristig durchaus eine Vergemeinschaftung der Schulden vorstellen können. Prominentester Vertreter ist Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD). Er sprach in den vergangenen Monaten wiederholt davon, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa mit dem Corona-Wiederaufbaufonds keine krisenbedingte Eintagsfliege ist.

„Der Wiederaufbaufonds ist ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt“, sagt der Mann, der im kommenden Jahr zum Bundeskanzler gewählt werden will. Er sieht dies als wichtigen Schritt auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa.

Als Vorbild sieht Scholz den einstigen US-Finanzminister Alexander Hamilton, der im Jahr 1790 auf Ebene des Zentralstaats die Kompetenzen bündelte, wozu neben gemeinsamen Einnahmen der amerikanischen Staaten auch eine eigenständige Verschuldungsfähigkeit zählte.

Grundsätzlich positiv sieht auch der Grünen-Politiker Sven Giegold die Möglichkeit der EU, gemeinsame Schulden zu machen. „Gemeinsam Steuern erheben und Schulden zu begeben und gemeinsam zu investieren; grundsätzlich stärkt das Europa“, sagt der Finanzpolitiker. Viel hänge jedoch davon ab, ob das Geld auch sinnvoll ausgegeben werde – und das müsse der Wiederaufbaufonds erst noch beweisen, bevor man über eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik nachdenken könne.

Mitarbeit: Michael Höfling

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