Corona und die wundersame Geldvermehrung

Die Whatever-it-takes-Mentalität der Politik suggeriert der Bevölkerung, dass sich Einkommen auch ohne Arbeit erzielen lässt. Das kann teuer werden.
Hans-Werner Sinn

Rotary Magazin, November 2020, S. 36-39.

D ie Wirtschaftspolitik hat in der Coronakrise vieles richtig gemacht. Sie hat das schon 2008 erprobte Kurzarbeitergeld aktiviert, sie hat soziale Härte bei Kleinselbstständigen vermieden, und sie hat in großem Umfang Hilfe für Unternehmen gewährt, die wegen der Epidemie und der angeordneten Schutzmaßnahmen in Schwierigkeiten kamen. Außerdem hat sie Kredite und Bürgschaften angeboten, um die Liquidität der Unternehmen zu sichern.

Aber was grundsätzlich richtig war, war doch im Ausmaß übertrieben. So liegt das Volumen der beschlossenen haushaltswirksamen Rettungsmaßnahmen nach Ausweis der Homepage des Bundesfnanzministeriums bei 453 Milliarden Euro. Rechnet man das Volumen der Bürgschaften und Kredite hinzu, kommt man auf potenziell 1,27 Billionen Euro, die direkt oder indirekt bewegt werden. Das sind
immerhin etwa 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Das sind riesige Zahlen, auch wenn die Summen nicht sofort und nur zum Teil in diesem Jahr bewegt werden. Ein Rettungsprogramm von einem Fünftel dieser Summe, also acht Prozent des BIP, hätte es
vielleicht auch getan. Maß und Mitte scheinen verloren gegangen zu sein. Es hat sich eine Whatever-it-takes-Mentalität in der Politik verbreitet, die das Gesetz der Knappheit mit leichter Hand zu überwinden scheint und der Bevölkerung suggeriert, Einkommen lasse sich auch ohne Arbeit erzielen.

Sind die Konjunkturpakete kontraproduktiv?

Das Kurzarbeitergeld gewährt bis zu 80 Prozent des letzten Nettoverdienstes, bei Familien sogar bis zu 87 Prozent. Bei solchen Werten darf man sich nicht wundern, dass manch einer gar nicht mehr davon lassen will. Schon 80 Prozent bedeuten, dass man für einen Lohn von 20 Prozent des letzten Lohnes arbeiten müsste. Bei einem Arbeiter, der vorher 15 Euro in der Stunde verdiente, sind das drei Euro. Kein Wunder, dass viele gar nicht mehr in die reguläre Arbeit zurück wollen und dass manche Firmen den Attentismus inzwischen bitter beklagen.

Sehr ambivalent fllt auch das Urteil zu dem beschlossenen Konjunkturpaket der Bundesregierung aus, das 130 Milliarden Euro umfasst und zu den oben genannten Summen noch hinzutritt. Zu diesem Paket
gehören die Mehrwertsteuersenkung um drei Prozentpunkte (also etwa 16 Prozent des bisherigen Aufommens), der Kinderbonus, die Mittel zur Stärkung der Kommunen, noch mehr Riesensubventionen
für den teuren grünen Strom und vieles mehr. Das Urteil fllt deshalb ambivalent
aus, weil Konjunkturpolitik Nachfragepolitik ist und insofern den Empfehlungen der Epidemiologen entgegenwirkt. Die Epidemiologen sagen, dass die Leute Kontakte vermeiden und zu Hause bleiben sollen, statt in die Läden und Restaurants
zu gehen, wo sie sich anstecken können. Und viele Menschen handeln auch aus freien Stücken so. Da macht es wenig Sinn, dass die Politik ihnen Geld gibt, damit sie wieder zusammenkommen.

Es gibt drei Formen der Krise: Eine Nachfragekrise wie 2008 im Zusammenhang mit der Lehman-Pleite, eine Angebotskrise wie 1974 und 1982, als die OPEC den Ölhahn zudrehte, und es gibt eine Transaktionskrise, wie jetzt, bei der die Käufer und Verkäufer nicht zusammenkommen dürfen oder wollen.

Nur für die erste Krise passte ein Konjunkturprogramm. Dass man dieses Programm nun auch für den dritten Typus vorsieht, ist genauso falsch wie die schuldenfnanzierten Konjunkturprogramme, die Helmut
Schmidt seinerzeit gegen die erste Ölkrise ins Feld führte. Sie blähten die Staatsschuld auf, doch führten sie in die Stagflation.

Wenn die Epidemie vorbei ist, wird es so oder so einen Konsumschub geben, weil die Menschen ihre aufgestauten Konsumwünsche realisieren wollen. Dann braucht man keine Konjunkturprogramme, und vorher, während der Epidemie, sind solche Programme großenteils kontraproduktiv, weil sie den gesundheitlichen Bedenken entgegenstehen.

Leben aus der Druckerpresse?

Es kommt hinzu, dass die Staaten Europas ihre Schulden für die vielen Ausgabenprogramme heute nicht bei den Sparern machen, die ihre Ersparnisse mangels Anlagealternativen in Horte stecken, sondern quasi bei sich selbst. Die Notenbanken des Eurosystems stehen nämlich Gewehr bei Fuß und kaufen den Löwenanteil der nationalen Staatspapiere mit frisch gedrucktem Geld von den Banken, die sie kurz zuvor erwarben. Und diese Notenbanken gehören den Staaten ja selbst.

Allein 1350 Milliarden Euro umfasst das Pandemic Emergency Purchase Programme des Eurosystems, mit dem vornehmlich Staatspapiere, aber auch die Papiere der Rettungsschirme, der EU sowie auch private Papiere gekauft werden. Dieses Programm tritt zu dem weiterhin betriebenen Public Sector Purchase Programme hinzu, das weiterläuft und bereits vor Corona zu Aufäufen von Papieren öffentlicher Einrichtungen von über zwei Billionen Euro geführt hat.

Zusätzlich gewährt das Eurosystem den Banken längerfristige Refnanzierungskredite aus seinen Druckerpressen. Allein im Juni wurden solche Kredite im Umfang von 500 Milliarden Euro gewährt. Auch damit können die Banken Staatspapiere kaufen.

Es ist bereits so viel Zentralbankgeld in Umlauf, dass einem schwindelig werden kann. Im Sommer des Jahres 2008 reichten 900 Milliarden Euro, um die Transaktionen des Eurosystems zu bewerkstelligen. Am Ende des Jahres 2019 war diese Summe wegen der ausufernden Rettungsprogramme der letzten Jahre
auf 3,2 Billionen Euro gestiegen. Im September 2020 waren bereits 4,4 Billionen Euro in Umlauf, und im Sommer nächsten Jahres werden es mit den bislang schon beschlossenen Programmen der EZB etwa 5,4 Billionen Euro sein: sechs Mal so viel wie damals.

Berücksichtigt man, dass das nominale Bruttoinlandsprodukt der Eurozone inzwischen ein bisschen gewachsen ist, auch weil die Preise stiegen und die baltischen Länder dazu kamen, ergibt sich relativ zur Wirtschaftsleistung immer noch eine Verfünffachung der Geldmenge. Der Überhang über die Geldmenge, die 2008 auch schon gereicht hatte, beträgt also gut vier Billionen Euro.

Viele wundert es, dass die wundersame Geldvermehrung, die die realen Steuereinnahmen der Euroländer sowie auch die Erlöse der Firmen in den letzten zwölf Jahren im Umfang von vier Billionen Euro hat ersetzen können, nicht zur Inflation geführt hat. Einige meinen deshalb sogar, eine Art Münchhausen-Trick gefunden zu haben, mit Hilfe dessen sich der Wohlstand ohne Anstrengung erzeugen lässt. Sie sollten jedoch wissen, dass das Geld derzeit in den Horten liegt und wegen der angespannten Krisenlage nicht wirklich in Umlauf kommt. Es steckt unter den Matratzen, im Tresor und vor allem auf den Girokonten,
die die Banken bei den Notenbanken unterhalten. Das sieht man daran, dass jene Geldaggregate, die auch das Kreditgeld der Banken umfassen, nicht mit der Zentralbankgeldmenge mitgewachsen sind. Es war
die große Leistung des Ökonomen John Maynard Keynes, die Geldhorte analysiert und in die  volkswirtschaftliche Theorie eingebracht zu haben. Solange das Geld in den Horten liegen bleibt, besteht keine unmittelbare Gefahr für den Geldwert.

Die neue Inflationsgefahr

Doch wenn die Coronakrise eines Tages überwunden ist, sich Optimismus verbreitet und die Weltwirtschaft wieder boomt, dann kann sich das alles sehr rasch ändern. Dann werden die Horte womöglich wieder aktiviert und entzünden einen Nachfrageschub zu einem Zeitpunkt, wo er überhaupt nicht mehr
nötig ist. Dann droht Inflation.

Die EZB müsste dann die überschüssige Geldmenge wieder einsammeln, unter anderem indem sie über drei Billionen Euro an Staatspapieren wieder verkauft. Das kann sie aber aus politischen Gründen
kaum wagen, denn dann würden die Kurse der Staatspapiere purzeln, und die Zinsen gingen in den Himmel. Banken, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben, verlören einen Teil ihres Eigenkapitals, das ohnehin großenteils aus Luftbuchungen besteht, und überschuldete Staaten würden straucheln. Die EZB wird sich stattdessen vermutlich einer neuen Semantik bedienen, um die Inflation schönzureden, etwa nach dem Motto: Wenn die Inflation 20 Jahre unter zwei Prozent lag, kann sie auch zwanzig Jahre darüber liegen.

Die Inflation könnte allerdings erheblich darüber liegen, denn wenn sich die Inflationserwartung erst einmal verbreitet hat, gibt es kein Halten mehr. Dann versucht die Wirtschaft, ihre Geldbestände zu minimieren, was die Inflation zusätzlich antreibt und noch mehr Geld aktiviert.

Damit könnte das passieren, was die deutschen Verhandlungsführer beim Maastrichter Vertrag hatten vermeiden wollen, indem sie das Verbot der Monetisierung der Staatspapiere einbrachten, das sich heute
in Artikel 123 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) fndet.

Aus der Geschichte lernen

Den deutschen Verhandlungsführern steckte nämlich noch die Hyperinflation der Jahre bis 1923 in den Knochen. Während des ersten Weltkrieges und kurz danach, als die spanische Grippe wütete, hatte die
Reichsbank in großem Umfang Staatspapiere erworben und so die Geldmenge immer mehr vergrößert, weil sich der Staat anders nicht fnanzieren konnte. Die Folge war eine Hyperinflation, die den unteren Mittelstand verarmen ließ und zehn Jahre später Hitler in die Arme trieb.

Die Geschichte wiederholt sich niemals, das wissen wir. Aber es gibt heute Anlass genug, um den Geldwert zu fürchten. Viele Systeme, die über das Münzrecht verfügten, sind schon der Versuchung erlegen, ihre staatlichen Budgets durch den Gelddruck und die Verminderung des Silbergehalts ihrer Münzen aufzufüllen.
Das schien anfangs stets die Lösung zu sein. Doch irgendwann merkten die Menschen immer, welches Spiel hier gespielt wurde und begehrten auf. Das haben nicht alle Systeme überlebt.

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