Passauer Neue Presse, 29. Dezember, 2020, Nr. 302, S. 6.
Professor Hans-Werner Sinn, Ex-Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, kritisiert die Entscheidung, der EU die Impfstoff-Einkäufe zu überlassen, als „falsch“. Die Folge seien „sehr viele zusätzliche Tote“.
Herr Sinn, was ist im Kampf gegen die Pandemie gut gelaufen in Deutschland, was weniger gut?
Gut ist die Rettungspolitik gelaufen. Das gilt für die Hilfsprogramme für Firmen, auch das Kurzarbeitergeld. Sie sorgt dafür, dass funktionsfähige Strukturen nicht kaputtgehen. Nicht so gut waren jedoch die mit Schulden finanzierten Konjunkturpakete unter anderem mit der befristeten Mehrwertsteuersenkung. Damit trieb man die
Leute einerseits in die Läden und hat so die Ansteckungen gefördert, und andererseits befeuerte man das Geschäft von Amazon, das ohnehin schon boomte. Eine Nachfragestützung im Sinne von Keynes macht in einer epidemiologischen Krise wenig Sinn.
Was sagen Sie zur Impfstoff-Einkaufspolitik?
Es war falsch, der EU die Käufe zu überlassen. Denn die EU hat sehr viel billigen Impfstoff bei AstraZeneca und Sanofi bestellt, der gar nicht richtig funktioniert. Außerdem hat sie, wenn man dem Spiegel glauben darf, auch das Produzenteninteresse zu stark gewichtet. Deutschland hätte, wenn es für sich selbst entschieden hätte, sicher viel mehr von den teureren und damals schon absehbar besseren Impfstoffen der deutschen Firma Biontech und der USFirma Moderna gekauft. So müssen wir nun sehr viele zusätzliche
Tote in Kauf nehmen, weil bis zum Sommer nicht genug von dem guten Impfstoff verfügbar sein wird.
Der deutsche Staat will dieses und das nächste Jahr rund 400 Milliarden Euro neue Kredite aufnehmen. Ein Anlass zur Sorge?
Ja, ohne Frage. Doch wird die Schuldenbremse des Grundgesetzes einen Tilgungsplan für diese Schulden erzwingen. Im Übrigen werden wir nach der Überwindung der Corona-Krise wieder etwas Wachstum bekommen. Daher ist die Hoffnung nicht unberechtigt, dass wir im kommenden Jahrzehnt die Schuldenquote allmählich wieder von den 80 Prozent, auf die wir im kommenden Jahr zunächst zusteuern, herunterholen werden.
Auch die Europäische Zentralbank hat die Geldschleusen zur Bekämpfung der Corona-Krisen folgen noch weiter geöffnet und neue Anleihen-Käufe aufgelegt...
Die hochexpansive EZB-Politik ist sehr problematisch. Die Zentralbank hat sie gewählt, um die Inflation anzuheben. Gelungen ist ihr das aber nicht. Und dann hat sie dieses Misslingen zum Anlass genommen, immer noch mehr von dieser unwirksamen Politik zu tun. Unwirksam ist sie, weil das zusätzliche Geld in der
Krise gehortet wird und in der „Liquiditätsfalle“ landet. Wenn es aber irgendwann aufwärts geht, könnte sich das als schädlich erweisen. Dann würde sozusagen die Bremse gegen aufkommende Inflationsgefahren fehlen, wie sie sonst über steigende Zinsen aktiviert wird. Daher ist dieser Kurs fahrlässig.
Droht also ein Verlust der Finanzstabilität in der Welt?
Ich sehe langfristige Gefahren in dieser Geldschwemme, die wir im Euro- und im Dollar-Raum beobachten.
Der deutsche Staat hat in der Krise mit Geldern sehr direkt in die Wirtschaft eingegriffen, sich an Firmen beteiligt. Ist das der Weg in eine Staatswirtschaft?
Zum Teil war das unvermeidlich. Es hat sich aber mittlerweile mit Blick auf Staatsgelder eine „Whatever it takes“-Mentalität verbreitet, in der alle möglichen Interessengruppen versuchen, etwas abzubekommen. Der
Vorwurf der überzogenen Staatseingriffe ist im Kern gerechtfertigt. Umso wichtiger ist es, dass der Staat solche Beteiligungen schnell wieder abstößt.
Das Interview führte Gernot Heller.
Nachzulesen auf www.pnp.de.